René Rhinow

Freiheit in der Demokratie


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der Freiheitsidee im Gefolge der Französischen Revolution durch die Nationalstaatenbildung ermöglicht, begleitet und gestärkt wurde. Es waren die neu entstandenen Staaten, welche einheitliche bürgerliche Rechts- und Wirtschaftsordnungen, liberale Strafrechtsideen sowie einen Parlamentsvorbehalt für «Freiheit und Eigentum» schrittweise, oft auch annäherungsweise eingeführt und teilweise durchgesetzt haben. Dieser Staat steht angesichts von Globalisierung und Internationalisierung grossen Herausforderungen wie Migration, Sicherheit und Klimawandel gegenüber. In neuster Zeit, nach den Erfahrungen in der Coronapandemie und angesichts zunehmender Naturkatastrophen, gewinnt der Nationalstaat wieder an Attraktivität, oft gepaart mit einem wieder erwachten Souveränitätsmythos. Doch vermögen Schwarz-Weiss-Bilder – auch hier – nichts zur Diskussion über die Funktion moderner Staaten beizutragen. Der moderne Staat stellt weder ein Auslaufmodell dar noch bedarf er einer Re-Nationalisierung. Die Grundwerte des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats bleiben auf den Staat angewiesen. Freilich ist dieser heute einem epochalen Strukturwandel unterworfen, indem seine autonome Handlungsfähigkeit verringert und der Lösungsbedarf für globale oder grenzüberschreitende Probleme gesteigert wird. Der einheitsgeprägte Nationalstaat muss deshalb das «Nationale» in den Hintergrund und seine Verfassung in den Vordergrund rücken, so meine These. Als Verfassungsstaat basiert er auf einer multiplen gesellschaftlichen und politischen Vielfalt; er hat die Integration «seiner» unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sowie deren Partizipation zu fördern sowie dem Bedürfnis der Menschen nach einer sich wandelnden Heimat positiv gegenüberzustehen. Das Ziel müssen entwicklungsfähige, binnendifferenzierte und integrative Verfassungsstaaten bilden, die auch zum Hort von Freiheit, Kultur und Frieden werden. Die Leistungen der Kultur für den Grundkonsens einer offenen, liberalen und vielfältigen Gesellschaft können kaum überschätzt werden. Gerade das Kreative und oft auch Anstössige in Kunst und Kultur bilden Brücken zu einem gemeinsinnigen Miteinander, zu Kohäsion und Kohärenz in der Gesellschaft.34 Dieses Bekenntnis zum Verfassungsstaat stellt keine Absage an Prozesse einer höherstufigen Integration dar, im Gegenteil. Ich meine aber, dass nur stabile Verfassungsstaaten das Fundament dauerhafter und erfolgreicher supranationaler Gemeinschaften zu bilden vermögen.

Freiheit gehört auch den Anderen

      Freiheit und Menschenwürde

       «Dass so wenige rot werden, wenn sie von der Freiheit reden, ist kein gutes Zeichen.»35 Friedrich Dürrenmatt

       «Wenn einem die Frage gestellt wird, ob der Freiheit die Zukunft gehöre, dann muss man erwidern: etwas viel Besseres – die Ewigkeit.»36 Benedetto Croce

      Im Zentrum des Liberalismus steht der Mensch und dessen Freiheit. Doch was ist Freiheit?37 Abraham Lincoln stellte lakonisch fest, die Welt habe noch nie eine gute Definition für das Wort Freiheit gefunden.38 So unterschiedlich «Freiheit» von verschiedenen Strömungen des Liberalismus verstanden wird,39 so unbestritten erscheint das alle Liberalen verbindende Ziel einer grösstmöglichen persönlichen Freiheit eines jeden Menschen in der Führung seines Lebens, die vereinbar ist mit der gleichen Freiheit jeder anderen erwachsenen Person. «Freiheit ist eine Frage der Lebenschancen des Einzelnen und eine Frage der Offenheit der politischen Ordnung» (Ralf Dahrendorf). Freiheit kann als Fähigkeit verstanden werden, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auszuwählen und entscheiden zu können. Freiheit, in der abendländischen Tradition vor allem als Handlungsfreiheit verstanden, kann verschiedene Bedeutungsgehalte aufweisen. Im Alltag wird Freiheit als Abwesenheit von jeglichen Einschränkungen oder von allen Zwängen verstanden. Es handelt sich um eine Freiheit der Beliebigkeit. Dem steht die «grosse Freiheit» gegenüber, die sich dem totalitären Unrechtsstaat entgegenstellt, als individuelles und kollektives Vermögen, elementare Lebensfreiheiten gegen staatliche Bevormundung oder Gewaltanwendung abzuschirmen. Diese äussert sich vor allem im Schutz vor Verhaftungen, in der Bewegungsfreiheit, der Meinungs- und Pressefreiheit sowie der Religionsfreiheit. In der Zivilgesellschaft einer rechtsstaatlichen Demokratie wird Freiheit vor allem als Freiheit der persönlichen Lebensführung im Sinn möglichst grosser Selbstbestimmung,40 als Freiheit im Rahmen persönlicher Lebensverhältnisse sowie der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen wahrgenommen und zunehmend auch als kommunikative Freiheit in der scheinbar grenzenlosen elektronischen Welt erlebt.41 Freiheit in diesem Sinn ist nicht in eins zu setzen mit Beliebigkeit, sondern Ausdruck der individuellen Persönlichkeit mit ihren existenziellen Bedürfnissen und Interessen – so wie auch die verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte die zentralen Voraussetzungen des individuellen Daseins schützen und Raum gewähren, welcher für die Entwicklung der Persönlichkeit in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft essenziell erscheint.

      In der Schweiz kommt der Redewendung von der «Freiheit des Volkes» oder «der Freiheit des Landes» eine grosse Bedeutung zu. Diese Freiheit verlangt unter anderem die Wahrung von (relativer) Unabhängigkeit eines Gemeinwesens sowie den Schutz von Vielfalt, unterschiedlichen Mentalitäten und Kulturen. Obwohl diese kollektive Freiheit nicht im Fokus des Liberalismus steht, ergeben sich Berührungspunkte und Schnittmengen mit der individuellen Freiheit.

      Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung

      Selbstbestimmung in Freiheit ist das Kernanliegen des Liberalismus. Sie kann als Ausprägung eines Individualismus verstanden werden, der als Legitimationsgrundlage der eigenen, unabhängigen und verantwortungsgeprägten Lebensführung dient. Freilich wird Freiheit oft eher durch Negation als durch innere Überzeugung und sinnerfülltes, identitätserfüllendes Handeln begründet, etwa durch die Abwehr von unerwünschten oder lästigen Eingriffen in die eigene Lebenswelt sowie durch Konfrontation und Ablehnung, die sich vor allem gegen das Gemeinwesen und dessen Organe richtet. Wie zu zeigen sein wird, blendet das vorherrschende individualistische Anspruchsdenken aus, dass wir alle in einem Kontext leben und Freiheit nur im Plural und verantwortungsbezogen denkbar erscheint. Sie bedarf der Zuwendung zu Anderen, zu Mitmenschen und deren Anerkennung. Wie bereits mit Carsten Brosda zitiert, bilden gerade das Kreative und oft Anstössige in Kunst und Kultur Brücken zu einem gemeinsinnigen Miteinander, zu Kohäsion und Kohärenz in der Gesellschaft.42

      In jüngerer Zeit wird oft im gleichen Atemzug mit der Selbstbestimmung auch die Selbstverwirklichung genannt: Der freie Mensch, so der Anspruch, soll sich nach seinen Wünschen «verwirklichen» können. Gegenüber dieser Vorstellung sind Fragezeichen zu setzen, denn unter Selbstverwirklichung wird Unterschiedliches verstanden.43 Selbstverwirklichung kann sich letztlich als unerfüllbare Verheissung erweisen. In der Multioptionsgesellschaft (Peter Gross) wächst die «Tyrannei der Möglichkeiten» (Hannah Arendt), sodass der Anteil an realisierbaren Optionen abnimmt und Frustrationen entstehen können. Immanuel Kant versteht Autonomie als die Möglichkeit und Aufgabe des Menschen, sich selbst als freiheits- und vernunftfähiges Wesen zu bestimmen und entsprechend aus Freiheit dem kategorischen Imperativ nach moralisch zu handeln. Davon unterscheidet sich eine Vorstellung von Freiheit, die im Sinn einer unbeschränkten Machbarkeit zur Erfüllung aller Lebenswünsche verstanden wird.44 Eine menschenwürdige und nachhaltige Idee der Freiheit ist in einer sich wandelnden Welt immer wieder neuen Herausforderungen und damit Veränderungen ausgesetzt.

      Die Basler Philosophin Annemarie Pieper weist darauf hin, dass die Vorstellung eines unbeschränkten Rechts auf Selbstverwirklichung nicht unerheblich dazu beigetragen hat, dass Menschen einander diskriminieren und die Natur ausbeuten.45 Möglicherweise lässt sich die Wut von frustrierten, und (echt oder vermeintlich) vernachlässigten Menschen in dieser unerfüllten Erwartung auf schrankenlose Selbstverwirklichung verorten. Diese Erwartung richtet sich oft gegen Eliten und eine konstruierte politische Klasse, aufgeputscht von Populisten.46 Hat der «Pursuit of happiness» unermessliche Tore zu liberalistischen Extravaganzen und deren Torheiten geöffnet?47

      Die Autonomie der oder des Einzelnen stellt ein unverzichtbares Ideal dar, das freilich oft nur unvollständig eingelöst werden kann. Selbstbestimmung ist auch von Faktoren abhängig, die individuell nicht beeinflussbar sind. Das Streben nach Autonomie trifft auch unzählige