wurde für eine Woche von der Schule suspendiert und musste mir einen Entschuldigungsbrief schreiben.
Und ich?
Ich war verdammt zu einer Ewigkeit in der Hölle.
Machtlos. Im freien Fall mein Leben
Meine innersten Gedanken – der Welt preisgegeben
aus ›Ohne Fallschirm‹ von Wilbur Hernandez-Schott
»Die Zeit heilt alle Wunden«, sagt Mup gerne. »Und die Zeit verwundet alle Heiler.« Ich habe Mup wirklich lieb. Aber ihre Plattitüden sind manchmal echt kompletter Schwachsinn.
Nach Tylers Ausschluss vom Unterricht setzten wir uns zu einer unserer Familienbesprechungen zusammen. »Wir finden, du solltest versuchen, noch ein bisschen durchzuhalten«, sagte Mup. »Vor deinen Problemen wegzulaufen ist ein Rennen, das du niemals gewinnen wirst.« Mum stieß einen Würgelaut aus, und Mup nahm ihre Hand und drückte sie fest. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie unterschiedlicher Meinung waren, sich jedoch darauf verständigt hatten, als geschlossene Front aufzutreten.
»Nur einen Monat, Gürkchen«, sagte Mum. »Wenn es danach nicht besser ist, holen wir dich raus.« Sie hörte sich an, als redete sie von einem Gefängnisausbruch.
Also ging ich weiter auf die Pierre-Elliott-Trudeau-Schule.
Und es war ein Albtraum.
Die Witze über Jeremiah nahmen kein Ende. Ein paar Kinder versuchten mich zum Weinen zu bringen, und ich muss leider zugeben, dass es ihnen bisweilen gelang. Noch schlimmer: Niemand nannte mich mehr Wilbur. Ich hatte einen neuen Spitznamen. Keiner von uns – weder ich noch Mum noch Mup – hatte je das Akronym bemerkt, das die Initialen meines Namens bildeten. WiCHS.
Ich hasste die Schule. Ich beschloss, den Mumps nach Ablauf des Monats zu sagen, dass ich da raus wollte.
Und prompt überrollte uns kurz vor Ende September eine Unglückslawine.
Eines Tages kam Mup ganz aufgewühlt von der Arbeit nach Hause. »Die haben mich durch einen Roboter ersetzt.« Sie arbeitete Vollzeit als Kassiererin in einem Lebensmittelladen. Vor Kurzem waren Selbstbedienungskassen angeschafft worden, und da man Mup als Letzte eingestellt hatte, war sie die Erste, die gehen musste. Ein paar Tage später löste sich Mums Fernsehsendung – ihre erste Hauptrolle, der Grund, weshalb wir nach Toronto gezogen waren – in Rauch auf. Jennica Valentine und meine Mum, Norah Schott, spielten in Wo ein Wolf ist die Anführerinnen eines Rudels weiblicher Werwölfe. Doch nur zwei Wochen nach Drehbeginn wurde der Produzent wegen etwas namens Geldwäsche festgenommen und die Produktion eingestellt.
Die Mumps rackerten sich ab, um Arbeit zu finden, irgendeine Arbeit. Spät nachts hörte ich sie reden; sie hatten furchtbare Angst, wir könnten das Haus verlieren, das wir erst vor Kurzem im Zentrum von Kensington Market gekauft hatten. »Wir haben das Fell verteilt, bevor wir den Bären erlegt hatten«, sagte Mup.
Sie waren komplett überlastet.
Als unsere Familienbesprechung wegen der Schule anstand, sagte ich deshalb bloß: »Ist okay. Alles gut. Die Schule läuft gut.« Und die vielen kleinen Muskeln in ihren Gesichtern entspannten sich, und mir war klar, dass sie unendlich erleichtert waren, sich um eine Sache weniger, und zwar mich, sorgen zu müssen.
Nur zwei Jahre, sagte ich mir. In der Oberschule würde ich ganz neu anfangen.
Ich Trottel.
Die Pierre-Elliott-Trudeau-Oberschule ist direkt neben der Pierre-Elliott-Trudeau-Mittelschule.
Und so zogen Tyler – und Wichs – zusammen mit mir um.
»Ey, Fichs, ist das ’ne halbe Packung Atemfrisch-Kaugummis in deiner Hosentasche oder freut sich Jeremiah bloß so, mich zu sehen?«, brüllte Kertz heute Morgen quer über den Flur, am ersten Tag nach den Weihnachtsferien. Fichs ist eine Abwandlung meines Spitznamens, wie er mir hilfreicherweise erläuterte: »Ist ’ne Kombination aus Wichs und Freak.« Ganz ausgefuchst.
»Du bist lahmer als ein Faultier, Wic… – ich meine, Wilbur! Noch eine Runde«, sagte unser Sportlehrer, Mr Urquhart, in der Sportstunde, denn ja, selbst er kennt meinen unseligen Spitznamen.
»Der Platz ist schon besetzt, Wichs«, sagte Poppy im Englischunterricht; Poppy, die immer nett zu mir gewesen war, bis Tyler, als Willkommensgeschenk in der Oberschule, das Gerücht verbreitete, ich würde gern an den Fahrradsätteln der Mädchen schnüffeln. Also echt. Ich habe noch nie, nicht ein einziges Mal, an einem Fahrradsattel gerochen. Eigentlich an keiner Art von Sitzgelegenheit, wenn ich so darüber nachdenke. Doch einige Mädchen haben ihm geglaubt und weigern sich seitdem, in meiner Nähe zu sitzen.
»Verzeihung, Wichs, dürfte ich mir einen Bleistift ausborgen?«, fragte Jo Lin in Mathe. Das versetzte mir den tiefsten Stich, weil Jo Lin wirklich aufrichtig freundlich ist, zu mir und zu allen Leuten. Sie wollte nicht gemein sein, sie denkt einfach, dass ich so heiße.
Obwohl ich vierzehn bin, haftet mir wie ein übler Geruch ein Brief an, den ich mit elf – elf! – geschrieben habe. Es ist, als hätte sich in all den Jahren nichts verändert. Als hätte ich mich nicht verändert. Ich habe mich aber verändert. Zum Beispiel bin ich jetzt viel größer. Die Mumps hatten recht, ich bekam einen gewaltigen Wachstumsschub. Es ging so schnell, dass sie witzelten, sie könnten meine Knochen knarzen hören. Ich hatte buchstäblich Wachstumsschmerzen. Nun bin ich über einsachtzig groß. Aber meine Körpergröße ist kein Vorteil; ich spiele weder Basketball noch sonst eine Mannschaftssportart, weil ich ein totaler Trampel bin und dazu neige, mich zu ducken, sobald irgendeine Art von Ball in meine Richtung geworfen wird. Außerdem bin ich zwar größer geworden, aber trotzdem immer noch pummelig und weich. Und meine Haare haben so eine komisch drahtartige Struktur; Tyler sagt gern, sie sähen aus wie ein Haufen braune Schamhaare. Und, na ja, außer sie auszureißen kann ich an meinen Glubschaugen nicht viel machen.
Jeremiah ist mit mir mitgewachsen, also, im Verhältnis. Niemand würde ihn für einen Porno oder so was anheuern. Aber er ist durchschnittlich, wie der Mensch, an dem er hängt. Und seine willkürlichen Regungen gehören (weitgehend) der Vergangenheit an.
Was den Rest meiner Liste angeht, so kann ich stolz verkünden, dass ich die Tierschutzwerbung in mindestens vierzig Prozent aller Fälle anschauen kann, ohne zu weinen. Noch besser, ich habe einen tollen Freund – zwei, wenn man Templeton mitzählt –, und eine Zeit lang waren Alex und ich Freunde, aber ich bin mir nicht so sicher, wie da momentan die Lage ist.
Ich schreibe immer noch pausenlos, mittlerweile allerdings hauptsächlich Gedichte; Geschichten über Dinosaurier und das Weltall waren Kinderkram (na gut, ich gestehe: Ich liebe Dinosaurier immer noch, aber mal im Ernst, wer denn bitte nicht?). Und nein, ich habe noch nichts veröffentlicht. Aber ich sage mir, dass mein Leid einen besseren Schriftsteller aus mir machen wird. Gepeinigter Künstler und so.
Hinsichtlich Nummer sieben überrascht es nicht, dass ich da in epischem Ausmaß gescheitert bin. Nie im Leben werde ich vor dem Schulabschluss eine liebe- und einvernehmlich respektvolle Beziehung (© Mumps) haben. Dafür hat Kertz gesorgt. Die Mädchen in meiner Schule beäugen mich misstrauisch, vorsichtig oder mitleidig – manchmal auch alles in einem.
Und acht – ein besserer Mensch werden, mutig sein, blablabla – ja klar. Heutzutage sind meine Ziele sehr viel simpler: einfach bloß den Tag überstehen. Kopf runter, Mund zu. Zieh keine unnötige Aufmerksamkeit auf dich. Wer nichts wagt, gewinnt vielleicht nichts, aber, Achtung, Eilmeldung, verliert vielleicht auch nichts! Ich habe nämlich schon ein paar ziemlich hochwertige Sachen verloren, wie a) meine Würde, b) meine Selbstachtung und c) jegliches Selbstvertrauen, das ich irgendwann mal hatte.
Aktuell mein einziges Ziel: versuchen zu überleben.
Wer bin ich?