René Rhinow

Freiheit in der Demokratie


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die allen gleichermassen zukommt. Das ist die Ausgangsthese meines Freiheitsverständnisses. Nach Immanuel Kant ist Freiheit das «einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht». «Allein der Mensch als Person […] ist als Zweck an sich selbst zu schützen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt.»66 Die realen Möglichkeiten solcher Freiheit hängen nach Kant von der Überwindung gegebener Formen der Abhängigkeit und Fremdbestimmung ab, auch wenn diese eine gewisse Sicherheit zu bieten scheinen. Deshalb fordert Kant von jedem Menschen den Mut, sich seines eigenen Verstands zu bedienen.67 Nicht der Begriff der Menschenwürde ist entscheidend, sondern die Autonomie jedes Menschen, die sich in der rechtlichen und politischen Ordnung verwirklichen will. Sie stellt nicht etwas per se Feststehendes dar, sondern eine «Qualität der Zwischenmenschlichkeit», die immer wieder neu zu konkretisieren ist.68 Die Forderung nach Achtung und Schutz der Menschenwürde lässt sich nach Werner Maihofer «als Freiheitsraum der Selbstbestimmung zur Erhaltung und Entfaltung menschlicher Persönlichkeit verstehen, der für Liberale unantastbar bleiben muss gegenüber jeder Fremdbestimmung und allem Anpassungsdruck nicht nur eines übermächtigen Staates, sondern auch einer übermächtigen Gesellschaft».69

      Es war der israelische Philosoph Avishai Margalit, der 1998 ein Plädoyer für eine Politik des Anstands («Decency») veröffentlicht hat. In einer anständigen Gesellschaft wird niemand von staatlichen Institutionen gedemütigt. Denn allen Menschen kommt Würde zu – als Ausdruck der Achtung, die Menschen aufgrund ihres Menschseins sich selbst entgegenbringen.70

      Es darf heute als unbestritten gelten, dass die allen Menschen zukommende Würde zu achten und zu schützen ist. Darin sehen moderne Verfassungen – so auch die schweizerische Bundesverfassung in Artikel 7 – das Fundament aller Menschenrechte. Menschenwürde ist sowohl ein Kerngehalt aller Grundrechte als auch ein essenzielles Kriterium für ihre Konkretisierung. Als Grundnorm gerechter politischer Ordnung bildet sie die grundlegende Legitimationsbasis der rechtsstaatlichen Demokratie.71

      Freilich erscheint es nicht einfach, die Menschenwürde inhaltlich zu definieren; es fällt leichter, sie negativ zu bestimmen, im Sinn eines Verbots entwürdigender Behandlungen wie etwa Sklaverei, Folter, Verletzung der persönlichen Integrität oder Erniedrigungen aller Art. Es geht um das nicht fassbare Eigentliche des Menschseins. Menschenwürde nährt sich aus vielen kulturellen Quellen und muss auch für Zukunftsmöglichkeiten und zukünftige Gefährdungen relevant sein.72 Für unseren liberalen Ansatz von besonderer Bedeutung erscheint die soziale Dimension der Menschenwürde, die von Jörg Paul Müller hervorgehobene «Qualität der Zwischenmenschlichkeit», die im Gedanken der Menschenwürde zum Ausdruck gelangt, auch beispielsweise gegenüber Fremden, Schwächeren oder Kranken. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO verlangt in Artikel 22, dass jeder, gestützt auf seine Würde, Anspruch darauf besitzt, in den Genuss der für seine Würde und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.

      Auf die Versuche verschiedener Autorinnen und Autoren, einzelne Aspekte und Ausprägungen der Menschenwürde näher zu umschreiben, ist hier nicht einzugehen.73 Nach Jürgen Habermas stellt die Idee der Menschenwürde das begriffliche Scharnier dar, welches die Moral der gleichen Achtung für jeden Menschen mit dem positiven Recht und der demokratischen Rechtsetzung zusammenfügt.74 Peter Bieri hat eindrücklich die Vielfalt menschlicher Würde ausgebreitet, ohne der Gefahr eines Definitionsversuchs derjenigen zu erliegen.75 Er stützt sich auf drei Dimensionen der Würde ab: Wie behandeln mich die anderen? Wie stehe ich zu den anderen? Wie stehe ich zu mir selbst? Doch scheint Bieri die Würde nicht als Gut des Menschen zu verstehen, das ihm von niemandem und unter keinen Umständen genommen werden kann, sondern als eine bestimmte Art der Lebensführung, die auch misslingen kann.

      Freiheit wurzelt in dieser, jedem Menschen unabhängig von seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner sozialen Stellung zukommenden, unverlierbaren Würde. Würde ist zudem nicht allein ein ethisch-philosophisch begründetes Menschenrecht, sondern kann auch als innerer Kompass verstanden werden, der uns in die Lage versetzt, uns in der Vielfalt der äusseren Anforderungen und Zwänge in der hochkomplexen Welt nicht zu verlieren. Umso wichtiger ist es, dass wir lernen, die Wahrnehmung der eigenen Würde zu stärken.76

      Die amerikanische Rechtsphilosophin Martha Nussbaum postuliert schliesslich, dass Menschen nicht nur ihre Würde haben, sondern dass ihnen reelle Möglichkeiten offenstehen müssen, ein lebenswertes Leben zu führen, das ihrer Würde entspricht. Damit spricht sie die Kernaufgabe des Liberalismus an, auf die später näher einzugehen sein wird.77

      Die ausgewählten Stimmen zur Menschenwürde belegen, dass deren Grenzen in der Praxis immer wieder umstritten und auszuhandeln sind, etwa in der modernen Biomedizin oder in den digitalen Einflussnahmen und Kontrollen. Was Menschenwürde im konkreten Fall bedeutet, was sie gebietet oder verbietet, ist in den Grenzbereichen der demokratischen Ausmarchung oder der justiziellen Entscheidung anheimgestellt.78 Ein bedeutungsvolles Beispiel für die Verwirklichung der Menschenwürde kann in der Rotkreuzbewegung erblickt werden. Sie setzt sich dafür ein, menschliches Leiden überall und jederzeit zu verhüten und zu lindern, Leben und Gesundheit zu schützen und der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen.

      In der Menschenwürde fundierte Freiheit lässt sich nicht reduzieren auf eine Garantie des Existenzminimums, dass alle Liberalen jedem Menschen zubilligen. Das blosse «Dach über dem Kopf» und eine überlebensnotwendige Nahrungsversorgung allein gewährleisten in aller Regel und auf Dauer keine menschenwürdige Selbstbestimmung und autonomen Entfaltungsmöglichkeiten. Sie bedeutet aber auch nicht nivellierende Wohlstandsangleichung an eine gesellschaftliche Mehrheit. Die in Artikel 41 der Bundesverfassung formulierten Sozialziele nehmen wesentliche Voraussetzungen einer würdigen Freiheitsentfaltung auf, namentlich in den Bereichen der sozialen Sicherheit, Gesundheitsversorgung, Arbeit, Wohnung, Bildung und Weiterbildung.

      Die Anerkennung und Anrufung der Menschenwürde darf nicht zur Glaubensangelegenheit werden. Die Ausmarchung über den Bedeutungsgehalt der Menschenwürde im politischen Prozess soll nicht zu deren Sakralisierung führen.79 Glaubenskämpfe widerstreiten einer vernunftgeleiteten und auf Dialog basierenden Auseinandersetzung. Einem Rekurs auf die Menschenwürde kann auch Appellcharakter zukommen. Dieser soll die menschliche Dimension der Freiheit in lebensweltlichen Umständen hervorheben, zur Reflexion führen, was Anerkennung von Freiheit in Würde bedeuten kann und muss. Die Vorstellung einer menschenwürdigen Freiheit nimmt auch Ideen auf, wie sie Vertreter der sogenannten ökonomischen Sicht der Menschenwürde sowie auch Werner Maihofer in Deutschland betont haben: die Forderung nach einem menschenwürdigen Dasein als ökonomische Würdebedingung. Diese verlangt die Verwirklichung materieller Voraussetzungen der Menschenwürde.80

      Was menschenwürdige Freiheit in der lebensweltlichen Praxis bedeuten kann, zeigt illustrativ das abschreckende Beispiel der USA mit ihrer kulturell gespaltenen Gesellschaft. Grossen Bevölkerungsschichten fehlt eine elementare Ausstattung für ein menschenwürdiges Leben, wie etwa ausreichende Bildungseinrichtungen und eine Krankenversicherung. Hinzu kommt das Gefühl der Ausgrenzung und der Erniedrigung durch eine finanzkräftige Elite. Wäre es nicht primäre Aufgabe von Liberalen, sich zu fragen, welchen Beitrag sie für die Überwindung von Gräben zwischen Gesellschaftsschichten und für die Auflösung sozialer Segregation zu leisten vermögen? Müssen sich nicht Liberale an vorderster Front für die Anerkennung der Würde aller Menschen einsetzen?

      Die Freiheit jedes Menschen

      Die Menschenwürde bestimmt das Menschenbild, das dem Liberalismus zugrunde liegt und zugrunde liegen muss. Die Freiheit als Kristallisationspunkt des Liberalismus ist die Freiheit jedes Menschen. In normativer Hinsicht sind alle Menschen vernunftfähig, zur Autonomie bestimmt und darum mit Würde und gleichen Rechten ausgestattet: «All men are created equal» steht in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Darauf basieren die Menschenrechtserklärungen und die Vorstellungen der modernen Demokratie. Doch klaffen Idee und Realität auseinander. Ein menschenwürdiger Liberalismus