Luce Brett

Ich bin nicht ganz dicht


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sich zwischen meine Beine und kommen rot mit Blut wieder hervor. Ich glaube, sie gehören einer anderen Ärztin, einer älteren Frau, aber ich habe den Überblick verloren. Sie beugt sich vor, eine Schere in der Hand, und sagt dann, ein Dammschnitt sei nicht notwendig. (Die Größe der Öffnung ist nicht mehr das Problem, weil mein Scheideneingang bereits weiter aufgerissen ist, als sie es überhaupt schneiden würden – Bravo, Luce!) Sie müssen allerdings eine Saugglocke verwenden, wenn ich das Baby nicht innerhalb der nächsten Minuten herauspresse, weil sein Herz zu schnell schlägt. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.

      Kay schaut mich verschwörerisch durch meine Beine an, ignoriert das ganze Drama rundum und spricht nur zu mir. Ich kann Ihren Atem auf meinem Oberschenkel spüren. „Du kannst das alleine schaffen, Luce. Ich weiß das.“

      Ich schließe die Augen und presse, während sich auf der dicken Unterlage, die sie mir unter den Hintern geschoben hat, eine warme Blutlache bildet.

      Aber es ist nicht nur ein Drama, es hat auch etwas Heiteres. Es ist neun Uhr morgens an einem Tag im Juli und ich kann die Sonne auf meiner linken Wange spüren und riechen, dass jemand draußen vor dem Fenster raucht. Das stört mich nicht weiter. Ich würde jetzt ganz gerne selbst eine rauchen. Eine Zigarette und eine Tasse Tee und dann einfach zuschauen, wie die Leute kommen und gehen. Bereiten sie da gerade etwas vor? Einen Kaiserschnitt vielleicht? Oder kommt jetzt die Zange? Es ist mir egal. Ich will einfach nur, dass es vorbei ist. Ich mache genau das, was Kay mir sagt, weil sie die Einzige ist, die mich mit Namen anspricht.

      Später erzählt Kay mir, wie stolz sie auf mich ist, weil ich während der Presswehen so stoisch und tapfer war, trotz des Risses. Sie gratuliert mir. Ich traue mich nicht, ihr die Illusion zu nehmen und zu sagen, dass ich einfach davon ausgegangen bin, dass ich und mein Sohn sowieso sterben. Und dass es mir egal war. Von Tapferkeit keine Spur.

      Und dann: Wow! Mein Sohn wird geboren. Ich berühre seinen Kopf, als er aus mir herauskommt, nachdem ich es abgelehnt habe, ihn im Spiegel zu sehen. Auch das Berühren möchte ich zunächst nicht, aber Kay nimmt einfach meine Hand und schiebt sie mir zwischen die Beine. Sie sagt, das würde helfen, und tatsächlich ist es so. Sein Kopf fühlt sich uneben, merkwürdig und vertraut zugleich an. Und warm und nass zwischen den Büscheln meiner Schamhaare. Das Innere kommt nach außen. Ich kann fühlen, dass er fast da ist, und ich gebe noch einmal alles.

      In den kommenden Jahren werde ich immer wieder meine Handfläche auf seinen Kopf legen, um es zu überprüfen. Ja, er fühlt sich immer noch gleich an, hat die gleiche Form. Es tröstet mich und ich bin traurig, als er sieben ist und ich die Konturen nicht mehr ausmachen kann, selbst wenn ich ihm verstohlen über die Haare streiche und ihm einen Kuss gebe, wenn er schläft.

      Er ist so wunderschön, dass mir der Atem stockt, aber das Leben wirft mich erbarmungslos in die Realität des Kreißsaals zurück, mit zugeschnürter Kehle, weil ich keine Wahl habe. Sie heben ihn hoch und geben ihn mir. Mir ist übel. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll.

      Was mir auf der Zunge liegt ist „Scheiße, was haben wir nur gemacht“, aber das kann ich nicht sagen. Ich möchte, dass er etwas Wichtiges hört. Das ist schließlich unser erster Mutter-Sohn-Moment.

      Ich blicke auf ihn, seine winzigen, lilafarbenen Schultern, spüre ihn warm auf meiner Brust und flüstere: „Hallo, Kleiner.“

      Kay kümmert sich um die Nachgeburt und mir ist weiterhin übel. Überall sind Schläuche und Schüsseln voller Blut. Ich spreche undeutlich und meine Beine zittern. Mein Mann zieht sein Hemd aus und nimmt unseren Sohn an seine Brust, damit er den Herzschlag hören kann. Wir sagen unseren Familien Bescheid, aber ich bin nicht wirklich anwesend.

      Mir geht durch den Kopf, dass William Blake in seinem Gedicht Kindliches Leid1 ganz schön untertrieb, als er davon sprach, wie die Mutter stöhnte, der Vater weinte und das Kind nur so in die gefährliche Welt sprang.

      Meine Aufmerksamkeit kehrt in den Raum zurück und ich denke: „Warum legen all diese Leute den Kopf so schief und starren auf etwas?“

      Später wird mir klar, dass sie den Schaden begutachten und nach einer Hebamme suchen, die erfahren genug ist, um mich wieder zusammenzuflicken. Im ersten Moment wirken sie aber eher wie merkwürdige Pantomimen.

      Kay zieht unseren Jungen an und singt „Happy Birthday“ für ihn. Mir wird bewusst, dass ich nicht einmal weiß, welcher Tag heute ist, aber ich darf jetzt nicht zusammenbrechen, denn für einen kurzen Moment ist die Welt perfekt: die Melodie und Kays Stimme bringen uns in Berührung mit dem alltäglichen Wunder einer Geburt. Wir alle atmen die Schönheit einer wilden Kreatur, die ihre ersten zaghaften Schreie ausstößt und die Welt für immer durch ihre Geburt verändert.

      Ich denke: „Wenigstens ist es jetzt vorbei.“

      Am nächsten Nachmittag, wahrscheinlich zu früh, stolpern wir ins Tageslicht, das verändert aussieht, und werden zum Klischee eines Paares, das wegen des Kindersitzes streitet. Wir probieren herum und geraten in Panik, hilflos im Angesicht so vieler Gurte und Sicherheitswarnungen. Meine Hände zittern, aber ich bin jetzt sowieso nicht mehr wichtig. Ich weine und rede zusammenhangloses Zeug. Ich weiß nicht mehr, ob mein Baby ein Junge oder ein Mädchen ist. Ich weiß nicht mehr, was man mir gesagt hat oder ob ich immer noch Ärger mit den Schwestern habe. Als wir das Baby endlich angeschnallt haben und losfahren können, sage ich:

      „Jetzt wird alles gut, oder? Es wird doch alles gut, oder?“

      „Ja“, sagt mein Mann. „Wir müssen nie wieder dahin zurück.“

      Kapitel 4

      Ab nach Hause

      Der folgende Tag, Juli 2007, ein Wohnzimmer voller Blumen und Geschenke

      Heute stellen wir unseren kleinen Sohn unseren Lieblingsmenschen vor. Ich habe immer noch ein Schwangerschaftsoutfit an, aber ich lächle für die Kameras und wir bewundern seine perfekten kleinen Füße. Er ist rosig und zart und etwas von seinem Glanz fällt auch auf uns ab.

      Meine Eltern, gerade erst 50 geworden, bringen einen ihrer alten Freunde von der Uni mit. Er hat mich im Krankenhaus besucht, als ich 1977 geboren wurde, und es fühlt sich an wie eine Art von Familienzusammenführung. Meine Schwestern küssen ihren neugeborenen Neffen, der jedes Mal seine Augen schließt und unmutig die Lippen schürzt, während meine Mutter nach meinen Nähten fragt. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt davon anfangen soll, inmitten von so viel Liebe und Glück. Ich gebe kleine Bruchstücke der ganzen Katastrophe zum Besten, beschränke mich aber größtenteils darauf zu sagen, ich sei noch ein wenig „wund“, entschlossen, das Beste aus den Dingen zu machen, die bereits gut laufen.

      Ich muss das Stillen nicht lernen, weil mein Sohn das für mich erledigt. Das Glücksgefühl beginnt mit dem Milcheinschuss. Er findet zielsicher meine Brust und beginnt sofort, kräftig zu saugen. Meine Mutter zuckt kurz zusammen, als sie sieht, wie gierig er mich attackiert und gesteht mir, dass ich genauso war. Das hatte die Hebamme damals sogar schriftlich festgehalten.

      Meine Stiche verheilen gut, mein Bauch bildet sich zurück. Das einzige Problem ist, dass ich mir dauernd in die Hose mache. Man versichert mir mehrmals, das sei normal. Die Familie ist wieder weg und wir sind kurz davor, einen Strich unter die Krankenhausgeschichte zu ziehen, als etwas Schreckliches passiert.

      Ich stille meinen Sohn in der Küche, inmitten von abgekochtem Wasser und Olivenöl, womit wir ihn Empfehlungen zufolge beim Windelwechseln säubern sollen, anstatt Babytücher zu verwenden. Urplötzlich verspüre ich den starken Drang zu pressen. Es fühlt sich merkwürdig an und schmerzhaft. Ich habe Angst, meinen Sohn fallen zu lassen. Ich gebe ein animalisches Geräusch von mir, wie in der Krankenhaustoilette, und dann beginnen all diese Blutklumpen aus mir herauszufallen.

      Der Wochenfluss (die periodenähnliche Blutung nach der Geburt) war schon recht heftig, aber das hier sind große ölige Klumpen, die mir aus der Hand glitschen wie Innereien. Ich krieche nach oben ins Badezimmer und versuche, sie irgendwie aufzufangen. Trotzdem bekommt der Teppich Blut ab.

      Ich denke komischerweise