Bekim Sejranović

Ein schönerer Schluss


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sich mit Beklemmung. Vom Park aus setze ich meinen Weg fort in Richtung Universität. Ich sehe das Haus, in dem wir damals gewohnt haben. An den Fenstern sind Vorhänge von irgendwem. Ich stehe da und starre wie ein Taubstummer. Der Regen hat wieder eingesetzt und hört nach zehn Sekunden erneut auf. Ich will ein bisschen hier stehen und warten, aber es gibt niemand, auf den ich warten könnte. Ich gehe weiter, gehe an der Veterinärmedizinischen vorüber. In einem Korral, hinter einem hohen Drahtzaun, stehen fünf Pferde. Vier braune, einen weißen Fleck auf der Stirn, und ein schmutzig weißes, so eines wie in der Bibel, das der Tod reitet. Es steht am Zaun und schaut in die Luft, als würde es etwas wittern. Dann senkt es den Blick, und wir sehen uns einige Augenblicke lang an. Ich gehe weiter, die Anhöhe hinauf, die Straßenbahngleise entlang. Ich habe noch ein paar Hundert Meter bis Blindern, wo die Universität ist. Die Dächer der Gebäude sind schon zu sehen.

       3.

      Die Universität auf Blindern wurde in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts erbaut. Alle Gebäude sind aus dunkelroten Ziegeln. Hier habe ich gut zehn Jahre verbracht, teils studierend, teils arbeitend. Das letzte Mal war ich vor gut anderthalb Jahren hier. Als ich anfing, zuerst als studentische Hilfskraft, dann als Assistent, war ich mächtig stolz. Aber bald wurde mir das, wie alles andere auch, langweilig. Ich sah meine Zukunft vor mir. Ich sah, wie ich erfolgreich meine Dissertation verteidige, wie ich eine Stelle als Dozent, dann als außerordentlicher Professor bekomme, wie meine wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlicht und wie diese Bücher Pflichtlektüre werden, wie ich Stunden und Tage und Jahre und Jahrzehnte damit verbringe, die Buntheit der metaphorischen Formen und ihre Funktionen im frühen Modernismus zu untersuchen, oder das Motiv der Entfremdung in den frühen Hamsun-Romanen, oder den Einfluss russischer Schriftsteller auf die europäische Literatur in der Zeit zwischen 1928 und 1935. Ich sah, wie mein Haar schwindet, wie meine Dioptrie zunimmt, wie ich wie ein Gespenst durch die Fakultätskorridore schleiche, in vergessenen Büchern grabe und zu großen literaturgeschichtlichen Entdeckungen vorstoße, von denen ich nach zwei geleerten Flaschen Wein jeder und jedem, der das Pech hat, mir in die Quere zu kommen, ermüdend ausführlich erzähle. Ich sah, wie ich nach jungen Studentinnen geifere, die mich mitleidig zurückweisen, wie ich nach Hause in meine mit Büchern vollgestopfte Wohnung zurückkehre und meine nie veröffentlichten Verse lese und über sie weine, den Computer einschalte und ein neues Gedicht schreibe, dann einen Porno ansehe, aber zu viel über das neue Gedicht nachdenke, was zu verändern sei, dass seine Form noch gefeilter, seine Struktur noch kompakter wird, ich sah, wie ich noch einen Vers einfüge, vielleicht am Schluss, einen Ausweg vielleicht, etwas Unausgesprochenes. Alles das sah ich vor mir und begriff, dass ich das nicht konnte. Selbst wenn ich gewollt hätte.

      Aber ich konnte nicht einfach so kündigen, denn wie kann man eine Arbeit kündigen, um die dich viele beneiden. Das ist nicht so leicht, sei ehrlich, du magst es, wenn dich die Menschen beneiden. Obwohl du weißt, dass es keinen Grund dafür gibt. Reichtum ist wertlos, wenn andere ihn dir nicht wegnehmen wollen.

      Jetzt gehe ich doch zu Fuß in den zehnten Stock hinauf, wo sich das Büro von Professor Pettersen befindet, meinem einstigen Mentor. Ich habe Glück und treffe ihn in seinem Büro an. Er ist überrascht, mich zu sehen, aber sehr herzlich. Er sagt, er müsse dringend zu einer Sitzung, aber würde sich freuen, mich zu treffen, wenn er mehr Zeit habe. Ich sage, dass das kein Problem sei, und frage ihn ziemlich dreist, ob es an seinem Institut unter Umständen eine Stelle für mich gäbe. Er sammelt die Papiere vom Tisch zusammen, hält inne, sieht mich an und seufzt tief.

      – Du weißt, dass das unmöglich ist. Nach allem.

      – Ich weiß.

      – Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Aber, wenn es etwas gibt, sage ich es dir. Jetzt muss ich wirklich gehen. Melde dich unbedingt, am besten nachmittags. Du kannst auch einen Tag herkommen, aber nicht diese Woche, gerade bin ich sehr beschäftigt. Mein neues Buch erscheint, weißt du …

      – Ich weiß – sage ich. Ich verspreche ihm, mich zu melden, und gehe hinaus.

      Wir kommen zusammen zum Fahrstuhl. Wir fahren hinunter ins Erdgeschoss, grüßen einander und gehen jeder in seine Richtung ab.

      Ich will zurück in die Stadt, aber auf einem anderen Weg. Wieder scheint die Sonne. Neben mir marschieren Ströme von Studentinnen und Studenten. Ich sehe in ihre Gesichter, stelle mir ihre Leben vor. Ich versuche mir auch meines vorzustellen, kann es aber nicht. Mir wird etwas leichter, und befreit gehe ich in Richtung Zentrum. In Oslo kannst du dich nicht verirren. Du gehst nur bergab und kommst immer ins Zentrum.

      X

       1.

      Der November zieht ins Land, die bewaldeten Berge sind rasch glatzköpfig geworden, wie ein Kranker nach der Chemotherapie. Auf dem felsigen Gipfel, dessen von Meeresfossilien gefurchte Wände davon zeugen, dass sich hier einmal das Südufer des Pannonischen Meeres befunden hat, wachsen Kiefern. Sie wachsen in unnatürlich regelmäßigen Formationen und erinnern an eine schlecht gemachte Perücke. Ich schließe mich in der Hütte ein, zünde die Lampe an, gehe zum Ofen und lege Buchenscheite nach. Ich verstaue die Lebensmittel im kleinen Kühlschrank und in der alten Kommode in der Ecke. Ich bereite mich darauf vor, weiter über die Ereignisse in Oslo zu schreiben, aber ich zögere noch. Anstatt in die Vergangenheit, nach Oslo, irren meine Gedanken ab in Richtung Dorf, in Richtung der grauen, wässrigen und traurig kalten Augen der jungen Verkäuferin. Solche Augen habe ich einmal gekannt. Augen, die um Hilfe flehten, sie aber verschmähten, wenn du dieser Aufforderung nachkamst. Das waren die Augen meiner Ex. Das waren die Augen von Cathrines Tochter. Augen, die ich geliebt habe, die mich verrückt gemacht haben, die unbarmherzig die Stimmen in meinem Kopf angefacht und meine namenlose Krankheit geweckt haben. Augen, die ich öffnete und schloss, küsste und missachtete. Augen, die mich in Großvaters Hütte trieben, auf öde Inseln, in die Einsamkeit.

      Ich hatte nicht viel mit der Verkäuferin gesprochen. Nicht mehr, als notwendig. Ich kannte ihren Namen nicht. Sie hätte doch nur gefragt, ob ich noch etwas brauche. Ich hätte scheinbar überlegt und mich an etwas erinnert, und sie hätte es aus einer Ecke hervorgezogen oder von einem Regal genommen. Dann hätte sie mich für einige Augenblicke angesehen, und bei mir hätte sich etwas in der Nasenwurzel gesammelt, ein Druck, und ich wäre fast zersprungen. Dabei wäre sie mir unendlich unglücklich und einsam erschienen. Dann hätte ich ihr etwas sagen wollen, etwas, was unser beider Leben verändert hätte. Ich hätte sie von dort entführen wollen, hinter dem Pult hervorholen, aus diesem Dorf heraus, ich hätte sie vor der ihr beschiedenen Welt retten wollen. Und sie hätte das, so hätte es mir in diesen wenigen Augenblicken geschienen, begriffen. Sie hätte mich spöttisch angesehen und gesagt: Und ist das alles?

       2.

      In Oslo ist es kein Problem, eine Arbeit zu finden, wenn du nicht wählerisch bist. Mir war es völlig egal, was ich machen würde. Ich wollte nur dem Sitzen am Fenster entkommen, dem Auf-die-Straße-Starren, der Abstumpfung, die mich in eine unbewegliche Larve verwandelte. Als Student hatte ich eine Menge unterschiedlichster Arbeiten angenommen. Ich war Bäcker, Briefträger, Verkäufer, Seemann, Fischer, Kellner, Bauarbeiter und noch manches, bei dem ich mir nicht sicher bin, wie ich es nennen soll. Am schwersten war es, als „bauštelac“ zu arbeiten, aber damals war ich auch am glücklichsten. Du arbeitest den ganzen finsteren Wintertag auf dem Gerüst bei minus zwanzig Grad. Du schleppst Gipsplatten und nagelst Kiefernbretter an. Du kommst müde, ausgehungert und durchgefroren nach Hause, duschst, isst wie ein hungriges und erschöpftes Tier und schläfst ein ohne Haschisch oder Valium.

      Eine Zeit lang habe ich auch als Verkäufer im 7-Eleven gearbeitet. Eines Nachmittags kamen zwei Typen mit einer Schrotflinte in den Laden gestürmt und raubten etwa zweitausend Kronen. Das war an meinem freien Tag. Das Mädchen, das da arbeitete und auf das sie die doppelläufige Flinte gerichtet hatten, musste in psychiatrische Behandlung, weil sie deshalb ein Trauma bekommen hatte. Danach hörte sie ganz auf zu arbeiten, weil sie sich sofort wieder an alles erinnerte, sobald sie den Laden betrat und die verbrannten Würste und alten Pizzastücke