Bekim Sejranović

Ein schönerer Schluss


Скачать книгу

und hatte mir ein paar Sätze Portugiesisch beigebracht, die sich als sehr nützlich erwiesen, als ich später dort war.

      Dieses Mal verdingte ich mich als Briefträger. Das hatte ich schon einen Sommer während der Ferien gemacht, noch als Student. Jetzt hatte ich eine Anzeige in der Zeitung gelesen, dass sie wieder Briefträger suchten, befristet, weil bald Weihnachten war, und dass es möglich sei, den Vertrag über das befristete Arbeitsverhältnis hinaus zu verlängern. Ich ging direkt in die Sentralpost und fragte den Schichtleiter. Wir unterhielten uns ein bisschen, und als er hörte, dass ich schon Erfahrung habe, Norwegisch spreche und Zahlen und Buchstaben anständig lesen kann, gab es kein Problem. Ich unterschrieb den Vertrag gleich für sechs Monate. Anlernzeit zwei Wochen, Bezahlung nach Tarif. Am Montag darauf sollte ich anfangen, die erste Woche noch im Gespann mit einem erfahrenen Briefträger, der mir meine Route zeigen sollte. Ich ging zufrieden nach Hause.

       3.

      Die Stelle als Briefträger war eine der besseren, die ich gehabt habe. Mir war nicht so malerisch zumute wie bei Bukowski, aber es war gut, weil du die meiste Zeit allein bist. Niemand kontrolliert dich, du kontrollierst niemand. Du kommst gegen halb sechs Uhr morgens in die Sentralpost. Dort wartet auf dich schon ein Haufen Briefe, Ansichtskarten, Reklamezettel, dieses oder jenes Paket, amtliche Umschläge im A4-Format, mittwochs und freitags die Gratiszeitung Osloposten.

      Du sortierst die Sendungen, legst sie in Fächer, nach Straßen, Hauseingängen, Hofeinfahrten, Stockwerken, Wohnungen, Büros. Das dauert bis acht, spätestens bis halb neun. Dann gehst du los und hast die ganze Post spätestens bis halb zwei zu verteilen. Meine Route lag im Zentrum von Oslo, sie umfasste mehrere Straßen, sechshundert Haushalte, an die dreißig Firmen und Geschäfte, eine Kirche und ein Hospiz beziehungsweise eine Pension für Drogenabhängige. Der Typ, der mir zwei Wochen lang den Job beibringen sollte, hatte auf dieser Route zwanzig Jahre gearbeitet. Bald würde er aufhören, Post auszutragen, denn er war schon zu alt, um so große Taschen zu schleppen und dazu noch den Wagen durch den Schnee zu schieben. Er würde in die Postkontrolle wechseln und dort auf seine Pension warten. Den ersten Tag, den ich mit ihm ging, lief alles wie geschmiert. Er arbeitete und erklärte, und ich nickte.

      Am zweiten Tag erschien er nicht zur Arbeit. Er hatte sich krank gemeldet. Ich fing an, die Postsendungen zu sortieren. Das ist leicht, wenn du ein und dieselbe Route zwanzig Jahre gehst und alles auswendig weißt. Wenn du es nicht weißt, musst du ein Notizbuch zu Hilfe nehmen, in das alle Personen und alle Adressen eingetragen werden, wenn jemand zuzieht oder wegzieht, stirbt oder geboren wird. Der Typ, der mich in die Arbeit einführen sollte, hatte in dieses Notizbuch in den letzten zehn Jahren keinen einzigen Buchstaben eingetragen. Ich kehrte von der Auslieferung um fünf Uhr nachmittags zurück. Die Hälfte der Sendungen hatte ich nicht ausgeliefert, weil ich den Empfänger nicht gefunden hatte.

      Als ich zur Sentralpost zurückkam, war nur noch der Portier da. Er sah mich, schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. Er war gut fünfzig Jahre alt und hatte eine Rockabilly-Frisur, die er trug, seit Elvis aus dem Leim gegangen war. Die Glatze auf dem Hinterkopf war so augenscheinlich, dass man sie auch von vorne sah. Er fragte mich, ob ich ein Problem mit dem Lesen hätte, wenn ich so langsam sei.

      Ich sagte, dass ich keines hätte. Er zeigte mir, wo ich die Briefe lassen solle, für die ich keinen Empfänger gefunden hatte. Ich musste sie auseinandersortieren.

      Als ich nach Hause kam, machte ich mir etwas zu essen, und nachdem ich gegessen hatte, dachte ich, dass ich mir jetzt gern einen Joint anstecken würde.

      XI

       1.

      Nach zwei Wochen gelang es mir endlich, die Post vor halb zwei auszutragen. Um zwei war ich mit dem roten Postwagen, in dem nur noch die fast leere Posttasche und drei leere Säcke mit dem Siegel der norwegischen Post lagen, wieder zurück. Mit den neuen Kollegen ging ich auf Bier und Pizza. Stumm schielten sie auf mein Stück mit dem Schinken. Als sie sahen, dass ich die Post vor halb zwei austragen kann, dass ich Schweinefleisch esse und Bier trinke, wurde ich einer von ihnen.

      Die Woche über arbeitete ich, nach der Arbeit ging ich auf ein Bier oder schlenderte durch die Stadt. Dann ging ich nach Hause, machte mir etwas zu essen, schaute zusammen mit meinen Mitbewohnern einen Film, schlief, wachte um halb fünf auf und ging wieder zur Arbeit bei der Post. Freitags betranken wir uns zu Hause, und samstags gingen wir aus und betranken uns wieder. Egil legte jeden Samstag in einem Klub auf, weshalb ich umsonst hineinkam. Im Klub waren morgens um halb eins alle betrunken oder auf Speed. Egil beschleunigte den Rhythmus, und alle hüpften wie wild. Die Jungs näherten sich den schöneren Mädchen von hinten, und die wackelten mit nach hinten gestrecktem Po und versuchten die schwarzen Girls aus den amerikanischen Musikvideos nachzumachen. Heiße und weniger attraktive Mädchen machten aufgegeilte Jungs an. Um drei endete alles wie bei einer Razzia. Alle rannten raus, um ein Taxi zu erwischen, bevor sich eine kilometerlange Schlange gebildet hatte. Das machten in der Hauptsache die, denen es geglückt war, jemanden abzuschleppen. Die weniger Glücklichen gingen zu Fuß auf Kebab und Cola und dann nach Hause, torkelnd und unzufrieden herumbrüllend.

      Sonntagmorgens zwischen drei und sieben ist Oslo die traurigste Stadt auf der Welt.

       2.

      Es vergingen mehrere regnerische und immer dunklere Wochen. Briefträger mögen keinen Regen, aber mich störte er nicht. Ich kam nass, durchgefroren und hungrig nach Hause. Es war ein wahrer Genuss, die nassen Sachen auszuziehen, heiß zu duschen, etwas Trockenes und Warmes anzuziehen, mir eine Bakalarsuppe zu machen, sie am Fenster zu schlürfen, hinauszusehen und nicht nachdenken zu müssen. Manchmal kochte Egil für uns beide, manchmal ich. Er beklagte sich in der Zeit zunehmend, dass er viel zu lernen habe und dass ihm der Regen schon auf den Keks gehe und er es kaum erwarten könne, dass es schneit und wir langlaufen können. Ich stimmte ihm zu, dass es wirklich höchste Zeit sei, dass es schneit. Dann hatten wir einander nichts mehr zu sagen, und jeder ging auf sein Zimmer. Man konnte sagen, dass sich Egil mehr mit Musik als mit Worten ausdrückte, sodass unser Miteinander sich im Großen und Ganzen darauf reduzierte, dass er auf Partys der DJ war und ich dazu tanzte. Manchmal, wenn es Schnee gab, gingen wir langlaufen. Wenn ich nicht arbeitete, auf einer Party abhing oder langlief, verbrachte ich meine Zeit mit Lesen. Manchmal versuchte ich auch zu schreiben, aber hauptsächlich lag ich auf dem Bett, rauchte Haschisch, hörte Musik und sah aus dem Fenster.

      Ich musste oft daran denken, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ich auf meine Ex stoßen würde. Ich wusste nicht, ob ich sie überhaupt sehen wollte. Vielleicht war es das Beste, sie anzurufen, ein Treffen auszumachen, sich in einem Café zu sehen und eine halbe Stunde miteinander zu reden. Länger halte ich es in einer Kneipe nicht aus, ohne etwas zu trinken. Aber wenn ich anfange zu trinken, dann ist alles gelaufen. Was ist gelaufen? Alles. Warum also sollte ich mich überhaupt mit ihr treffen? Wir würden uns früher oder später sowieso begegnen, vielleicht wäre es besser, früher. Vielleicht. Vielleicht wäre es besser, nie. Wir bräuchten uns überhaupt nicht zu unterhalten; uns gegenseitig anzusehen würde reichen, dass uns leichter wird. Vermutlich würde uns leichter werden. Du weißt, dass es das nicht wird. Ein Wort von ihr genügt, um dich wütend zu machen, oder völlig fertig. Da ist es doch besser, wenn wir uns später treffen.

       3.

      Wir trafen uns Mitte Dezember. Es hatte gerade angefangen zu schneien. Dicke feuchte Flocken versprachen, dass der Schnee nicht auf den Gehsteigen der Stadt liegen bleiben würde. Aber in den Wäldern oberhalb von Oslo, in Nordmarka, lag der Schnee sicher schon einen halben Meter hoch. Ich war mit der Arbeit fertig und schlenderte durch die Stadt, schwebte fast durch die Schneeflocken. Ich hatte kein Ziel, ich konnte nur nicht an einem Ort sein. Dann kam ich auf die Idee, zum Friedhof hinaufzugehen, um Ibsen zu besuchen, und dann durch Grünerløkka nach Hause. An der Straßenbahnhaltestelle bei VG, unter der vorragenden Fassade des Gebäudes, stand sie. Vor ihr ein Kinderwagen. Das Kind, genau genommen noch ein Baby,