René Rhinow

Freiheit in der Demokratie


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Freiheit ins Zentrum stellen, die in der Menschenwürde fundiert ist, allen Menschen heute und morgen zusteht und von Verantwortung wie Mitverantwortung geprägt wird.

      Die vier Teile dieses Bands handeln vom Liberalismus, der Demokratie und vom Verfassungsstaat. Im neu verfassten Essay «Freiheit gehört auch den Anderen» versuche ich, Gedanken zu einem Liberalismus zu entwickeln, der die Menschenwürde aller ernst nimmt. Die Studie in Form des Plädoyers soll zur weiteren Diskussion und zur Vertiefung anregen; sie erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch. Die Teile drei und vier sind bereits in Fachzeitschriften publiziert worden; sie werden hier mit geringfügigen redaktionellen Anpassungen wiedergegeben. Im Titel des Gesamtwerks «Freiheit in der Demokratie» kommt die existenzielle Verbundenheit von Freiheit, Demokratie und Verfassungsstaat programmatisch zum Ausdruck.

      Mit Freunden, Kolleginnen und Kollegen durfte ich seit meinen Jugendjahren an der Universität, in der Politik und im Freundeskreis intensiv über Liberalismus, Demokratie und Verfassungsstaat diskutieren und habe dabei viele weiterführende Anregungen erfahren. Hervorheben möchte ich vor allem meine Freunde Jörg Paul Müller (Professor an der Universität Bern), Georg Müller (Professor an der Universität Zürich) und den Medienwissenschaftler und Historiker Roger Blum (Professor an der Universität Bern). Ihnen allen bin ich zu grossem Dank verpflichtet.

      Besonders hervorheben möchte ich Jörg Paul Müller. Er hat mich bei diesem Vorhaben eng begleitet; von ihm habe ich aufmunternde Anstösse, (notwendige!) kritische Hinweise sowie zahlreiche weiterführende Impulse erhalten. Mit dem Verlag Hier und Jetzt, vor allem mit Denise Schmid und Corinne Hügli, ergab sich eine fruchtbare und kooperative Zusammenarbeit, die ich gerne verdanke. Vor allem aber bin ich – einmal mehr – meiner Frau Vreny Rhinow-Schetty zu Dank verpflichtet. Sie hat mich mit Geduld und Gelassenheit begleitet und musste auf viele Stunden der Gemeinsamkeit verzichten.

      Die Teile drei und vier in diesem Band sind bereits erschienen in: Archiv für Juristische Praxis AJP 6/2017, 780ff.; Schweizerische Juristenzeitung SJZ, 116 (2020) Nr. 6, 187ff.

Einleitung – Liberalismus neu denken?

      Freiheit lässt viele Deutungen zu. Alle beanspruchen Freiheit für sich, doch nicht alle stellen sich das Gleiche unter Freiheit vor.1 Der Demokratie widerfährt das nämliche Schicksal: In ihr wird die ideale Staatsform erblickt – doch die Auffassungen über das Wesen und die Kernelemente der Demokratie gehen heute weltweit auseinander. Auch autoritäre Staatsführungen berufen sich auf die ansprechende Idee der Demokratie und verkennen dabei bewusst oder unbewusst, dass Freiheit und Demokratie ein unlösbares Junktim bilden, das vom Verfassungsstaat gehalten und gefestigt wird. Der Staat des Liberalismus ist der freiheitliche und demokratische Verfassungsstaat, dessen letzte Legitimation in der Wahrung der Menschenwürde aller liegt und dessen Verfassung sich den Schutz der Freiheit und der Rechte des Volkes zum obersten Ziel setzt – wie es in Artikel 2 der schweizerischen Bundesverfassung (BV) verankert ist. Insofern hängen die drei Publikationen dieses Bands zusammen. Da die einzelnen Teile zu unterschiedlichen Zeitpunkten verfasst wurden, können sich partiell Überschneidungen ergeben. Im zweiten Teil über die Freiheit der Anderen2 erwies es sich als unvermeidbar, einzelne Aspekte mehrfach und in einem je spezifischen Kontext zu behandeln.

      In dieser Einleitung wird der Versuch unternommen, die wesentlichen Thesen der drei folgenden Teile im Sinn einer zusammenfassenden Darstellung vorwegzunehmen und mit einigen weiterführenden Überlegungen zu ergänzen. Vorangestellt werden ausgewählte Gedanken zum Liberalismus in unserer Zeit.

      Liberalismus heute

      Weltweit wird heute unter Liberalismus unterschiedliches, ja auch Gegensätzliches verstanden.3 Bald gelten Liberale als konservativ, bald als links, bald als Anhängerinnen und Anhänger eines rücksichtslosen Casinokapitalismus, bald als volksfremde Eliten – ein vor allem in populistischen Kreisen erhobener Vorwurf –, bald als hoffnungslos weltfremde Träumerinnen und Träumer. Ich kann und will diesen verschiedenen Deutungen nicht nachgehen. Den wahren Liberalismus gibt es nicht.4 Der europäische Liberalismus stellt sich in einer historischen Perspektive nicht als einheitliches Phänomen dar; die Vielzahl von Liberalismen lassen sich kaum auf einen Nenner bringen, der über das Anliegen der individuellen Selbstbestimmung hinausgeht. Das Verständnis des «Liberalen» stand stets in Abhängigkeit von besonderen historischen Erfahrungen und Erwartungen in den verschiedenen europäischen Gesellschaften. In den USA gilt liberal als links; in Frankreich wird der Begriff von Linken wie Konservativen als Schimpfwort verwendet und mit dem Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts assoziiert.5 In der Schweiz deckt der Liberalismus ein Spektrum unterschiedlicher Deutungen ab, die sich von denen in Frankreich, England oder Deutschland unterscheiden.6 Als prägend erwies sich ein politisches Denken, das dem Republikanismus verpflichtet war und nie zu einer absoluten Trennung von Staat und Gesellschaft führte.7 Pate stand Rousseau mit seiner Vaterlandsliebe und mit einer Staatsbürgerschaft, die Freiheit, Gesetz und Tugend eng miteinander verband.8 Der gemeinsame Nenner aller Verständnisse des Liberalismus dürfte darin liegen, dass es diesem darum geht, Wege zu suchen, wie unterschiedliche Menschen in Freiheit gut zusammenleben und ihre Freiheit grösstmöglich verwirklichen können.

      Edmund Fawcett basiert seine Ideengeschichte des Liberalismus9 auf vier Säulen, auf denen dieser beruht: die Anerkennung der Konflikthaftigkeit der Gesellschaft, das Misstrauen gegenüber jeglicher Macht, der Glaube an den menschlichen Fortschritt und der Respekt gegenüber anderen Menschen, was auch immer sie denken und wer auch immer sie sein mögen. Mit diesen Wegmarken grenzt er den Liberalismus vom Konservatismus und vom Sozialismus sowie vom Autoritarismus, vom nationalen Populismus und von der islamistischen Theokratie ab.

      Restriktive und positive Auffassungen

      Ausgangspunkt des Diskurses über den Liberalismus bildet idealtypisch ein – wie ich es nenne – restriktives Verständnis, das sich auf «Klassiker» des Liberalismus wie Adam Smith, John Locke, Ludwig von Mises und Milton Friedman stützt. Voran steht eine negativ verstandene Freiheit, die gegenüber dem Staat abzuschirmen ist. Freiheit heisst in dieser Sicht vor allem Selbstbestimmung gegen Übergriffe der «Obrigkeit». Der Staat wird als Minimalstaat akzeptiert, der die Sicherheit zu garantieren hat – mit Polizei, Armee und Justiz, allenfalls ergänzt durch die Gewährleistung der Existenzgarantie. Spiegelbildlich schützen die in der Verfassung verankerten Freiheitsrechte das Individuum vor staatlichen Eingriffen im Sinn reiner Abwehrrechte. Im Vordergrund stehen oft die wirtschaftliche Freiheit mit Eigentumsgarantie und Marktwirtschaft sowie die pauschale Ablehnung von Regulierungen und Abgaben. Andere Liberale anerkennen auch «positive» Zugänge zum Liberalismus; sie lehnen sich eher an John Stuart Mill oder Ralf Dahrendorf an und befürworten eine begrenzte aktive Rolle des Verfassungsstaats zum Schutz von Freiheitsoptionen. Viele Anhängerinnen und Anhänger eines restriktiven Freiheitsverständnisses pflegen ihre Haltung als die «einzig wahre» zu halten; entsprechend bereitet es ihnen Mühe, andere, positive Zugänge zum Liberalismus als liberal zu akzeptieren. In einer Extremposition befinden sich Anarcholiberale, die jegliche staatliche Regulierung unbesehen als Übergriffe auf bürgerliche Freiheiten taxieren und «Exponenten des real gelebten Liberalismus», die auch staatliche Verantwortungen anerkennen, als «loyale Hofnarren etatistischer Totalität» bezeichnen.10 Dass Liberale oft nicht dasselbe unter Liberalismus verstehen,11 ist insofern nicht weiter verwunderlich, als der Liberalismus keine Ideologie, kein gefestigtes Lehrgebäude und keine Anleitung für die Lösung aller Probleme darstellt, sondern eine politische Philosophie, eine offene Denkrichtung, für mich vergleichbar mit einem Kompass, der das Ziel bestimmt, aber unterschiedliche Wege offenlässt. Ja, man kann sich fragen, ob der Begriff des Liberalismus nicht einen Widerspruch in sich selbst bildet, denn die liberale Ideenwelt lässt sich nicht in eine gefestigte Ideologie einbinden. Die Frage stellt sich erst recht, wenn «der» Liberalismus Ideologien wie dem Sozialismus gegenübergestellt und nach eindeutigen Abgrenzungsmerkmalen gesucht wird.

      Liberal oder radikal

      Seit