Luce Brett

Ich bin nicht ganz dicht


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passiert ist. Jemals. Wir lassen die Broschüre auf der Fahrt zum Schwimmen und zurück von Hand zu Hand wandern.

      Die von einem Tampon-Hersteller herausgegebene Broschüre besteht aus beschrifteten Zeichnungen in Pastellfarben. Sie ist wirklich gut gemacht. Das Perineum gehört nicht zu den Highlights.

      Wir erfahren etwas über den Monatsfluss (schwer und leicht) und bekommen gezeigt, wie unsere Eierstöcke aussehen (wie Bonbons) und unsere Röhre, die man „Vagina“ nennt. Die Röhre ist das Wichtigste, denn da kommen die Tampons rein. Die Broschüre teilt uns mit, dass Tampons die ganze Bescherung problemlos aufsaugen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein Faden aus mir heraushängen soll.

      Wir versuchen uns die Worte zu merken. Es gibt neue wie „Eierstöcke“, „Menstruation“ und „Applikator“, aber auch altbekannte, wie „Binde“ und „monatlich“, die eine neue Bedeutung bekommen. Noch nie zuvor war ich dem Teenagerleben so nah.

      Wir erfahren etwas über Schmierblutungen, den Beginn der Periode und die 28 Tage. Die wissenschaftlichen Erklärungen begeistern uns. Selbst das Erwähnen von Krämpfen kann unsere Vorfreude nicht dämpfen. In der Broschüre ist keine Rede von starken Blutungen oder Zervixschleim, der wie Eiweiß aussieht, oder der Hoffnung, dass der Tampon auch ja weit genug oben sitzt. Das ist jetzt auch nicht wichtig. Das Universum lädt uns zweifelsohne ein, einem geheimen Club beizutreten. Wir stehen an der Schwelle zu etwas Großem.

      Meine Aufklärung in Sachen Sex und Fortpflanzung erfolgte eher klassisch. Ich lernte etwas über meine Anatomie, indem ich heimlich die feministischen Bücher meiner Mutter las. Für das Internet war es noch zu früh, also reimte ich mir den Rest mithilfe der Gerüchteküche in der Schule und von Artikeln aus Zeitschriften zusammen. Derbere Begriffe lernte ich erst im Alter von 26 Jahren beim Lesen eines Callgirl-Blogs mit dem Titel Belle de Jour.

      Das beste Buch meiner Mutter war Unser Körper, unser Leben, ein gebundenes Exemplar, das stolz neben anderen stand wie Der weibliche Eunuch von Germaine Greer, Frauen von Marylin French, Jane Fondas Fitness-Buch und einem Buch der britischen Anthropologin und Autorin Sheila Kitzinger (leider war es nicht ihr Klassiker Das Erlebnis der Geburt: Mütter und Väter berichten, der mir möglicherweise für die Geburt geholfen hätte).

      Die Ausgabe von Unser Körper, unser Leben meiner Mutter stand schon mein gesamtes Leben lang im Regal. Es wurde gemeinsam verfasst von einer Gruppe von Frauen, und sein Erfolg liegt in der Kombination aus den gesammelten Erfahrungen vieler Frauen und klaren medizinischen Fakten. In den 1990er-Jahren wirkte es ein wenig wie ein kurioses Relikt, wohingegen es sich heute anfühlt wie die Blaupause für die moderne Frauenrechtsbewegung – von der Entmystifizierung von Menstruationsblut in den sozialen Medien bis hin zum Aufstellen von Suffragetten-Statuen in der Nähe des britischen Parlaments.

      Wenn ich als Teenager alleine zu Hause war, verbrachte ich Stunden auf dem Fußboden des Esszimmers und starrte auf die zahlreichen Diagramme und Zeichnungen und Fotos. Schamlose Schamhaare, die sich stolz zwischen Frauenbeinen kräuselten, und Zeichnungen von Brüsten. Es gab auch ausführliche medizinische Beschreibungen von Geburten und Fotos von schreienden Babys, eingerahmt von den Beinen ihrer Mütter, aber ich dachte nicht darüber nach, wie sich das wohl anfühlt oder wie anstrengend es sein mag oder was eine Öffnung von zehn Zentimetern Durchmesser bedeutet.

      Ich bestaunte das alles, auch wenn ich fand, dass der Vorschlag, mir mithilfe eines Spiegels meinen Muttermund anzusehen, ein bisschen weit ging. Allein schon aufgrund des Winkels erschien mir das undenkbar.

      Das erste Mal, dass ich überhaupt in Betracht zog, diese Region in Augenschein zu nehmen, war um 9 Uhr morgens am Tag, nachdem die Wehen begonnen hatten, als die Hebamme Kay mir anbot, mithilfe eines Spiegels zu sehen, wie mein Sohn aus mir herauskam. Aber das Risiko, mein bestes Stück in diesem Zustand zu betrachten, erschien mir, selbst wenn ich das Zittern hätte beenden können, einfach zu groß. Ich versuchte zu scherzen und meinte, der Zeitpunkt, an dem noch irgendetwas hätte bewundert werden können, sei wohl definitiv verstrichen, aber ich sprach wohl so undeutlich, dass mein Mann für mich übersetzen musste: „SIE WILL ES NICHT SEHEN.“

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      Selbst in diesem Moment, vollgepumpt mit Pethidin, traumatisiert, triefend und pressend, wusste ich es bereits. Ich wusste, dass etwas kaputt gegangen war und dass nicht nur die Hebammen alle Hände voll zu tun haben würden, um mich zusammenzuflicken. Ich wusste allerdings nicht, dass es gar nicht so einfach ist, den Schaden zu beurteilen, wenn man nicht weiß, wie es vorher da unten aussah.

      1989–1991, Spielplätze verschiedener weiterführender Schulen

      Meine Freundinnen und ich halten uns jetzt täglich auf dem Laufenden darüber, was sich in unseren Schlüpfern abspielt. Ob wir unsere Tage schon haben oder vielleicht kurz davorstehen, was wir aus unseren klebrigen Unterhosen ablesen können.

      Wir sind auf der weiterführenden Schule, und mittlerweile haben wir alle die Broschüre des Tamponherstellers angefordert. Wir besitzen alle die gleichen rosafarbenen Plastikdöschen, in denen unsere kostenlosen Proben vor neugierigen Blicken verborgen bleiben. Diskretion ist in meinen Teenager- und Twen-Jahren das A und O. Die Hersteller von Hygieneprodukten verfolgen die Marketingstrategie, dass niemand wissen oder erahnen soll, wann wir unsere Tage haben.

      Ein Hersteller setzt sogar auf eine durchsichtige Verpackung. Die Information befindet sich auf der Außenfolie, und wenn man sie entfernt, bleibt nur eine kleine blaue Packung übrig, in der sich alles Mögliche befinden könnte. Alles.

      Es sind Geheimnisse, die Mädchen hinter vorgehaltener Hand teilen. Und obwohl es gegen unser eigentliches Bedürfnis geht, das darin besteht, fasziniert über Schmierblutungen, rosa Fäden und Ausfluss zu sprechen, gehen wir offenen Auges einen absurden und gefährlichen Pakt des Stillschweigens ein. Wir Frauen und Mädchen werden die Klappe halten und diese ganzen körperlichen Dinge klaglos aushalten, damit es ja nicht peinlich wird für die Jungs. Wir werden ebenso klaglos Mehrwertsteuer auf Tampons zahlen und ein Schweigen wahren, das am Ende Auswirkungen auf alle hat.

      In den 1990er-Jahren bin ich besessen vom Feminismus, weil mich die Widersprüche der Frauenwelt irritieren. Obwohl wir es ablehnen, uns abfällig über schlecht gelaunte menstruierende Frauen zu äußern, lachen dennoch alle, als unsere Sozialkundelehrerin von einem Mädchen an ihrer vorherigen Schule erzählt, das dachte, man müsse die Binden mit dem Klebestreifen an den Schamlippen befestigen anstatt an der Unterhose. Und ich denke so bei mir: „Es haben halt nicht alle drauf.“

      Bis dahin hatte ich noch nie eine Schachtel „Tena Lady“ gesehen oder überhaupt nur von Einlagen bei Blasenschwäche gehört. Damals sorgten eher die aufgeklärten Anzeigen des britischen Herstellers Bodyform für Menstruationsprodukte für Wirbel. Aber das lag nicht an mir, denn Inkontinenz wurde seinerzeit totgeschwiegen. Bizarr, aber wahr: Als in den 1980er-Jahren die ersten Einlagen für Inkontinenz auf den Markt kamen, mussten Marktforscher vorab die örtliche Polizei informieren, wenn sie Befragungen an der Haustür durchführen wollten – für den Fall, dass brave Hausfrauen und ältere Damen bei der reinen Erwähnung eines solchen Produkts die 110 wählen würden. Auch heute noch sehen Marktforscher das Thema als tabubeladen an – ein Bereich, in dem Vorsicht und Feingefühl geboten sind und das Finden einer repräsentativen Gruppe von Befragten schwer sein kann. Ein Bewusstseinsschub in den späten 2010er-Jahren bringt womöglich langsam Bewegung in das Thema.

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      Als wir im Sexualkundeunterricht zum Thema „Wachstum“ kommen, beschriften wir ein Diagramm mit den korrekten Begriffen der Fortpflanzungsorgane und versuchen, das Kichern um uns herum zu ignorieren. Die Würgelaute, die jedes Mal aus den hinteren Reihen kommen, wenn das Wort „Vagina“ fällt, und die schmatzenden Geräusche, wenn der Zeigestift sich auf ein Geschlechtsteil auf dem Overhead-Projektor richtet.

      Ich nenne die Jungen in unserer Klasse „sexistisch“, aber außer ein paar strengen Blicken passiert nicht viel. Sie bezeichnen mich im Gegenzug als „Maggie Thatcher“.

      „Fickt