René Rhinow

Freiheit in der Demokratie


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eines menschenwürdigen Liberalismus

      Im zweiten Teil dieses Bands mit dem Titel «Freiheit gehört auch den Anderen» geht es mir nicht darum, den Liberalismus neu zu definieren, sondern zur Idee eines Liberalismus beizutragen, der auf der Menschenwürde gründet und diese ernst nimmt. Obwohl dies in abstrakter Höhe niemand bestreiten würde,24 steht im praktischen Diskurs in aller Regel die Freiheit derjenigen im Vordergrund, die sie für sich in Anspruch nehmen und gegen staatliche Vorkehrungen verteidigen wollen. In diesem Essay wird demgegenüber im Sinn eines ganzheitlichen Menschenbilds postuliert, dass die Freiheit allen gehört und sie damit auch die Freiheit der Anderen einschliesst – die Freiheit vor allem auch derjenigen Menschen, denen selbstverantwortliches Handeln nicht oder nur beschränkt möglich ist. Diese Freiheitsdimension wird vom «klassischen» Radar des Liberalismus oft nicht erfasst. Die Anderen: Das sind etwa auch Junge, Ältere, Schwache, Flüchtende, Menschen anderer Kulturen oder Menschen künftiger Generationen.

      Die Freiheit aller wird als konstitutive Freiheit im Licht der Dogmatik der Freiheitsrechte im demokratischen Verfassungsstaat gedeutet. Denn Geltung, Ausprägungen und Verwirklichung der Freiheitsrechte sind nicht nur massgeblich von liberalen Ideen entwickelt und genährt worden; sie vermögen in einer umgekehrten Sichtweise auch die Diskussion in der politischen Theorie über die liberale Freiheit zu befruchten. Ist es nicht erstaunlich, wie wenig sich philosophische Auseinandersetzungen über den Liberalismus in den letzten Jahrzehnten von den verfassungsrechtlichen Freiheitsverwirklichungen und Freiheitsdebatten befruchten liessen?

      Von der liberalen Geisteshaltung

      Der menschenwürdige Liberalismus wird nicht nur durch die substanzielle Freiheit im Sinn der Selbstbestimmung aller definiert, sondern auch durch eine liberale Geisteshaltung. Liberale Grundwerte wie Mitmenschlichkeit, Demut, Respekt, Toleranz und Fairness verstehe ich im Sinn eines Kompasses, der die Richtung angibt, aber unterschiedliche Wege offenlässt. Liberale Verantwortung äussert sich nicht nur im Was, in der Sorge um die Freiheit, sondern auch im Wie, im Umgang und in der Methode, wie Freiheit zu bestimmen und Freiheitsbedürfnisse aller aufeinander abzustimmen und bestmöglich zu realisieren sind. Hier manifestiert sich besonders deutlich die tugendethische Fundierung des Liberalismus, seine Wertegebundenheit. Ein besonderes Gewicht lege ich auf die liberale Offenheit und ihre Abgrenzung zum Konservatismus, wobei sich die Grenzen je nach Definition als fliessend erweisen können. Liberale bauen Brücken – auf der Basis von Empathie und als Voraussetzung zur wechselseitigen Verständigung.

      Selbstverantwortung und Mitverantwortung

      Dass Selbstverantwortung im Fokus jeder liberalen Verantwortungsdiskussion steht, erscheint unbestritten. Eine realitätsbezogene Sicht verkennt aber nicht, dass das unabdingbare Postulat der Selbstverantwortung seine Grenzen kennt. Einmal kann es an der individuellen Bereitschaft fehlen, Verantwortung zu übernehmen. Welche Folgerungen zieht der Liberalismus daraus? Eine der drängenden Fragen besteht zudem darin, zu fragen, welcher Voraussetzungen es bedarf, dass Menschen in der Lage sind oder in die Lage versetzt werden können, Verantwortung effektiv wahrzunehmen.

      Mitfühlender, sozialer und nachhaltiger Liberalismus

      Dies führt mich zur Mitverantwortung, die zur Selbstverantwortung hinzutreten muss – entgegen dem geläufigen Sprachgebrauch, der meistens nur die Selbstverantwortung anspricht. Die liberale Mitverantwortung wird anhand von drei Dimensionen näher beleuchtet. Der mitfühlende Liberalismus gründet auf der Empathie zu Anderen, während der Einbezug der sozialen Voraussetzungen und Bedingungen autonomer Freiheitsausübung zum sozialen Liberalismus führt. Entsprechend ist von der klassischen Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit abzurücken – zugunsten einer sozialen Freiheit, die sich vom Verständnis einer konstitutiven Freiheit, wie sie dem Verfassungsstaat zugrunde liegt, befruchten lässt. Die Sorge für Mit- und Nachwelt, die Bewahrung von Freiheit und Natur in der Zukunft schliesslich wird mit dem nachhaltigen Liberalismus zum Ausdruck gebracht. Ich erblicke in der Nachhaltigkeit der Freiheit ein grosses Desideratum des Liberalismusdiskurses.

      Einer menschenwürdigen Freiheit entspricht – neben der Garantie des Eigentums mit seinen verschiedenen Funktionen – die Idee der sozialen und nachhaltigen Marktwirtschaft, wo der Wettbewerb zur Förderung von Freiheit und Wohlstand aller heute und morgen genutzt werden kann. Der Wettbewerb steht nicht über der Freiheit aller, sondern in deren Dienst. Er findet dort seine Grenzen, wo Freiheitsbedürfnisse nicht mit dem Instrument des Wettbewerbs befriedigt werden können.

      Freiheit und Konkordanz

      Freiheit ist immer lebenswirkliche Freiheit im Kontext. Freiheit aller führt regelmässig zu Güterabwägungen von Freiheitsbedürfnissen und Freiheitsoptionen; ich nenne sie liberale Binnenkonflikte. Der Liberalismus ist durch das Mass geprägt, weil Freiheitsoptionen auszumessen und gegeneinander abzuwägen sind. Die Güterabwägung erfolgt auf dem Weg einer verhältnismässigen Herstellung von Konkordanz durch demokratisch legitimierte Instanzen in legalen Verfahren, um auf dem weiten Feld der Freiheiten (im Plural) ein Optimum an Freiheit für alle zu gewährleisten. Diese Abwägungsprozesse können komplex sein und grosse Gestaltungsspielräume eröffnen. Oft geht es nur vordergründig um eine Gegenüberstellung von Freiheit und Staat, von privaten und öffentlichen Interessen, denn öffentliche Interessen können auch Schutzinteressen von Privaten mit einschliessen, deren Wahrung dem Gemeinwesen aufgetragen ist. Der Schutz von Autonomie selbst liegt auch im öffentlichen Interesse. Das Konzept der Konkordanz, wie es in der Verfassungslehre entwickelt worden ist, und das Prinzip der Verhältnismässigkeit können die Diskussion um Freiheitsabwägungen befruchten.

      Chancengleichheit und Fähigkeitsansatz

      Es kann dem Liberalismus nicht um eine Angleichung der Lebensumstände gehen, sondern um die Annäherung an eine Gleichheit der Startbedingungen, um eine Chancengleichheit. Auch deshalb sorgen sich Liberale um eine entsprechende Bildung und Ausbildung aller. Den Fähigkeitsansatz amerikanischer Philosophen erachte ich als weiterführend, um die Lebenschancen aller mit Inhalt zu füllen. Chancengleichheit ist in einem Annäherungsprozess kontextbezogen zu bestimmen. Sie ist mehr Idee und Ziel als feste Grösse.

      Keine Freiheit ohne rechtsstaatliche Demokratie

      Zur Freiheit gehört essenziell die politische Freiheit. Sie stellt die Kehrseite der persönlichen Freiheit dar. Der Verfassungsstaat wird in erster Linie durch den Schutz der Freiheit aller legitimiert. Dieser Freiheit steht heute nicht der autoritäre Staat gegenüber, der die Liberalismusdiskussion (zu) lange beherrscht hat, sondern der Staat der rechtsstaatlichen Demokratie, der Verfassungsstaat. Die rechtsstaatliche Demokratie wird im internationalen Sprachgebrauch oft als liberale Demokratie bezeichnet. Damit wird das unabdingbare liberale Gedankengut angesprochen, das der Demokratie mit der Geltung von rechtsstaatlichen Essentialen wie den Menschenrechten, dem allgemeinen Wahlrecht, dem Repräsentationsprinzip, der Gewaltenteilung und dem Gesetzmässigkeitsprinzip zugrunde liegt. Doch das Verhältnis der Liberalen zur Demokratie war und ist nicht spannungsfrei. Zwar war die liberale Bewegung des 19. Jahrhunderts vom Glauben getragen, Demokratie sei ein Mittel, ja die Grundlage zur Verwirklichung von Freiheit. Doch viele Liberale taten sich schwer mit dem allgemeinen Wahlrecht und erst recht mit der direkten Demokratie; sie fürchteten Unruhen und den Verlust bürgerlicher Werte. Eine massgebliche Herausforderung für die liberale Idee liegt im Mehrheitsprinzip, das der Demokratie zugrunde liegt. Dieses muss rechtsstaatlich eingegrenzt werden, um Individuen wie Minderheiten zu schützen. Auch wenn Liberale um die konstituierende Funktion von Mehrheitsprinzip und Parlamentarismus sowie – in der Schweiz – um die integrierende Bedeutung von Volksrechten wissen, anerkennen sie deren Schranken im Interesse von Freiheitsrechten und Minderheitenschutz.25 Auch eine Mehrheit kann irren. Vor allem vermag