Bei der Diskussion geht es zum einen um die Frage, ob auch Zwischenschritte isoliert betrachtet unter den Begriff der Insiderinformation subsumiert werden können, zum anderen um die Frage, welcher Maßstab bei der Beurteilung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit künftiger Ereignisse anzulegen ist.
II. Isolierte Betrachtung von Zwischenschritten
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Die Frage ob auch Zwischenschritte konkrete Informationen sein können, hat der europäische Gesetzgeber in Art. 7 Abs. 2 S. 3 und Abs. 3 MAR gelöst und zum Teil die Rechtsprechung der Daimler/Geltl-Entscheidung[63] aufgenommen.
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Der EuGH hatte am 28.6.2012 in der Daimler/Geltl-Entscheidung ausgeführt, dass bei einem zeitlich gestreckten Vorgang, bei dem ein bestimmter Umstand verwirklicht oder ein bestimmtes Ereignis herbeigeführt werden soll, nicht nur dieser Umstand oder dieses Ereignis eine präzise (konkrete) Information im Sinne des Insiderrechts sein kann, sondern auch die mit der Verwirklichung des Umstands oder Ereignisses verknüpften Zwischenschritte dieses Vorgangs.
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In Art. 7 Abs. 3 MAR heißt es nun ausdrücklich: „Ein Zwischenschritt in einem gestreckten Vorgang wird als eine Insiderinformation betrachtet, falls er für sich genommen die Kriterien für Insiderinformationen gemäß diesem Artikel erfüllt.“ und kodifiziert damit in diesem Punkt die schon durch den EuGH geschaffene Rechtslage.
III. Hinreichende Eintrittswahrscheinlichkeit
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Gem. § 13 Abs. 1 S. 2 WpHG a.F. konnte ein in der Zukunft liegendes Ereignis nur dann Gegenstand einer Insiderinformation sein, wenn es hinreichend wahrscheinlich war. Diese Vorgabe fand sich in Art. 1 Abs. 1, 1. Fall RL 2003/124/EG. Andere Fassungen der Richtlinie nutzten nicht den Begriff der hinreichenden Wahrscheinlichkeit, sondern forderten eine Auseinandersetzung damit, ob das Ereignis „vernünftigerweise erwartet“ wird.[64] Auch Art. 7 Abs. 2 S. 1 MAR verlangt eine Prüfung, ob der Eintritt des Ereignisses „vernünftigerweise erwartet“ werden kann.[65]
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Schon über die Frage, ab wann der Eintritt eines zukünftigen Umstands „hinreichend wahrscheinlich“ ist, bestand in Rechtsprechung und Literatur keine Einigkeit.
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Die herrschende Meinung verlangte für eine hinreichende Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 13 Abs. 1 S. 3 WpHG a.F. eine überwiegende d.h. eine Eintrittswahrscheinlichkeit von mindestens 50 % plus 1 %[66] und zum Teil deutlich darüber.[67] Danach muss der Eintritt eines Ereignisses zumindest näher liegen als sein Nichteintritt.[68] Nach anderer Auffassung ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit i.S.d. § 13 Abs. 1 S. 3 WpHG a.F. als bewegliche Größe zu verstehen, bei der es nicht allein auf die Eintrittswahrscheinlichkeit ankommt, sondern zusätzlich die zu erwartenden Auswirkungen beim Emittenten zu berücksichtigen sind (Probability Magnitude Test).[69] Bei massiven Auswirkungen und entsprechend zu erwartenden Kursausschlägen, wie z.B. bei einer bedeutenden Übernahme, kann nach dieser Auffassung auch eine deutlich geringere als eine 50 %-Wahrscheinlichkeit ausreichen.
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Schon der EuGH erteilte in seinem Daimler/Geltl-Urteil der Auffassung wonach es für die hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreichen soll, dass der Eintritt der Information weder unmöglich noch unwahrscheinlich ist, sofern sie nur in hohem Maße kursrelevant ist (Probability Magnitude Test), aus rechtssicherheits- sowie systematischen Erwägungen eine Absage.[70] Die Aussagen des EuGH wurden überwiegend dahingehend interpretiert, dass für eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, wie bisher schon von der herrschenden Meinung vertreten, eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 50 + 1 % erforderlich aber auch ausreichend ist.[71] Eine hohe Wahrscheinlichkeit muss demnach nicht vorliegen.[72] In der Praxis geht es dabei nicht um die (unmögliche) Bestimmung von präzisen Wahrscheinlichkeiten sondern um die Frage, ob der Eintritt eines Ereignisses wahrscheinlicher ist als sein Nichteintritt.[73]
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Auch die MAR folgt dem EuGH in Erwägungsgrund Nr. 16 S. 2 MAR. Die Schwelle, wonach der Eintritt eines Ereignisses „vernünftigerweise erwartet“ werden kann, ist überschritten, wenn „eine realistische“ Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt. d.h. eine überwiegende Wahrscheinlichkeit (50 % plus 1 %),[74] besteht. Auch den Probability Magnitude Test hat der europäische Gesetzgeber im Einklang mit dem EuGH in Erwägungsgrund Nr. 16 S. 3 MAR abgelehnt.
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In Konsequenz seiner Auffassung, dass auch Zwischenschritte präzise bzw. konkrete Informationen sein können, stellte der EuGH 2012 in einem obiter dictum[75] zusätzlich fest, dass die mögliche Qualifikation von Zwischenschritten als Insiderinformationen nicht nur für bereits existierende Schritte gilt, sondern auch für solche, bei denen mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass sie in Zukunft eintreten werden.[76]
Da der europäische Gesetzgeber in der MAR an den Begriff der Insiderinformation aus der Marktmissbrauchsrichtlinie anknüpft und sich in Bezug auf Zwischenschritte eng an der Daimler/Geltl-Entscheidung anlehnt, wird davon ausgegangen, dass auch die übrigen Aussagen der EuGH-Entscheidung weiterhin maßgeblich sein sollen[77] und damit auch dieser Grundsatz weiterhin gilt.
IV. Erhebliche Kursrelevanz von Zwischenschritten
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Offen ließ der EuGH jedoch, nach welchen Kriterien die Bestimmung der Kurserheblichkeit eines bestehenden bzw. künftigen Zwischenschritts zu erfolgen hat. Auch die MAR gibt hierauf keine Antwort, weshalb der Streitstand weiterhin aktuell ist. Entsprechend uneinheitlich war und ist die Interpretation der EuGH-Entscheidung in der Literatur. Sind Zwischenschritte potenziell insiderrelevant, liegt es nahe, die Beurteilung des Kursbeeinflussungspotenzials eng mit der Eintrittswahrscheinlichkeit des Endergebnisses zu verknüpfen.[78]
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Das OLG Stuttgart hatte unter Berufung auf den Maßstab des verständigen Anlegers, auf den gem. der gesetzlichen Definition des § 13 Abs. 1 S. 2 WpHG a.F. abzustellen war, Zwischenschritten generell eine erhebliche Kursrelevanz abgesprochen, sofern nicht zugleich der Eintritt des angestrebten Endzieles hinreichend wahrscheinlich ist. Das Gericht charakterisierte den verständigen Anleger als einen Investor, der seine Entscheidungen auf angemessener, also verlässlicher tatsächlicher Informationsgrundlage, aufmerksam und kritisch trifft. Rational handle der verständige Anleger auf dieser Grundlage, wenn er, im Unterschied zu einem spekulativen Anleger, seine Anlageentscheidung an der künftigen Ertragskraft des Emittenten auf der Basis verlässlicher Informationen orientiere. Da der verständige Anleger seine Anlageentscheidung lediglich auf verlässlichen Informationen gründet, berücksichtigt er nach der vorgenannten Auffassung keine Zwischenschritte eines Ereignisses, dessen Eintritt nicht bereits hinreichend wahrscheinlich ist.[79]
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Nach dem Schlussantrag des Generalanwalts Mengozzi vor dem EuGH im Fall Daimler/Geltl beurteilt ein verständiger Anleger Ereignisse demgegenüber nach dem objektiven Kriterium der Vernünftigkeit, nicht in Verfolgung rein spekulativer Zwecke.[80] Die Verfolgung auch spekulativer Zwecke ist danach also nicht ausgeschlossen. Dies gilt auch für die Auffassung der BaFin. Danach berücksichtigt ein verständiger Anleger eine Information bei seiner Anlageentscheidung, wenn ein Kauf- oder Verkaufsanreiz gegeben ist und das Geschäft dem verständigen Anleger lohnend erscheint. Zu berücksichtigen ist dabei neben dem Zustand und der Entwicklung des Gesamtmarktes die Marktenge und Volatilität des Papiers sowie allgemeine und branchenspezifische Kurstrends.[81]
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Auch die Literatur erteilte der engen Auffassung des OLG Stuttgart überwiegend eine Absage.[82] Vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung wird zum Teil vorgeschlagen,