Luce Brett

Ich bin nicht ganz dicht


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an. Diesmal sind sie ausgesprochen nett zu mir. Ich soll die Klumpen anhand von Gegenständen einordnen. Nein, nicht so groß wie ein Essteller, eher wie ein Apfel, etwas größer, aber flacher, nicht so glatt.

      „Sieht ein bisschen aus wie sonnengetrocknete Tomaten“, bemühe ich mich, die Form zu erklären. Vor allem aber fühle ich mich ziemlich elend.

      Mein Sohn und ich werden wieder ins Krankenhaus aufgenommen. Wir bekommen Patientenarmbänder mit dem gleichen Namen. Da wir ihn noch nicht beim Standesamt angemeldet haben, existiert er offiziell noch gar nicht. Wir sind immer noch eins. Sie sagen mir, ich solle schlafen, aber ich bin wieder auf dieser Station mit der furchtbaren Toilette und den Frauen, die die ganze Nacht über jammern und schreien. Diesmal habe ich zumindest mein eigenes Zimmer, meine „Privatsphäre“. Stündlich wird der Raum von Ärzten, Hebammen und Auszubildenden bevölkert, die schauen, wie viel Blut sich in meiner Binde befindet und sie wiegen. Sie prüfen, ob noch mehr Plazentastücke in mir stecken. Es gibt Visiten, bei denen die Horden dem behandelnden Arzt lauschen. Bei einer zeigt man meinem Mann einen Blutklumpen, der am Spekulum hängengeblieben ist. Ich würde am liebsten davonlaufen, aber ich hänge an einem Infusionsschlauch.

      „Wenigstens liegt mein Baby jetzt in einem Babybett, anstatt halb aus mir herauszuhängen“, denke ich.

      Sie entlassen uns nach Hause, mit der Auflage, dass wir sofort wiederkommen sollen, wenn das noch einmal passiert. In diesem Fall sollen wir außerdem möglichst einige der Blutklumpen mitbringen.

      Ich denke: „Echt jetzt?“ Aber als es dann tatsächlich noch einmal passiert, sammle ich alles brav ein und packe es in einen Plastikbehälter.

      Schon wieder bin ich auf der Entbindungsstation. Ich fühle mich irgendwie betrogen. Eigentlich sollte ich jetzt Besuche genießen und Spaß haben. Ich möchte allen stolz meinen Sohn zeigen, anstatt mit einer Kanüle im Krankenhaus zu liegen.

      Als es zum dritten Mal passiert, wächst eine neue Angst in mir heran. Kann es vielleicht sein, dass ich mich einfach nur anstelle? Niemand hat damit gerechnet, dass es noch einmal dazu kommt, weshalb ich keinen Eingriff mit Ausschabung hatte. Ich habe keine Ahnung – sterbe ich jetzt oder bin ich eine Versagerin? Oder mache ich einen Aufstand wegen etwas, das ganz natürlich ist und allen Frauen so geht?

      Ich zeige die neuerlichen Klumpen meiner Mutter und meiner Schwester im Teenageralter, die gerade zu Besuch sind. Meine Mutter, die vier Kinder zur Welt gebracht hat, sagt, wir müssen ins Krankenhaus. Und zwar SOFORT.

      Meine Schwester fügt hinzu: „Und zeig mir nie wieder so etwas Ekliges!“

      Ich lehne den Krankenwagen ab, den die Hebamme schicken will, weil sich das blöd anfühlt. Ich weiß nicht, ob es Erschöpfung ist oder die erneute Rückkehr ins Krankenhaus, aber ich bin so fertig bei dem Gedanken an weitere Nächte in der Klinik, dass der sympathische Arzt mit einem Blick auf mich meint, ich könne zu Hause auf meine Blutergebnisse warten.

      Als wir nach Hause kommen, stehle ich mich davon, in die Toilette, mein letzter Zufluchtsort. Mein Intimbereich ist jetzt seit Tagen auf dem Präsentierteller, da ist nicht mehr viel zu retten, aber ich muss jetzt einfach einmal kurz alleine sein.

      Mein Mann bricht mir das Herz mit seinen Bemühungen, so etwas wie Alltag und Normalität zu schaffen. Er hat den ganzen Binden- und Einlagenkram in einen Korb gepackt und auf dem Fensterbrett platziert, und nach der letzten großen Blutung hat er Wände und Boden gewischt. Alles duftet nach Liebe und Meister Propper.

      Es sind seit der Dusche nach der Geburt die ersten Minuten, die ich alleine in einem Raum verbringe, ohne dass jemand meinen Körper antatscht. Alleinsein ist wunderbar. Mir tut alles weh, aber heute habe ich gesiegt. Wir sind der Station entkommen. Wir sind zu Hause. Unten weint das Baby. Ich habe ein schlechtes Gewissen, bleibe aber in meinem Versteck. Die Schreie nehmen an Intensität zu.

      Mein Mann kommt und klopft an die Tür. Er will mir nicht immer hinterherlaufen, aber wir sind Anfänger und unser Sohn denkt gar nicht daran, seinen Unmut darüber zu verbergen, dass er so inkompetente, unsichere Kandidaten wie uns als Eltern hat.

      Ein erneutes Klopfen an der Tür. Er weiß, dass ich Angst habe, aber das Baby schreit sich mittlerweile die Seele aus dem Leib.

      Ich lasse beide hinein und mein Sohn stürzt sich als echtes Säugetier auf meine Brust, während ich noch auf der Toilette sitze. Er schließt die Augen und saugt und gibt kleine, angestrengte Seufzer von sich, während sich sein Bäuchlein füllt. Tränen kleben wie Juwelen an seinen Wangen. Ich schaue zu meinem Mann hoch. Wir haben es geschafft, wir konnten ihn trösten. So unperfekt die Situation auch ist, sie ist dennoch eine Art Sieg. Vielleicht können wir uns langsam vom Geburtsdrama verabschieden und die Sümpfe der Scham hinter uns lassen.

      Ich schaue hoch. Aus dem Augenwinkel kann ich gerade noch einen blutigen Handabdruck auf dem Türrahmen erkennen.

      Ende Juli 2007, Warten auf das OK der Hebammen

      Ich bleibe noch wochenlang Patientin. Dem Baby geht es zum Glück gut. Es schreit kräftig und ist kerngesund in diesen wunderbaren Sommerwochen. Die ambulante Hebammenversorgung findet immer noch jeden zweiten Tag statt, obwohl sie die Geschichte sicher langsam leid sind. Ich habe keine Ahnung, wie es anderen Müttern drei Wochen nach einer Spontangeburt geht, aber ich schaffe es immer noch nicht in den ersten Stock, ohne dass ein warmer Schwall Pipi in meiner Hose landet.

      Ich versuche mit den Hebammen darüber zu sprechen, dass mit meinem lädierten Intimbereich irgendetwas nicht stimmt und sich alles komisch anfühlt, aber sie versichern mir, dass die Inkontinenz sich bald geben wird. Sie scheinen vor allem extrem beeindruckt davon zu sein, dass wir noch nicht komplett zusammengebrochen sind, und halten das alles wahrscheinlich für Nachwirkungen des Schocks.

      Auch sonst fühle ich mich nicht ganz so sicher auf den Beinen. Mein kleiner Sohn hat noch nie länger als zwei Stunden durchgeschlafen, und wenn er schläft, scheint er sicherstellen zu wollen, dass ich auf jeden Fall wach bin. Alle versichern mir, dass es nach so einer schrecklichen Geburt normal sei, verunsichert und ein wenig weggetreten zu sein und nah am Wasser gebaut zu haben. Ich bin mir da nicht so sicher. Ich fange an, mir mein Leben in meinem Kopf zu erzählen, als ob ich in der realen Welt gar nicht existieren würde …

      Anfang August 2007, Küche, abends, im Radio läuft „Here comes the sun“

      Das Lied schwebt durch die Luft, es ist wie ein Film. Du erinnerst dich, wie du es während der Wehen gesungen hast, im netten Teil der ganzen Geschichte, als dein Mann wieder da war. Ein kitschiges Pärchen vor einem Abgrund, dessen Untiefen es nicht kennt. Singend versuchen wir, unser Baby herauszulocken.

      Ist es wirklich so gewesen? Oder hast du es nur geträumt? Du fragst deinen Mann, ob er sich erinnern kann. Er nimmt dein Gesicht in seine Hände und sagt: „Natürlich kann ich das.“

      Vielleicht gibt es noch Hoffnung. Es fühlt sich an wie ein guter Moment, der alles verändern könnte.

      Und dann kommt sie. Eine Flutwelle an Traurigkeit. Sie trifft dich ähnlich, wie es wohl Tsunamis tun: Eine Wand aus Wasser, die in dich hineinkracht und dich nach unten reißt, aber nicht mehr an die Oberfläche kommen lässt. Du verlierst beinahe den Boden unter den Füßen. Du weißt jetzt, du weißt einfach, dass Witze und gute Momente keine Chance haben gegen dieses Gefühl des Weltuntergangs. Und auch wenn du deinen Mann liebst und dein Baby all deine Erwartungen übertrifft, kommst du nicht mehr dagegen an, du kannst nicht mehr kämpfen.

      In deinem Kopf tobt ein Krieg und du kannst nicht einmal mehr den kleinen Finger heben. Du bist nicht du selbst, du steckst fest, glaubst zu ersticken. Du stehst auf einem Magneten und hast eine Tonne Blei gegessen. Es zieht dich nach unten. Es ist ein körperliches Gefühl, und du weißt, dass es nur noch stärker werden wird, wenn du versuchst, dagegen anzugehen. Du wirst unter dem Gewicht zusammenbrechen und in zwei Teile gespalten. Du kannst diese Situation, dieses Leiden nicht für immer für dich behalten. Für den Moment hältst du die Klappe und hoffst, dass dir nichts herausrutschen wird, denn darüber zu sprechen, wird es nicht besser machen.

      Aber