Luce Brett

Ich bin nicht ganz dicht


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Gefühl, stößt etwas an, und du kannst erst aufhören, wenn du leergeweint bist.

      Die Erkenntnis, dass du dich irgendwann irgendjemandem anvertrauen musst, gestehen musst, dass du es nicht mehr schaffst, ist kaum zu ertragen. Du versuchst deinem Mann zu erklären, warum du plötzlich ein verschrecktes, zitterndes, heulendes Bündel Elend bist. Du hörst dir selbst zu, wie du an der Oberfläche kratzt und versuchst, es verständlich zu machen. Aber im Grunde quält dich ständig die Angst, dass sie dich mitnehmen und wegsperren werden. Man wird dich ausradieren und vergessen wie alle Verrückten, und du wirst in deinem eigenen Dreck sitzend protestieren, dass du ganz normal bist.

      Als du das erzählst, nimmt er dich in den Arm und sagt dir, dass er das nicht zulassen wird. Er sagt, er liebt dich und hasst dich nicht. Er weiß, dass du seit Wochen kaum geschlafen hast, und obwohl es ihm kaum anders geht, wird er die heutige Nacht übernehmen. Er bringt dich ins Bett und wechselt deine Klamotten. Als er dich abwäscht, nennt er deine Socken „Schühchen“. Nur ein kleiner Versprecher eines jungen übermüdeten Vaters, der neuerdings Worte benutzt wie Windeln und Säugling. Aber du fragst dich, ob er bereits befürchtet, dass er demnächst auch dich rundum versorgen wird müssen.

      So oder so, der Wahnsinn und die Inkontinenz verschmelzen, Körper und Geist sind in Auflösung begriffen. Und selbst im verwirrten Zustand des Halbschlafs beginnst du dich zu fragen: Ist die Inkontinenz eine Begleiterscheinung dieses Zustands der Auflösung oder ist sie die Ursache?

      Kapitel 5

      Sechs Wochen später

      Weil ich nicht so schnell wieder auf die Beine komme, verpasse ich das erste Treffen mit den anderen frischgebackenen Müttern aus dem Geburtsvorbereitungskurs. Ich habe das Gefühl, dank meines blöden Körpers und seiner schleimigen Blutungen bereits im Rückstand zu sein und die vielen kleinen Erfolge der ersten Wochen verpasst zu haben.

      Donnerstag, Ende August 2007, Café mit acht Müttern und acht Kinderwagen, die um einen Tisch voller Stilleinlagen geparkt sind

      Mein Blick schweift über die Runde der Frauen aus meinem Geburtsvorbereitungskurs. Wir flüstern, als wären wir Komplizinnen bei einem Verbrechen oder Geschworene, die eine schreckliche Wahrheit erfahren haben und nun damit leben müssen. Wir erzählen unsere Geschichten. Die Geburt war eine Schlacht und die Zeit danach ein wildes Durcheinander. Diejenigen von uns, die am meisten betastet und untersucht wurden und deren Geburten am schwierigsten waren, fühlen sich ein wenig wie Relikte, fast so, als wären wir als Person gar nicht mehr vorhanden.

      Es tut gut zu hören, dass ich nicht die Einzige bin, die auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Obwohl ich mich nicht ganz wohl fühle bei dem Gedanken, für die obligatorische Untersuchung sechs Wochen nach der Geburt wieder an den Ort des Geschehens zurückzukehren, höre ich von allen Seiten, dass wir alle Anfängerinnen sind und die Geburt nun endgültig vorbei. Es ist Zeit, unsere Babys zu genießen.

      Ich blicke auf meinen Sohn. Er sieht recht glücklich aus, auch wenn er seine Socken einfach nicht anbehält, egal wie viele ältere Damen mich an der Bushaltestelle tadeln. Die anderen meinen es natürlich gut – wir kennen einander kaum, aber sie sagen mir, ich werde das mit Bravour bestehen. Nur noch diese Untersuchung und dann kann es wieder vorwärts gehen.

      Ich hole tief Luft. Vielleicht ist heute der Anfang vom Ende dieses ganzen medizinischen Wahnsinns und ich kann weiter auf der Woge des Selbstvertrauens reiten, das die frischgebackenen Mütter mir vermittelt haben. Außerdem habe ich mir den Tag in weiser Voraussicht – und weil ich am Rande des Wahnsinns stehe, auch wenn ich verzweifelt versuche, es mir nicht anmerken zu lassen – mit Aktivitäten vollgepackt, damit ich nicht ins Grübeln komme. Ich ignoriere den Ratschlag unserer Kursleiterin, dass EINE Sache am Tag mehr als genug ist und wir uns in den ersten Wochen darauf konzentrieren sollten, wieder zu Kräften zu kommen. Schon bevor das „Fear of missing out“-Phänomen in den sozialen Medien auftaucht, leide ich eindeutig an FoMO – der Angst etwas zu verpassen.

      Der heutige Plan sieht vor:

      1. Frischgebackene junge Mütter zum Kaffee treffen – ERLEDIGT

      2. Meinen Intimbereich vom Expertenteam absegnen lassen – IN PLANUNG

      3. Kinovorstellung für Mütter mit Babys besuchen – WARUM NICHT? Und …

      4. Mit meinem Vater auf die Isle of Wight fahren. WAS. FÜR. EINE. SCHEISSIDEE.

      Innerhalb der nächsten Stunde ist Punkt 2 auf der Liste in Arbeit.

      Ich sitze in dem nüchtern eingerichteten Behandlungszimmer und versuche, nicht auf die vergitterten Fenster zu schauen, während eine geschäftig wirkende Ärztin ihre Liste durchgeht und ich ihr erzähle, was heilt und wo ich Schmerzen habe. Sie wirft einen kurzen Blick in meine Vagina und zeigt sich angetan von den sauber ausgeführten Nähten.

      An diesem Punkt breche ich dann doch zusammen und weine leise vor mich hin, während ich von den vergangenen Wochen erzähle, die mich hierhin gebracht haben, in den Raum für die komplizierten Fälle, anstatt zu meiner freundlichen Ärztin, die ich normalerweise aufsuche. Ich höre erst auf zu heulen, als wir über meine Psyche sprechen und ich beruhige uns beide mit den furchtbar klingenden (aber wahren) Worten: „Nein, natürlich möchte ich meinem Kind nichts antun. Mein Sohn ist wunderbar und er kann ja auch gar nichts dafür.“

      Ich habe bereits zugegeben, dass ich ein wenig Angst davor habe, depressiv zu werden. Die Ärztin widmet mir noch ein wenig mehr von ihrer Zeit, auch wenn sie bestimmt wie alle anderen gedanklich schon beim morgigen Feiertag ist.

      „Sie hatten keine einfache Geburt, Luce“, sagt sie mitfühlend. „Ich glaube, dass das niemand so leicht wegsteckt.“

      Irgendwie läuft dieses Gespräch zu glatt. Obwohl ich ihr nichts erzähle von den Wellen der Traurigkeit, den Flashbacks und den Albträumen, und obwohl wir die Möglichkeit einer Wochenbettdepression ausschließen, habe ich das Gefühl, sie versteht mich nicht richtig. Niemand versteht mich: Es fühlt sich da unten wirklich sehr, sehr anders an als zuvor. Sie beginnt mir zu erzählen, dass es eine Weile dauern kann, bis sich wieder alles normal anfühlt und verheilt ist und dass ich Beckenbodenübungen machen soll.

      „Ich versuche es ja …“, setze ich an.

      „Ich weiß, es ist nicht leicht, aber Sie werden sehen, dass es hilft“, fährt sie fort und schaut auf meine überquellende Akte. „Am besten suchen Sie sich etwas aus, das sie regelmäßig tun, wie beispielsweise morgens die Waschmaschine befüllen oder Abwaschen oder Zähneputzen, und machen dabei Ihre Übungen.“

      Ich sage nichts. Schließe meine Augen. Spüre, wie meine Wangen beginnen zu glühen.

      Es ist etwas an diesem Moment der Stille. Vielleicht weckt er Erinnerungen an den Kreißsaal an jenem Morgen. Vielleicht ist es auch der Blick auf das erhöhte Arbeitspensum, das die Mutterschaft mit sich bringt. Mittlerweile ist ermüdende Hausarbeit so alltäglich wie es zuvor, keine Ahnung, Masturbieren oder eine neue Folge von Inspector Barnaby waren. Vielleicht ist es das leichte Zittern im Atem meines Sohnes, wenn er im Schlaf seufzt, weil er meinen Duft wahrnimmt – diese pummeligen Kinderfäustchen, das Gesicht so selig wie ein schlafender Papst – oder es sind die Milchflecken, die sich auf meinem Top bilden. Oder der Sonnenstrahl, der in mein Auge und auf meine Akte fällt. Vielleicht bemerke ich auch erst jetzt, dass ich eher entnervt bin als müde. Jedenfalls fällt mir plötzlich auf, wie verrückt ich mich verhalte. Ja, ich möchte diesen Ort nie wieder sehen. Aber es muss auch endlich jemand die ganze Wahrheit hören. Ich KANN mir nicht länger eine Litanei von Standardratschlägen anhören, die sich so anfühlen, als wären sie für jemand anderes gedacht.

      „Darum geht es nicht. Ich mache die Übungen jeden Tag. Aber, also es ist so … Selbst wenn ich sie mache, kann ich nichts spüren. Also nicht so richtig. Beim Zusammendrücken fühlt es sich so an, als wäre da – gar nichts.“

      Sie legt den Kopf schräg und den Stift hin. Und versucht ihre Frustration darüber zu verbergen, dass ihre Patientin ihr, gerade