René Rhinow

Freiheit in der Demokratie


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Fähigkeit und Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns müssen gelebt und erkämpft werden. Dem demokratischen Gemeinwesen obliegt es, die Chancen autonomer Lebensführung aller zu fördern und zu garantieren.

      Schliesslich: Menschen verwirklichen sich nicht alleine, sondern in einem bestimmten Umfeld und in unterschiedlichen Beziehungen. Dem «Sich-umeinander-Kümmern» kommt ein grosser Stellenwert zu. Empathie und Mitgefühl stehen einer isolierten Selbsterfüllung entgegen, was näher darzulegen sein wird. Es kommt im Leben, im Zusammenleben und bei der Gestaltung einer gemeinsamen Lebenswelt auch auf Vertrauen an, auf wechselseitige Anerkennung und Wertschätzung sowie auf das Gefühl und das Wissen, aufeinander angewiesen, voneinander abhängig und füreinander verantwortlich zu sein.48

      Freiheitsinteressen

      Die Interessen, individuelle Freiheit und Selbstbestimmung wahrnehmen zu können, reichen von der «Trivialität der Lebenszwecke» (Hermann Lübbe) bis hin zum «anarchischen Grundimpuls» (Ralf Dahrendorf in Anlehnung an Isaiah Berlin). Aufgrund geschichtlicher Erfahrung und angesichts autoritärer politischer Systeme der Gegenwart kann ein grundlegendes Freiheitsinteresse im Schutz vor staatlichem Machtmissbrauch und gegenüber Formen der Willkür erblickt werden. Das Tor der Freiheitsinteressen steht weit offen, doch wird mit der Anerkennung einer Vielfalt von Freiheitsinteressen noch nichts ausgesagt über die Gewichtung der Freiheitsinteressen, über deren Qualität. In den Freiheitsrechten kommen elementare Freiheitsanliegen und Schutzbedürfnisse zum Ausdruck – es geht um eine Unverletzlichkeit von Lebensbereichen, die gegen Machtausübung, gegen staatliche Eingriffe und andere Mächte und Einwirkungen in autonome Handlungsfelder abschirmen soll.49 Es darf heute als unbestritten gelten, dass den Freiheitsrechten der modernen rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungen eine konstitutive, den demokratischen Staat legitimierende Tragweite zukommt. Sie wirken nicht nur staatsbegrenzend; aus ihnen kann auch eine Verpflichtung des Staates fliessen, positiv zur Verwirklichung der Grundrechte beizutragen. Gemäss Art. 35 Abs. 1 der Bundesverfassung müssen die Grundrechte in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen. Darauf ist später näher einzugehen. Den Grundrechten kommt eine legitimierende Funktion für die Verfassung einer rechtsstaatlichen Demokratie und für die ganze Rechtsordnung zu.50

      Freiheitsrechte können zum Schutz der Grundrechte Anderer oder durch ein das Freiheitsinteresse überwiegendes öffentliches Interesse beschränkt werden.51 Die Kategorie des öffentlichen Interesses ist schwer zu definieren, weil diese nicht nur von der Bundesverfassung bestimmt wird und keinen Numerus clausus kennt.52 Einziges Kriterium bildet die Differenz zu einem rein privaten Interesse. Doch Anliegen von Privaten und solche der Allgemeinheit können sich decken. In den öffentlichen Interessen verbergen sich oft auch private Interessen.53 Bei diesen muss es sich allerdings um Interessen einer nicht abschliessend fassbaren Gruppe handeln, wie etwa von einer unbestimmten Vielzahl von Individuen, Verbänden oder Unternehmen.54 So liegt die Wahrung der individuellen Autonomie auch im öffentlichen Interesse, denn die gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung ist auf schöpferische Individuen und ihre Kooperationen angewiesen.

      Willensfreiheit?

      Selbstbestimmung setzt Willensfreiheit voraus. Aber gibt es überhaupt eine Willensfreiheit? Wie frei ist unser Wille wirklich? Die neuere Hirnforschung kommt zu unterschiedlichen Folgerungen. Die Thematik ist auch für den Liberalismus brisant, denn Verantwortung und Schuldfähigkeit hängen von einem freien Willen ab. Genügt unser subjektives Freiheitsbewusstsein, um Verantwortung zu begründen?55

      Prominente Hirnforscher und Kognitionspsychologen bestreiten, dass es eine innere Willensfreiheit geben kann, etwa einen «freien» oder einen kausalbestimmten Handlungswillen. Freiheit sei eine Täuschung, ja ein Aberglaube. Die mentalen Zustände des Menschen, insbesondere seine Willensfreiheit, seien durch neuronale Zustände vollständig festgelegt. Diese – insbesondere von Wolf Singer, Richard Thaler und Daniel Kahneman vertretene – These eines Neurodeterminismus ist oft widerlegt worden.56 Doch können Ergebnisse der Hirnforschung überhaupt eine Definitionshoheit über Willensfreiheit, Schuld und Verantwortung erlangen? Nach dem Schweizer Philosophen Peter Bieri ist jeder freie Wille durch unser Denken und Urteilen «bedingt»; er folgt unserem Urteil und Entschluss. Der freie Wille sei eine Freiheit durch Nachdenken.57 Allerdings ist die menschliche Wahrnehmung fehleranfällig und vorurteilsbeladen. Offenbar nehmen wir zuerst wahr, was uns emotional entgegenkommt, wir orientieren uns zudem an bereits vorhandenen Vorurteilen und gemachten Erfahrungen – dies als Folge einer aufwendigen Verarbeitung der vielen auf uns einstürzenden Informationen. Und wir vertrauen jenen, die nach eigenem Empfinden eine höhere Wahrnehmungskompetenz besitzen. Andere Sichtweisen und Einsichten haben es demzufolge schwer.58 Die Verhaltensökonomik macht auch die Schwächen des Modells der rationalen Entscheidung deutlich. Menschen verhalten sich oft nicht rational, sondern ziehen zum Beispiel Standardverhalten vor oder ahmen die Aktivitäten Anderer in ihrer Umgebung nach.59 Das menschliche Handlungswissen ist begrenzt und bruchstückhaft, es unterliegt dem Paradoxon, dass mehr Wissen oft gepaart ist mit mehr Unwissen. Nassim Nicholas Taleb prägte den Begriff der «narrativen Verzerrung», mit dem er zum Ausdruck bringen will, wie falsche Geschichten über die Vergangenheit unsere Weltanschauungen und Zukunftserwartungen formen.60

      Informationen werden für wahr gehalten, wenn sie häufig gehört oder gelesen werden. Falschinformationen bleiben umso mehr haften, als sie hohe emotionale Komponenten aufweisen und mit entsprechenden Schlagzeilen bewusst auf Erregung oder Empörung abzielen. Entscheidungen erfolgen unter begrenzter Rationalität. Routine, Erfahrungen in ähnlichen Situationen und vor allem Gefühle wie Gier, Angst, Lust oder Panik beeinflussen den Verstand, sodass sich dieser nicht von den Emotionen abkoppeln lässt. Es gibt offenbar keine Entscheidungen ohne Emotionen. Der Trumpismus darf als Beleg für diese Thesen angeführt werden.61 Der Neurobiologe Joachim Bauer plädiert für eine «Wiederentdeckung» des freien Willens zur «Selbststeuerung», wie er es nennt. Darunter versteht er eine «ganzheitliche Selbstfürsorge» als Kunst, zwei menschliche Eigenheiten miteinander zu verbinden: Affekte oder Impulse einerseits und die notwendigen Selbstkontrollen andererseits. Die Behauptung, die Existenz eines freien Willens sei experimentell widerlegt, erachtet er als unhaltbar. Dank den evolutionär entstandenen Konstruktionsmerkmalen des Gehirns, insbesondere dank dem präfrontalen Cortex, sind gesunde Menschen in der Lage, in einer gegebenen Situation Handlungsoptionen gegeneinander abzuwägen und sich zu entscheiden, auch wenn alle sozialen Verständigungsprozesse unausweichlich mit Beeinflussungen verbunden sind. Das Ziel muss es sein, diese mithilfe der Vernunft aufzudecken, zu erkennen und sich ihnen zu stellen. Ausserhalb dieser beeinflussten Verständigungsprozesse gibt es keine Wahrheit, denn diese ist immer nur das, auf was wir uns gemeinsam verständigen können.62 Der Empathie kommt eine grosse Bedeutung für das Überleben von Menschheit und Natur zu. Sie ist der Kern unseres Wesens und einer Kultur der komplexen Gemeinschaft.63 Zudem: Wer die Freiheit des Willens bestreitet, nimmt selbst diese Freiheit in Anspruch, was in der Philosophie einen «pragmatischen Widerspruch» genannt wird. Ihrer Skepsis zum Trotz führen die Neurodeterministen ein Leben in Freiheit und Verantwortung.64

      Gelebte Freiheit

      Freiheit muss nicht nur garantiert, sondern auch gelebt, geübt und praktiziert werden, wie Friedrich Schiller in seinem Schauspiel «Wilhelm Tell» anschaulich vor Augen führt.65 Die schweizerische Bundesverfassung proklamiert – in Anlehnung an eine Formulierung des Schriftstellers Adolf Muschg – in ihrer Präambel, «dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht». Die Verfassung geht davon aus, dass Freiheit nur insoweit sinnvoll ist, als eine tatsächliche Freiheit offensteht und praktiziert wird. Erfüllte Freiheit ist immer auch tätige Freiheit, nicht nur Chance des Handelns. Apathie kann Freiheit zerstören. Freiheit ist laut Carl Friedrich von Weizsäcker «ein Gut, das durch Gebrauch wächst, durch Nichtgebrauch dahinschwindet».

      Menschenwürde als Basis der