René Rhinow

Freiheit in der Demokratie


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des Liberalismus unterscheiden, welche das Verhältnis zur Demokratie betreffen.12 Der bewahrende Liberalismus trug elitäre Züge; er war bestrebt, die errungenen, dem Adel und der Kirche abgetrotzten Freiheiten zu stabilisieren, Wirtschaft und Technik zu entwickeln sowie Bildung zu fördern. Er wies ein gespaltenes Verhältnis zur Demokratie auf, denn er erblickte in den Rechten des Volkes eine Gefahr für die errungenen Freiheiten. Alexis de Tocqueville beispielsweise warnte vor den Unwägbarkeiten aufgepeitschter Stimmungen im Volk und vor einer Tyrannei der Mehrheit. Der kämpferische Liberalismus hingegen wollte die Revolution weiterführen und Freiheit mit Gleichheit verbinden. Er stand einer direkten Demokratie positiv gegenüber. In der Schweiz entsprach der frühe politische Liberalismus einem pragmatischen Konzept, geprägt von Theoretikern wie Ignaz Paul Vital Troxler, Benjamin Constant und Ludwig Snell, in der Praxis verbunden mit einem progressiven und integrationsfördernden Nation Building, das namentlich im Schulwesen, im Eisenbahnbau, in der Armee und der Post seinen Ausdruck fand.13 Auf der politischen Bühne standen Alfred Escher und Emil Welti eher für den elitären, Jakob Stämpfli14 und Daniel-Henri Druey für den kämpferischen Liberalismus. Diese unterschiedlichen Strömungen schufen die Voraussetzungen für die später von Isaiah Berlin eingeführte Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit. Sie spiegelten sich wider in den beiden liberalen Parteien des jungen Bundesstaats, den Liberaldemokraten und den Radikaldemokraten; sie bilden sich auch heute noch in veränderten Ausgestaltungen in der politischen Landschaft ab.

      Liberalismus in der Krise?

      Steckt der Liberalismus in der Krise? Über den Stand und die Zukunft des Liberalismus wird gegenwärtig weltweit gestritten.15 Je nach Standort der oder des Beobachtenden kann man diese Frage wohl bejahen oder verneinen. Wenn die Entwicklung liberaler Demokratien seit dem Zweiten Weltkrieg im Blickfeld steht, so fällt es schwer – trotz Rückschlägen in den letzten zehn Jahren – von einer Krise zu sprechen.16 Doch der Begriff des Liberalismus besitzt nicht mehr die Integrationskraft, die ihm zuweilen politisch zugeschrieben wird – eine Erkenntnis, die auch für die Schweiz ihre Geltung beanspruchen dürfte.

      Schon früh haben prominente liberale Denker wie John Dewey oder John Stuart Mill moniert, dass Liberale in Gefahr stehen, einmal erkämpfte und erreichte Positionen nicht mehr daraufhin zu untersuchen, ob sich die Bedingungen der Freiheitsausübung gewandelt haben. Sie stünden in Gefahr, zu Apologeten des Status quo zu werden.17

      Die liberale Demokratie sieht sich heute angesichts nationalistischer, fremdenfeindlicher und identitärer Strömungen, gespaltener Gesellschaften, bröckelnden Vertrauens in politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Eliten sowie religiösen Fanatismus schwerwiegenden Herausforderungen gegenüber, die aber das Fundament des Liberalismus nicht infrage stellen. Allerdings wird das Erstarken des Populismus und des Nationalismus der Desintegration des liberal-demokratischen Grundkonsenses zugeschrieben.18 Wenn man hingegen von einem restriktiven Verständnis der Freiheit ausgeht, so kann man in der beträchtlichen Zunahme von Staatsverantwortlichkeiten, die auch schon als Semisozialismus abqualifiziert worden ist, eine Krise erblicken.19 Ist der Zeitgeist der beginnenden 2020er-Jahre im Namen von Schutz und Sicherheit freiheitsfeindlich? Einiges spricht dafür, dass die vorherrschende Stimmung der Offenheit, dem Wettbewerb und dem Risiko misstraut und dass vor allem Schutz und Sicherheit angestrebt werden. Sicherheit ist aber heute angesichts des Klimawandels, der Mobilität und der Migration generell infrage gestellt und nicht durch einen Rückgriff auf bisherige Zustände zu gewinnen. Oder sind wir freiheitsverwöhnt und haben vergessen, als wie leidvoll sich der Kampf um die Freiheit erwiesen hat? Eigentlich müsste uns der tägliche Blick auf die schrecklichen Zustände in den kriegsversehrten oder von Not, Armut und Terror gepeinigten Gebieten der Welt den Wert unserer Freiheit vor Augen führen und auf das Nichtselbstverständliche der Freiheit hinweisen. In der Coronapandemie wuchs das Bedürfnis nach Fürsorge und Kontrolle durch das Gemeinwesen, was nach einer einseitigen liberalen Vorstellung der Freiheitsidee widersprechen soll. Doch wird bei dieser Sichtweise ausgeblendet, dass es bei der staatlichen «Fürsorge» auch um Freiheit geht, nämlich um Gesundheit und Leben der zu Schützenden. Ein weiterer Aspekt der Freiheit besteht offenbar im Paradox, dass die digitale Welt zwar den Individuen gleichermassen Zugänge ins Öffentliche verschafft, der Unmut und die Frustration über die fehlende Verwirklichung erhoffter Anliegen aber trotzdem wachsen.

      Es kommt offensichtlich darauf an, wie Liberalismus und Freiheit verstanden werden. Von linker Seite wird oft das Feindbild eines Neoliberalismus an die Wand gemalt, während in letzter Zeit die Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft eher von rechtsnationalen Bewegungen angefochten werden. Der Begriff der Freiheit wird auch von Agitatoren verwendet, deren Zugehörigkeit zu einer rechtsstaatlich-demokratischen Gesinnung (zumindest) fraglich erscheint. Freiheit wird reklamiert, um gegen legale Anordnungen aufzubegehren oder gegen Fremde Stimmung zu erzeugen, wie das etwa bei identitären Bewegungen oder sogenannten Querdenkerinnen und Querdenkern zu beobachten ist.

      Unterschiedliche liberale Zugänge in der politischen Praxis

      In der praktischen Politik beanspruchen mehrere Parteien, liberales Gedankengut zu vertreten – oft im Dunkeln lassend, was sie unter Freiheit verstehen. Trotzdem wird ein Funktionsverlust liberaler Parteien in Europa festgestellt, was eigentümlich mit der Verwirklichung liberaler Prinzipien in den Gesellschafts- und Rechtsordnungen koinzidiert.20 Innerhalb des liberalen Lagers ist die tradierte Fokussierung auf die Wirtschaftsordnung und die Staatsskepsis aufgebrochen worden – mit der Ausweitung der «Kampfzone» auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen, internationale Herausforderungen sowie auf kulturelle Dimensionen und Zukunftsfragen. Für die Schweiz mögen Immigration, ihr Verhältnis zu Europa und die Klimaveränderung als Beispiele dienen.

      Krisenbeschwörung ist im Grunde keine liberale Eigenschaft. Fruchtbarer erscheint mir, unterschiedliche liberale Zugänge anzuerkennen, wenn sie vom Anliegen getragen sind, dass alle Menschen in der Lage sind und nötigenfalls in die Lage versetzt werden, ein grösstmögliches Mass an Freiheit und Selbstbestimmung wahrzunehmen. Sollten Liberale aller Prägungen nicht aufgefordert sein, den offenen Diskurs darüber zu führen, was Freiheit in der Lebenswirklichkeit hic et nunc bedeutet, als dass sie versuchen, die Lufthoheit über andere Auffassungen des Liberalen zu erringen? Die anderen Liberalen als die «falschen» Liberalen zu brandmarken, ist kontraproduktiv.21 Der Liberalismus hat ein einziges übergeordnetes Ziel – diejenigen politischen Bedingungen zu sichern, die für die Ausübung der persönlichen und kommunikativen Freiheit aller notwendig sind.

      Ruf nach Erneuerung des Liberalismus

      Angesichts dieser Krisendiagnostik erstaunt es nicht, dass der Liberalismus zum Gegenstand fundierter und auch kontroverser Auseinandersetzungen wurde und verschiedene Stimmen zu dessen Erneuerung aufrufen.22 Als prominentes Beispiel sei auf die Vorschläge des englischen Philosophen Timothy Garton Ash verwiesen. Er fordert, dass sich der Liberalismus in Form eines Dreizacks neu erfinden muss. Erstens hat er die traditionellen liberalen Werte und Institutionen zu verteidigen; darunter versteht Garton Ash die freie Rede und die unabhängige Justiz, den Kampf gegen den Populismus und für eine pluralistische Gesellschaft, unabhängige Medien und eine wehrhafte Zivilgesellschaft. Zweitens muss sich der Liberalismus mit dem Versagen dessen auseinandersetzen, was in den letzten dreissig Jahren als Liberalismus durchging: einem eindimensional ökonomischen Liberalismus, im schlimmsten Fall einem «dogmatischen Marktfundamentalismus», der mit der Wirklichkeit so wenig zu tun hat wie die Dogmen des dialektischen Materialismus oder der päpstlichen Unfehlbarkeit. Dieses Versagen hat nach Garton Ash Millionen von Wählerinnen und Wählern zu den Populisten getrieben. Kampf gegen den Populismus heisst auch Kampf gegen seine Ursachen. Und drittens kommt ein erneuerter Liberalismus nicht darum herum, sich mit den globalen Herausforderungen unserer Zeit, wie Klimawandel, Pandemien und dem Aufstieg Chinas, auseinanderzusetzen – und zwar mit liberalen Mitteln. Er muss also zurück- und vorwärts-, nach innen und nach aussen schauen. So die überzeugende Analyse und die weiterführenden Postulate von Garton Ash.23