René Rhinow

Freiheit in der Demokratie


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Bedürfnisse anmelden, voneinander zu unterscheiden und miteinander in Einklang zu bringen. Mit dieser Art von «body talk» lässt sich ein Zustand erreichen, in welchem Geist und Körper zu einem massvollen Ausgleich gelangen. Vorurteile sind oft die Folge der einseitigen Gewichtung einer Stimme im Körper, sei es Verstand (Kopf), Emotionen (Herz), Affekte (Bauch) oder ein Machbarkeitswahn (Hand). Das Ideal eines ganzheitlichen Menschen vereint das auf Nutzen und Maximierung ausgerichtete Verfügungswissen mit dem Orientierungswissen, das mit den sozialen Bedingungen des menschlichen Lebens vertraut macht und alle vier erwähnten Sinne des Menschen zum Tragen bringt.91

      Der britische Publizist David Goodhart widmet sich in einer Gesellschaftsanalyse mit dem Titel «Kopf, Herz und Hand» dem Verhältnis von Kopfarbeit, Handwerk und sozialen Berufen. Er kommt zum Schluss, dass in den wohlhabenden Nationen ein sehr begrenztes Spektrum von Fähigkeiten – die kognitiv-analytischen Kopfkompetenzen – zu stark honoriert wird, und zwar finanziell wie gesellschaftlich. Die Definition eines gelungenen Lebens ist zu eng gefasst, und der Weg dorthin mit dem Studium zu schmal gestaltet worden. Im Namen von Effizienz, Gerechtigkeit und Fortschritt wurden Formen des Wettbewerbs eingeführt, in denen die Besten erfolgreich sind, «während sich der grosse Rest als Versager fühlen darf».92 Der Dreiklang von Kopf, Herz und Hand erinnert an den Schweizer Pädagogen Pestalozzi, der schon vor 200 Jahren auf die essenzielle Verbindung dieser menschlichen Sinnesorgane hingewiesen hat.

      Die Anderen sind wir Anderen

      Von Rosa Luxemburg stammt das Diktum: «Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden.» Sie postulierte damit einen offenen Umgang mit Menschen anderer Meinung. Wenn der Kern des Liberalismus in der Anerkennung von Lebenschancen und Gestaltungsmöglichkeiten aller besteht, so muss die subjektiv-individuelle Dimension der Freiheit auch Anderen zustehen. Nach Kant muss die Freiheit zusammen mit jeder anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz bestehen können. Jörg Paul Müller hat anschaulich auf die Doppelnatur der Würde aufmerksam gemacht: Der Mensch ist immer Subjekt und Objekt der Würde.93 Würde kommt auch Anderen zu.

      Doch wer sind diese Anderen?94 Bedeutungsvoll scheint mir die Ansicht, dass das Andere Voraussetzung ist für das Selbst, für die Entwicklung einer eigenen Identität.95 In der Abgrenzung zum Anderen weiss ich, wer ich bin. Der Andere ist der, der anders ist als ich beziehungsweise ist die Andere die, die anders ist als ich. Er oder sie begegnet uns tagtäglich, kann Freundin oder Feind96 sein, uns anziehen oder abstossen. Dies kann zu Integration oder Ausgrenzung führen. Identität trägt auch Andersheit in sich; ich bin immer auch ein Anderer. Dies kommt in Arthur Rimbauds berühmtem Satz in einem Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871 zum Ausdruck: «Je est un autre.» Dass das Andere ein Teil der Identität bildet, erleichtert den offenen Zugang zum Anderen, zu seiner Anerkennung.97 Mit dieser Erkenntnis kann sich auch das Verhältnis zu Anderen verändern; dies erleichtert das Verständnis für Mitmenschen mitsamt ihren Freiheitsbedürfnissen.

      Max Frischs Werke legen Zeugnis ab von der Suche nach dem Ich, nach einer Identität, die von Fremdbildern und Selbstbildern geprägt wird. Nach Emmanuel Lévinas’ Kernthese erlangt das menschliche Ich erst dann seine Würde, wenn es Verantwortung für den anderen Menschen übernimmt. Dazu werde es berufen von einem Gott, der sich «im Gesicht des anderen Menschen» offenbare, im «Antlitz» jener oder jenes Anderen, der einzigartig ist und dessen beziehungsweise deren Sterblichkeit die Zuwendung von einer und einem jeden erfordere.98

      In unserem Zusammenhang sind unter den Anderen Menschen zu verstehen, welche «neben mir» ihre Freiheitsanliegen verfolgen. Der selbstverständlich klingende Satz, dass Würde allen zusteht, bekommt in doppelter Hinsicht besondere Bedeutung. Einmal geht es um die Anerkennung von Freiheitsbedürfnissen Anderer und um allfällige Freiheitskollisionen, um die Einsicht in die Schranken der Freiheit aufgrund der Freiheit Anderer. Diese bleiben oft im Hintergrund, bleiben als Freiheitspositionen unerkannt oder werden zurückgestuft, vor allem wenn sie – etwa von Kranken – nicht geltend gemacht werden können und Schutzansprüche gegenüber dem Gemeinwesen auslösen. Darauf ist hinten unter dem Blickwinkel der Freiheit der Konkordanz zurückzukommen.

      Das Andere kann auch «andersartig» bedeuten, wenn die Anderen in einer bestimmten Richtung vom Gewohnten, Gewöhnlichen oder Herkömmlichen abweichen. Zu denken ist etwa an Fremde, an Angehörige von Minderheiten, Ausländerinnen und Ausländer sowie an die erwähnten Schwächeren oder Randständigen, aktuell etwa auch an Menschen auf der Flucht und auf der Suche nach Asyl.99 Auch hier kann es problematisch werden, nämlich wenn Autonomieansprüche Anderer nicht die gleiche Aufmerksamkeit oder Berücksichtigung finden, es also zu einer unterschiedlichen Transparenz und Gewichtung von Freiheitsinteressen kommt.

      Menschenrechte werden von Anhängerinnen und Anhängern eines restriktiven Liberalismusverständnisses vor allem als Abwehrrechte verstanden; sie schützen gegen Eingriffe des Staates. Dieser ist zu deren Achtung verpflichtet. Doch sind auch die Freiheitsanliegen von Menschen ins Blickfeld zu rücken, deren Freiheit nicht durch staatliche Regulierung beeinträchtigt wird. In Art. 35 Abs. 1 der schweizerischen Bundesverfassung wird die umfassende Geltung der Grundrechte ausdrücklich verankert: «Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.» Damit anerkennt die Verfassung eine sogenannte konstitutive Wirkung der Grundrechte. Die in Lehre und Rechtsprechung anerkannten Schutz- und Verwirklichungspflichten des Staates verfolgen den Zweck, Freiheiten Anderer (auch) abzuschirmen gegenüber Gefährdungen durch Dritte oder durch andere Ereignisse, wie etwa Naturgefahren oder gesundheitliche Beeinträchtigungen. Unterschiedliche Freiheitsinteressen können konfligieren; sie rufen nach einem Prozess der wechselseitigen Zuordnung. Auf die liberale Herausforderung, wie Freiheitsinteressen gegeneinander abzuwägen sind und welche Rolle dem Gemeinwesen dabei zukommt, wird später einzugehen sein. Hier geht es mir darum, die Freiheitsbedürfnisse von Anderen und deren Anerkennung ins Blickfeld des Liberalismus zu rücken.

      Liberale fragen, wie es um die Würde von Schutzbedürftigen und von Schwächeren in ihrer konkreten Situation steht. Freiheit gestattet nicht, Anderen Nachteile zuzufügen, sie zu schädigen oder an Leib und Leben zu gefährden. Denn dadurch wird deren Freiheit beeinträchtigt. Sie gestattet auch nicht, der Natur und der Mitwelt auf zerstörerische Weise Schaden zuzufügen. Diese Doppelfunktion der Freiheit verbleibt oft im Dunkeln, wenn sich Private gegenüber staatlichen Eingriffen, die durch einen Ausgleich von unterschiedlichen Freiheitsinteressen legitimiert werden, auf ihre Freiheit berufen. Ist es nicht bedenklich, wie oft im politischen Alltag die Freiheitsanliegen von Bedürftigen vonseiten der Liberalen ausgeblendet oder vernachlässigt werden? Wenn Freiheit nur als Freiheit derjenigen verstanden wird, die sie anrufen, weil es um «ihre» zu schützende Freiheit geht? Die Freiheit Anderer ist ebenso zu respektieren, gerade wenn diese nicht mit lauter Stimme reklamiert werden kann und nicht primär durch staatliche Eingriffe bedroht erscheint. Führt die Fokussierung auf den Homo oeconomicus, auf die «Tüchtigen», die ihre Freiheit einfordern, nicht zu einer «liberalen Blindheit» Schwächeren gegenüber? Der Appell an die Selbstverantwortung wirkt hohl, wenn diese mangels persönlicher Ausstattung oder Ressourcen gar nicht wahrgenommen werden kann. Eine der grossen liberalen Herausforderungen besteht darin, die Sorge um eine menschenwürdige Freiheit aller ernst zu nehmen und nicht aus Angst vor Egalisierungsbestrebungen die Augen davor zu verschliessen.

      Das Postulat «Keine Freiheit den Feinden der Freiheit» erweist sich in dieser apodiktischen Form als menschenunwürdig. Freiheit gehört allen. Freiheit erkennt aber ihre Grenzen an der Freiheit Anderer. Auf rechtsstaatlich-demokratischem Boden verdienen alle Menschen Respekt und Schutz ihrer Meinungsfreiheit. Dazu gehört auch die faire Auseinandersetzung mit Ideen und Argumenten, welche die geltende Ordnung infrage stellen. Wird hingegen die Freiheit Anderer gefährdet, wird der Boden einer rechtsstaatlichen Auseinandersetzung verlassen oder werden gar Menschenrechte Anderer verletzt, sind Freiheitseinschränkungen gerechtfertigt oder gar geboten. Eine liberale Gesellschaft muss es ertragen, mit ungewohntem, «friedlich» vorgetragenem Gedankengut umzugehen, auch wenn es absonderlich oder verstörend wirkt. Liberale setzen sich für einen Dialog mit diesen «Feinden» der Freiheit ein, um das Verständnis für die Freiheit Aller zu fördern, auch wenn sich dieses Unterfangen als schwierig, langwierig oder gar wenig erfolgversprechend