Als ich fertig war, ging ich mit Templeton vor dem Abendessen in dem winzigen Park unseres Viertels noch eine schnelle Runde Gassi. Die Mauern auf beiden Seiten waren mit bunten Wandgemälden und Graffiti bedeckt. Lloyd, der einen Imbiss mit Teigtaschen nach jamaikanischer Art betreibt, und Viktor, dem der Käseladen gehört, saßen in Anoraks auf ihrer Lieblingsbank und rauchten einen Joint. Sie gehören zum Inventar des Parks, egal, welches Wetter herrscht oder wie spät es ist. Wir grüßten einander. Lloyd fügte hinzu: »So’n Gesicht kann nur eine Mutter lieben.« Ich war nicht ganz sicher, ob er Templeton oder mich meinte.
Als wir zurück nach Hause kamen, war Mum ebenfalls in der Küche und deckte den Tisch. Sie trug einen Hosenanzug und hatte ihr langes, dunkles Haar auf dem Kopf aufgetürmt. Meine Mütter sind schöne Frauen: Carmen ist klein und hat eine Rubensfigur und üppige schwarze Locken; Norah ist groß und schlank und hat langes, kastanienfarbenes Haar und unglaubliche Wangenknochen. Ich erwähne das nur, weil es mir ein Rätsel ist, wie Mum so einen Gnom wie mich auf die Welt bringen konnte. Vor allem, weil das Profil des Spenders besagte, er sei ein gut aussehender Mann mit Harvard-Abschluss, der es beinahe in die olympische Rudermannschaft geschafft habe …
Ich glaube eher, er war ein sehr guter Lügner, der sein Sperma gespendet hatte, weil er die Kohle brauchte.
Mup stellte Schüsseln mit Grünkohl-und-weiße-Bohnen-Suppe auf unseren kleinen Resopaltisch. Sie kocht an den Tagen, an denen sie als Erste nach Hause kommt, und das sind die wirklich guten Tage, weil sie sehr viel besser kochen kann als Mum, aber das behalten wir für uns, denn Mum hört das gar nicht gerne.
Abwechselnd berichteten wir, wie unser Tag gelaufen war. Das ist eine Hernandez-Schott-Familientradition. Als Mum an der Reihe war, sagte sie: »Heute war ich in einer Restaurantszene im Hintergrund. Ich sollte so tun, als sei ich in einen alten Knacker verliebt. Der war bestimmt dreißig Jahre älter als ich. Es war unfassbar öde.« Nachdem sich Wo ein Wolf ist erledigt hatte, war es auch mit Mums Schauspielkarriere vorbei. Aber ebenso wie Carmen ist auch Norah einfallsreich. Sie beschloss, dass keine Rolle zu klein ist, und nimmt jetzt viele Jobs als Statistin an. Außerdem hat sie ein gutes Auge für Trödel bei privaten Flohmärkten; sie putzt die Sachen oder arbeitet sie auf und verkauft sie dann mit Gewinn weiter.
Ich schlürfte den letzten Rest Suppe. »Ich glaube, ich habe noch gar nicht erwähnt«, sagte ich, genau wissend, dass ich es bisher unterlassen hatte, »dass Mr Papadopoulos die Anzahlung für die Austauschfahrt bis Freitag braucht.« Das französische Schulorchester kam nicht nur zu uns; im April sollten wir sie dann in Paris besuchen. Deshalb heißt es vermutlich Austausch. Der Elternbeirat finanzierte einen Teil der Kosten, aber für das meiste mussten wir selbst aufkommen.
Die Mumps warfen einander Blicke zu. »Wie viel?«
»Vierhundert Dollar«, sagte ich. »Insgesamt tausendsechshundert.«
Ich hörte, wie sie unisono nach Luft schnappten. Mum beschäftigte sich damit, eine der vielen Retro-Keksdosen herunterzuholen, die auf den Küchenschränken aufgereiht stehen.
»Ich habe lange überlegt«, sagte ich. »Ich muss nicht nach Paris. Ich glaube eh nicht, dass es mir besonders viel Spaß machen wird.«
»Wieso in aller Welt denn nicht?«, fragte Mup.
»Andere Sprache, anderes Essen, andere Kultur …« Ich verzog das Gesicht.
»Stimmt, du magst keine Veränderungen«, sagte Mum. Sie nahm ein paar selbst gebackene Kürbiskekse aus der pilzförmigen roten Dose mit den weißen Punkten und wandte sich zu Mup um. »Als er kleiner war, wollte er nicht mal bei Stewart übernachten, weil er lieber in seinem eigenen Bett schläft. Mehr als einmal mussten wir mitten in der Nacht bis nach North Shore fahren, um ihn abzuholen, weißt du noch?«
»Aber genau deswegen sollte er fahren. Er muss mal raus aus seiner Komfortzone.«
»Irgendwann schon, ja«, sagte Mum. »Aber es ist viel Geld. Und Paris wird es auch noch geben, wenn er älter ist und vielleicht ein wenig … abenteuerlustiger?«
Manchmal machten sie das, sie sprachen über mich in der dritten Person, als sei ich nicht da.
Mup drehte sich zu mir um. »Hast du was von deinem Gehalt gespart?«
»Ein bisschen. Nicht so viel, wie ich gehofft hatte.«
»Nun, es ist eine einmalige Gelegenheit. Die Anzahlung kriegen wir hin. Ich übernehme noch ein paar zusätzliche Taxifahrten.« Taxifahren ist Mups zweiter von drei Jobs. »Heute Abend stelle ich den Scheck aus. Gib ihn deinem Lehrer aber nicht vor Donnerstag; bis dahin sollte das Geld da sein.« Mum machte einen Schmollmund, sagte aber nichts. »Und wenn wir gerade dabei sind, ich setze mich gleich noch ein paar Stunden hinters Steuer.« Mup gab uns beiden einen Kuss und ging.
Nach dem Abwasch ließ Mum mich einen Film aus unserer riesigen DVD-Sammlung aussuchen; die kriegt sie bei Flohmärkten fast für umsonst. Ich entschied mich für unser Lieblingsmusical, West Side Story. Wir kuschelten uns aufs Sofa. Templeton saß auf meinem Schoß. Doch selbst als wir bei Hey, Inspektor Krupke mitsangen, musste ich gegen das Gefühl von Einsamkeit ankämpfen, das sich in mir breitmachte.
Samstagabends war ich immer zu Hause, zusammen mit einer Mutter oder beiden und meinem Hund. Sogar Sal hatte samstags eine feste Verabredung zum Doppelkopfspielen mit ein paar seiner angemessen gleichaltrigen Freunde.
»Freust du dich schon auf deinen Austauschschüler?«, fragte Mum bei Ein Kerl wie der.
»Ja.« Ich hielt inne. »Ich hoffe bloß …«
»Was?«
»Ich hoffe bloß, dass Charlie Toronto mögen wird.«
»Natürlich wird es ihm gefallen. Wieso denn auch nicht?«
Ich traute mich nicht auszusprechen, was ich wirklich dachte, nämlich:
»Ich hoffe, dass Charlie mich mögen wird.«
* Französische Wörter oder Sätze, die sich nicht aus dem Zusammenhang erschließen lassen, werden auf Seite 276 f. erklärt.
Wie der Weidenzweig
wogend
und schwankend im Wind
ein Mondhaiku von Wilbur Hernandez-Schott
»Jesses, Blechbläser, ihr hört euch ja an wie ein Rudel verendender Katzen!«, brüllte Mr Papadopoulos mit sich überschlagender Stimme am Montag über das Getöse hinweg. »Konzentration!«
Er schwang seinen Taktstock und enthüllte dadurch gewaltige Schweißflecken auf seinem rot-weiß karierten Hemd. Sein kahler Kopf glänzte feucht.
Ich stand hinten und konzentrierte mich auf jede Note. Wir probten O Canada noch ein letztes Mal, bevor unsere Gäste ankamen.
Ich hatte nicht viele Einsätze, erst am Ende. Als ich meinen Moment gekommen sah, stand ich auf. Mr Papadopoulos schaute in meine Richtung … Ich nahm meinen Metallschlägel … hielt mein Instrument mit gebeugtem Arm, knapp unter Augenhöhe … und auf Mr Ps Signal legte ich einen perfekten zweiseitigen Wirbel hin.
Die Triangel ist wirklich ein unterschätztes Instrument.
Ein paar Minuten später wies Mr P uns an, unsere Sachen zusammenzusuchen und uns auf den Weg zum Parkplatz zu machen. Ich beeilte mich, um Alex noch zu erwischen – den Jungen, der für eine kurze und glorreiche Zeit mein zweiter bester Freund gewesen war. Seine Eltern arbeiteten beide bei derselben Bank und waren von Calgary nach Toronto versetzt worden. Alex ist klein und rundlich, hat dickes schwarzes Haar, das ihm ständig in die Augen fällt, und einen Mund voller Metall. Damals kleidete er sich noch wie ein Büroangestellter: gebügeltes Hemd, gebügelte Hose. Alles wirkte einen Hauch zu eng für seine kräftige Statur. Er besaß sogar eine Aktentasche.
Mit anderen Worten, er war die perfekte Zielscheibe für