René Rhinow

Freiheit in der Demokratie


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Liberale haben oft nur den tätigen und vernunftgeleiteten Menschen vor Augen, der in der Lage ist, sein Leben zu gestalten und Selbstverantwortung wahrzunehmen – den Homo oeconomicus oder den Homo Faber. Auch unser Rechtssystem wird von einem optimistischen Menschenbild bestimmt.81

      Doch sind Menschen durch dreifache Begrenzungen gekennzeichnet: einmal durch mangelnde Kognition und fehlende Willensstärke, durch Eigennützigkeit und durch ihre Eigenschaft, inkonsistente Entscheidungen zu treffen, auch ohne Orientierung an langfristigen Folgen. Menschen sind Patchworkwesen; sie verbinden Gefühl und Verstand, Instinkt und Einsicht, Egoismus und Altruismus, Über-Ich und Unbewusstes. Menschliches Verhalten ist nicht nur auf Maximierung des eigenen Nutzens ausgerichtet, sondern ebenso auf Vertrauen, Fairness und Kooperation, wie etwa der Schweizer Ökonom Ernst Fehr nachgewiesen hat. Im Menschen sind verschiedene Motivationen veranlagt, wie etwa Ehrgeiz, das Bedürfnis, einer Gruppe anzugehören, Angst oder der Kampf um einen Status. Die menschliche Realität liegt in unterschiedlichen Abstufungen zwischen diesen Polen. Entsprechend ist ein realistisches Menschenbild gefordert.82

      Der Liberalismus hat diese menschliche Komplexität zugrunde zu legen, wenn er für Freiheit und Verantwortung plädiert, und sich auch um die Freiheit der Schwachen, Bedürftigen und Scheiternden83 sowie der Menschen mit einer Veranlagung zur Unvernunft zu kümmern. Welches ist ihr Platz in der liberalen Ideenwelt? Wenn im Fokus des Liberalismus Würde, Freiheit und Lebenschancen aller Menschen stehen – unabhängig von ihrem Lebensentwurf und Lebensschicksal, ihrem rechtlichen oder sozialen Status –, so haben sich gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen an dieser Komplexität des Menschlichen auszurichten.

      Am Beispiel des Bettelns lässt sich die Tragweite der Freiheit von Schwächeren exemplifizieren. Das Recht auf Betteln ist Teil des verfassungsmässigen Rechts auf persönliche Freiheit gemäss Art. 10 Abs. 2 BV und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Dazu gehört das Recht, andere um Hilfe zu bitten. Ein absolutes und unbeschränktes Bettelverbot verletzt die Bundesverfassung und die EMRK, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat.84 Bettelverbote unterliegen einer Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Grundrechtsbeschränkung erfüllt sind, etwa weil die öffentliche Ordnung nachhaltig gestört wird. Diese bedingt eine Abwägung der in concreto relevanten Interessen, etwa der betroffenen Personen und ihrer Verletzlichkeit, ihrer allfälligen Zugehörigkeit zu einem kriminellen Netzwerk sowie der Art und dem Zweck des Bettelns. Nicht ausreichend für ein generelles Verbot ist der Umstand, dass das Betteln auf Passantinnen und Passanten störend wirkt. Freiheit gehört allen, auch den Randständigen, den Anderen.

      Von der Identität des Menschen

      Was macht den Menschen aus, welches ist seine Identität?85 Bei der Identität handelt es sich um einen schillernden und mehrdeutigen Begriff. Die Identität ist angesichts der Pluralisierung erodiert.86 Im Zusammenhang mit der menschlichen Autonomie steht die Selbstdefinition des Individuums im Vordergrund, sein «Narrativ» über die ihn kennzeichnenden Eigenschaften. Daneben wird der Begriff auch für die Fremdbeschreibung einer anderen Person sowie für eine Gruppenzugehörigkeit verwendet. Oft bleibt unklar, welche Bedeutung in der praktischen Begriffsverwendung gemeint ist. Vor allem Selbst- und Fremdbeschreibung können ineinanderfliessen. Eine liberale Sichtweise stellt sich gegen die Vorstellung eines «Besitzes» der Identität, gegen jegliche Beschwörung tradierter Rollenbilder, die oft eine Vergangenheit festhalten wollen, die es gar nie gegeben hat, und die vor allem angerufen wird, um sich gegen Veränderungen zur Wehr zu setzen.87 Liberale sind auch skeptisch gegenüber Gruppenidentitäten, die ebenfalls oft konstruierte Gemeinsamkeiten stärker gewichten als die personale Autonomie, was später im Abschnitt über die Identitätspolitik (siehe S. 145) näher zu beleuchten ist.

      Der indisch-amerikanische Philosoph, Nobelpreisträger im Jahr 1988 und Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2020, Amartya Sen, propagiert eine Unteilbarkeit des Menschen als Basis des Liberalismus.88 Sen beschäftigt sich mit den Gefahren, die mit der Festschreibung von Identitäten und einem reduktionistischen Konzept von Identität einhergehen. Er kritisiert die Vorstellung, Individuen seien vor allem über das Merkmal ihrer Gruppenzugehörigkeit definiert, und die Identitäten von Individuen und Kollektiven könnten über die Zugehörigkeit zu einer einzigen Kultur bestimmt werden. Im Gegenteil gehören Individuen einer Vielzahl von Kulturen an.

      Menschen haben nach Sen nicht eine feste Identität; Identität ist im Plural zu denken und im steten Wandel begriffen. Kein Mensch ist nur Muslim oder Hindu, er ist auch Frau oder Mann, hat Kinder oder nicht, politische Überzeugungen, eine eigene Biografie – oder auch eine bestimmte Schuhgrösse, die ihn mit anderen Menschen verbindet oder nicht. Er sieht in diesem Missverständnis einer festen Identität ein Hauptübel der Gegenwart und plädiert für die Freiheit des Individuums, die eigene Gruppenzugehörigkeit zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern.

      Nach Jörg Paul Müller geht auch im öffentlichen Wirken als Politikerin, Beamter oder Magistratin die Identität eines Menschen mit seinen religiösen Wurzeln, seinen weltanschaulichen Zweifeln oder mit seiner Angst vor allem Autoritär-Herrschaftlichen, aber auch mit seinen physischen und psychischen Bedürfnissen nicht einfach verloren.89

      Francis Fukuyama unterscheidet zwischen einem wahren inneren Selbst und einer Aussenwelt mit gesellschaftlichen Regeln und Normen, die den Wert oder die Würde des inneren Selbst nicht adäquat anerkennt. Grundlage der sich im Lauf der Zeit wandelnden menschlichen Würde ist das innere Selbst, das nach Anerkennung drängt. Nach Fukuyama manifestieren sich in der Seele drei Teile, die sich im modernen Identitätsbegriff vereinigen: «Thymos» als erstes Phänomen sehnt sich nach Anerkennung der eigenen Würde. In der «Isothymia» als zweitem Teil tritt das Bedürfnis auf, anderen gegenüber als gleichwertig zu gelten. «Megalothymos» schliesslich stellt den Wunsch dar, von anderen als überlegen betrachtet zu werden. Selbstachtung geht aus der Achtung durch Andere hervor. Viele Konflikte der Welt sind auf das Verlangen nach Anerkennung der eigenen Identität zurückzuführen.90

      Das Streben nach dem ganzheitlichen Menschen

      Eine liberale Grundhaltung strebt die Entwicklung zu ganzheitlichen Menschen an, auch wenn dieser Weg lang und manchmal beschwerlich erscheint, weil er uns selbst immer wieder infrage stellt. Ganzheitliche Menschen haben nicht nur ihren Verstand ausgebildet, sondern auch ihr Gemüt. Ihre Gehirnhälften sind links und rechts gleichermassen entwickelt und miteinander verbunden. Sie können das Männliche und das Weibliche in sich annehmen und leben. Viele Menschen, gerade auch in der Elite unserer Gesellschaft, neigen dazu, die Welt kopflastig zu erfassen, in den Kategorien von Schwarz und Weiss zu denken und zu handeln, stets das Entweder-oder zu betonen. Viele Schwierigkeiten der heutigen Zeit gehen wohl auf diese Einseitigkeit zurück, viele Probleme der Wahrnehmung und der Verständigung, im Grossen und im Kleinen, zwischen Völkern und innerhalb der Partnerschaft zwischen Menschen. Liberale reissen nicht künstlich auseinander, was in der Schöpfung, in der Natur, in unserem Menschsein zusammengehört und aufeinander bezogen ist: Das Starke und das Schwache, das Harte und das Weiche, das Männliche und das Weibliche, das Helle und das Dunkle, Begrenzung und Entgrenzung, Traditionelles und Innovatives, Sorgen und Unbeschwertheit, Geld und Geist, Selbstverwirklichung und Solidarität, Eigensinn und Gemeinsinn, Mensch und Umwelt. Ganzheitliche Menschen leben, ja leben auf in diesen Polaritäten. Sie sind «Sowohl-als-auch»-, nicht «Entweder-oder»-Menschen, sie wissen um ihre eigenen Grenzen. Deshalb lernen sie voneinander und grenzen sich nicht gegenseitig aus. Ganzheitliche Menschen können Vertrauen entwickeln, Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, aber auch in andere Menschen. Vertrauen macht die reife Persönlichkeit aus – Selbstvertrauen und Fremdvertrauen.

      In jüngster Zeit sind mehrere erhellende Beiträge zum ganzheitlichen Menschenbild erschienen. Annemarie Pieper zeichnet das Verhältnis von Körper und Geist seit der Antike nach, auch anhand des männlichen und des weiblichen Körpers, und wendet sich gegen die «Verachtung alles Körperlich-Stofflichen». Das erkämpfte Selbstbestimmungsrecht hat die Interessen