Bekim Sejranović

Ein schönerer Schluss


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aufgehört. Ein kleiner, kalter, vorhersehbarer Regen. Autos fahren vorüber und halten vor der Ampel an der Kreuzung gleich vor dem Haus. Ein paar eilige Passanten klammern sich an ihre Schirme.

       2.

      Fünf Tage sind vergangen. Ich stehe auf, sobald Egil, der Franzose und der Dritte, der ausziehen soll und dessen Namen ich mir nicht gemerkt habe, weggegangen sind, um ihren täglichen Verpflichtungen nachzukommen. Ich dusche, rasiere mich, ziehe mich an, als würde ich rausgehen, setze mich aufs Sofa am Fenster und sehe auf die Straße hinunter. Draußen hat sich nichts geändert. Derselbe graue Himmel, dieselbe nasse Straße, dieselbe Kreuzung, die Ampel, an der die Lichter wechseln, eilige Silhouetten, die mit großen Schritten zu ihren Bestimmungsorten eilen. Zu einer bestimmten Zeit, kurz nach Mittag, gehe ich zum Laden, kaufe eine Zeitung, Brot und eine Dose Makrelen in Tomatensoße, kehre nach Hause zurück, lese die Zeitungsüberschriften, kaue den Fisch. In einer Dose Makrelen in Tomatensoße ist alles, was der Mensch für einen Tag braucht.

      Wenn meine Mitbewohner nach Hause zurückkehren, nachmittags gegen fünf, grüßen sie mich flüchtig und gehen sich in der Gemeinschaftsküche etwas zu essen machen. Ich warte ab, bis sie ihre Speisen angerichtet haben, dann gehe ich hinaus, um sie beim Essen nicht zu stören. Sie essen im Wohnzimmer und sehen dabei fern. Egil lädt mich ein, mit ihnen zusammen zu essen, aber ich bedanke mich höflich und lehne ab. Ich sage, dass ich Makrele in Tomatensoße gegessen habe und dass das alles ist, was ich für einen Tag brauche. Er antwortet nicht, sondern isst ruhig weiter. Auch der Franzose hat mir angeboten mitzuessen. Er spricht verhältnismäßig schlecht Norwegisch, und so verständigen wir uns auf Englisch. Er spricht wie René aus der britischen Sitcom ’Allo ’Allo!. Der dritte Mitbewohner hat mir weder Essen angeboten noch etwas gesagt. Am sechsten Tag meines Aufenthalts in der Wohnung, am Samstag, ist er aus dem Zimmer ausgezogen, und ich ziehe ein.

       3.

      Ich habe meine zwei Rucksäcke hineingetragen und sie in die Ecke gestellt. Das Zimmer ist geräumig, mit einem Bett, einem Arbeitstisch, zwei Stühlen und einem Schrank. Die Fenster sehen auf dieselbe Straße hinaus wie die im Wohnzimmer. Ich stehe da und sehe auf die ursprünglich weißen Wände, die eine schmutzig gelbe Farbe angenommen haben. Hier und da sind kleine Löcher oder abgerissene Stückchen Tapete zu sehen. Ich gehe zum Bett und setze mich. Ich sehe aus dem Fenster und sehe die gleiche Szenerie, die ich die letzten paar Tage gesehen habe.

      Mir kommt der Gedanke, dass sich doch etwas bewegt hat. Jetzt hast du dein Zimmer und kannst es dir einrichten, wie es dir gefällt. Du kannst auf dem Bett sitzen und den ganzen Tag auf die Straße hinaussehen. Du brauchst ihnen nicht mehr aus dem Weg zu gehen, wenn sie zum Essen nach Hause kommen. Du brauchst nicht mehr hinauszugehen und auf das Dach des Hauses zu steigen, von wo sich der Blick auf Oslo öffnet. Vom Dach aus ist auch die Moschee zu sehen, die die Muslime vor ein paar Jahren gebaut haben. Im Ostteil von Oslo gibt es genügend Zuwanderer aus muslimischen Ländern. Die Moschee ist aus Steinen gebaut, die aus dem Nahen Osten gebracht wurden. Sie hat zwei schlanke Minarette, aber die norwegischen Behörden erlauben nicht, dass der Gebetsruf erschallt, denn sie nehmen an, dass das die Mitbürger, die keine Muslime sind, beunruhigen könnte.

      Ich erhebe mich vom Bett und gehe zu meinen Rucksäcken. Den großen Rucksack schiebe ich zum Schrank und fange an, meine Kleidung herauszunehmen und sie auf den Regalen zu verteilen. Als ich fertig bin, ist der kleine Rucksack dran, ich nehme den Laptop, die paar Bücher und meine Schreibhefte heraus und lege alles auf den Arbeitstisch. Ich schalte den Laptop ein, lasse einen kurzen Porno laufen und onaniere. Als ich fertig bin, setze ich mich wieder aufs Bett und sehe aus dem Fenster hinaus auf die Straße.

      VII

       1.

      Als die Pflaumen um Großvaters Hütte endlich abgefallen waren und verfaulten, kam der Herbst. Es setzten Regen ein, die in Bosnien „heftenjaće“, also „Sieben-Tage-Regen“ genannt werden, was bedeutet, dass es eine Woche lang durchregnet. Die Stimmen in meinem Kopf begannen allmählich leiser zu werden, und es gab Tage, an denen sie überhaupt nicht mehr sprachen, weder mit mir noch miteinander. Die Bilder, die mich im Schlaf ansprangen, aber auch wenn ich wach war, verblassten immer mehr. Vielleicht war der Grund auch, dass ich angefangen hatte, über das, was in Oslo geschehen war, zu schreiben. In dem rosafarbenen Schreibheft hatte ich zunächst damit begonnen, darüber zu schreiben, was in der Hütte war, aber da gab es nicht viel zu erzählen. Nach einiger Zeit hatte ich angefangen, neurotisch einzelne Wörter, die Geschehnisse aus Oslo betrafen, von der Rückseite her ins Schreibheft zu kritzeln. Mit der Zeit fügten sich die Wörter zu Formen, die Ähnlichkeit mit Geschichten hatten. Es schien, als wäre es mir gelungen, die Stimmen aus dem Kopf auf das Papier zu bannen.

      Als der Dauerregen einsetzte, setzte ich auch mal einen Fuß vor die Tür und begann meine Wanderungen über die umliegenden Berge. Es war schlammig und mühsam zu gehen. An manchen Stellen sank ich bis zu den Knöcheln in die klebrige Erde ein, aber es gibt nichts Schöneres, als bei Regen im Wald zu wandern. Du hörst, wie es rieselt und wie die Tropfen auf die schon welken Blätter fallen und langsam herabrinnen und auf dem weichen Waldboden aufschlagen, und du siehst, wie hier und da ein Blatt fällt und wie dünne Rinnsale die Kerben in der Eichenrinde hinunterfließen. Alles andere ist verstummt, kein Käfer summt, kein Vogel zwitschert, kein unsichtbares Tier raschelt. Alle haben sich in ihre Verstecke, Nester und Höhlen zurückgezogen, gemeinsam mit dem Wald haben sie sich dem Herbstregen überlassen.

       2.

      Ich ging auch deshalb gern im Regen spazieren, weil ich mir sicher war, auf den umliegenden Äckern und Lichtungen keinem Bauern oder Hirten zu begegnen. Früher konnte man sie den ganzen Tag einander von Berg zu Berg zurufen hören. Dann versuchte ich zu enträtseln, was sie einander zu sagen hatten, aber ohne Erfolg. Alles, was ich hörte, war ein lang gezogenes, unartikuliertes eeeooooo, das zuerst vom einen Berg zu hören war, und dann ein oooooeee vom anderen. Vielleicht bedeutete das viel mehr, als ich erahnen konnte. Aber vielleicht bedeutete es auch nichts.

      Die Hütte liegt acht Kilometer vom Dorf entfernt. Ein staubiger, ausgewaschener Schotterweg führt am Flüsschen entlang, das irgendwo oben in den Bergen entspringt. Zum Dorf runter fuhr ich, wenn ich Lebensmittel brauchte, etwa einmal die Woche. Ich habe einen 37 Jahre alten, klapprigen Käfer, der diesen Weg problemlos schafft. Als ich das erste Mal mit dem Käfer durchs Dorf fuhr, sprangen die Jungs, die auf der Straße Fußball spielten, flink zur Seite und fingen an zu glotzen und zu grinsen und mit dem Finger auf das Auto zu zeigen. Einer schrie: – Daaa, sieh mal, ein Fićo! – Die anderen griffen das auf: – Fićo, Fićo! – machten sie sich lustig und schnitten Grimassen. Ich parkte vor dem kleinen Laden gegenüber der Moschee und ging hinein. Hinter dem Pult stand ein Mädchen, das nicht mehr als achtzehn oder neunzehn sein konnte. Sie war dunkelhäutig und hatte hellgraue Augen. Ihr Haar war schwarz, lang und dicht, nach hinten gekämmt. Sie hatte eine hohe Stirn. Für einen Augenblick blieb ich stehen und sah ihr zu, wie sie eine alte Frau in Pluderhosen bediente. Dann nahm ich das Notwendigste: Mehl, Öl, Eier, Paprika, Tomaten, Nudeln, Reis und noch was. Sie sah mich kurz an, während sie sagte, was alles zusammen kostet.

      Ich ging hinaus, und um den Käfer drängten sich die Kinder. Gegenüber, auf der Bank vor der Moschee, saßen die Alten, fünf an der Zahl. Sie blinzelten in die Sonne und sahen mir wortlos nach. Drei von ihnen hatten dunkelblaue Barette auf dem Kopf.

       3.

      Als ich zur Hütte zurückfahre, beginnen die Stimmen und Bilder im Kopf wie Mühlsteine zu rotieren. Ich sehe meine Ex und ihren Sohn, wie sie zusammen weinen, der Kleine sieht mich mit seinen blauen Augen an. Da sind auch Cathrine mit ihren vollen Lippen und ihrem besorgten Beschützerinnenlächeln und ihre Tochter, die kichernd und ungeschickt, aber frech, mit Zeigefinger und Daumen ihre Brustwarzen zwirbelt.

      Ich gebe Gas, das Auto macht auf dem holprigen