Susin Nielsen

Die gigantischen Dinge des Lebens


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Augen leuchteten auf. »Nanaimo-Riegel. Danke, Sal.«

      Per U-Bahn und Tram fuhren wir zurück zu Sals Haus, das direkt neben unserem steht und zu einer Reihe von schmalen Backsteinreihenhäusern in Kensington Market gehört. Einige sind in knalligen Farben gestrichen, unseres zum Beispiel in Mauve. Seines hat noch die ursprüngliche Backsteinfarbe. Innen sind unsere Häuser im Grundriss gespiegelt, aber da hören die Ähnlichkeiten auch schon auf: Das Haus meiner Familie ist vollgestopft mit Zeug, das Mum in Kleinanzeigen oder bei privaten Flohmärkten gefunden hat; Sals Haus ist voll mit Antiquitäten.

      Traditionsgemäß machte er uns zum Mittagessen Grillkäse-Sandwiches mit eingelegten Gurken. Das lag daran, dass wir beide Grillkäse lieben und dass Sal außerdem seit Jahren in Rente ist und mit wenig Geld auskommen muss; ich weiß zufällig, dass er sehr oft Grillkäse, Ramennudeln und Suppe aus verbeulten Dosen isst.

      Um halb eins brachte er mich zur Tür. »Hier, nimm noch was von dem Babka für unterwegs mit.« Er reichte mir zwei dicke Scheiben in einem Frischhaltebeutel.

      Ich verabschiedete mich und lief zur Sandwich Station in der Queen Street West. Während der Weihnachtsferien hatte mich der Eigentümer, Mr Chernov, vom Sandwich Creation Profi zum Sandwich Creation Expert befördert. Das ging nicht mit einer Gehaltserhöhung einher, aber Mr Chernov erinnerte mich daran, dass es mehr Verantwortung bedeutete, also ist das wohl angemessen, nehme ich an. Da Mr Chernov selten da war – er war Chef von drei Restaurants, die zu einer Kette gehörten –, war ich streng genommen der Vorgesetzte der anderen Angestellten, aber ich bin nicht ganz sicher, ob diese Info zu ihnen durchgedrungen ist.

      »Dmitri, du bist dran mit den Toiletten«, sagte ich kurz nach Beginn unserer Schicht. Dmitri ist neu, klein und drahtig und hat eine Igelfrisur. Er ist ungefähr in meinem Alter und außerdem das, was ich als schwierigen Angestellten bezeichnen würde.

      Er schrieb gerade Textnachrichten und reagierte nicht.

      »Dmitri. Du weißt, die Toiletten müssen einmal pro Stunde überprüft und geputzt werden.«

      »Sorry, Dilbert, geht nicht«, sagte er, ohne aufzuschauen.

      »Wilbur«, sagte ich. »Wieso nicht?«

      »Gesundheitliche Gründe. Ich hab Psoriafungalitis.«

      Ich sah ihn verständnislos an.

      »Hautkrankheit. Ich darf keine starken Putzmittel benutzen, sonst krieg ich einen superekligen Ausschlag.«

      Ich wusste, ich konnte ihn schlecht zu etwas nötigen, wozu er aus medizinischer Sicht nicht in der Lage war – selbstverständlich hatte ich die achtzigseitige Dienstvorschrift gelesen –, also putzte ich die Toiletten selbst. Ich weiß nicht, ob das nur in unserem Laden vorkommt oder ob es ein weit verbreitetes Phänomen ist, aber es gibt eine Menge Leute, die entweder nicht begreifen, wie man spült, oder die sich einfach nicht die Mühe machen zu spülen.

      Während Dmitris Pause kam Mitzi zu mir. Sie ist ungefähr in meinem Alter, ein oder zwei Jahre jünger, hat eine kräftige Statur, lange rote Haare und eine Hornbrille. »Dir ist schon klar, dass er sich das ausgedacht hat.«

      »Psoriafungalitis? Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass es das wirklich gibt.«

      Mitzi holte ihr Handy raus und tippte das Wort ein. Sie hielt es mir vor die Nase. »Nee.«

      »Oh.«

      Wir standen rum und lauschten eine Weile der Fahrstuhlmusik. Sie begutachtete ihr Spiegelbild im Fenster. »Wer um Himmels willen hat diese Uniformen entworfen? Pikachu?«

      Unsere Uniformen sehen abscheulich aus – einteilige bananengelbe Anzüge mit Reißverschluss aus billigem Polyester. Ich nehme an, sie sollen zu den billig wirkenden gelben Plastiktischen und -stühlen passen, die auf dem Boden festgeschraubt sind.

      »Also, ich finde ja, du siehst damit ziemlich gut aus«, sagte ich. »Wie Sigourney Weaver in Alien. Oder Uma Thurman in Kill Bill

      »So irgendwie knallhart?«

      »Auf jeden Fall.«

      Das bescherte mir ein seltenes Lächeln; meistens sieht Mitzi verächtlich und gelangweilt aus. Keine Ahnung, was sie von mir hält.

      Wenn ich ganz ehrlich bin: Ich finde sie ziemlich Furcht einflößend.

      Während unserer Schicht arbeiteten Mitzi und ich ununterbrochen, anders als Dmitri, der immer wieder für längere Zeit nach hinten verschwand. Er verließ den Laden fünfzehn Minuten, bevor seine Arbeitszeit offiziell zu Ende war.

      Um sechs Uhr übernahmen George und Deepak. Da es schon dunkel war, begleitete ich Mitzi nach Hause. »Musst du echt nicht machen«, sagte sie. »Ich habe den blauen Gürtel in Karate. Ich könnte einen Typen plattmachen, der doppelt so groß ist wie du, und zwar sehr viel müheloser, als du es je fertigbringen würdest, nimm’s mir nicht übel.«

      »Ich nehm’s dir nicht übel. Und ich glaube dir. Aber es liegt ohnehin auf meinem Weg.«

      Sie wohnt in der Shaw Street, und da wir zu zweit waren, nahmen wir eine Abkürzung durch den Trinity-Bell-woods-Park.

      »Ich glaube, Franklin ist krank«, erzählte sie. Ich brauchte kurz, um mich daran zu erinnern, dass Franklin ihre Schildkröte war. »Er wird langsamer.«

      »Aber benimmt er sich dann nicht einfach wie … eine Schildkröte?«

      »Glaub mir, ich erkenne den Unterschied. Franklin und ich sind unzertrennlich.«

      Ich brachte sie bis zu ihrem Haus. »Na, ich hoffe, er kommt bald wieder in die Gänge«, sagte ich. »Und denk dran, ich werde jetzt eine Woche nicht arbeiten.«

      »Ach, stimmt. Dein Austauschschüler. Hoffe, das wird gut.«

      Mitzi drehte eine Pirouette, winkte mir zum Abschied zu und lief die Einfahrt hinauf.

      Sie ist ein von Rätseln umwobenes Mysterium.

      Als ich unsere Haustür öffnete, empfingen mich ein Schwall warmer Luft, Kulturradio und Templeton, der auf seinen kurzen Beinchen mit begeistert fiependem Gebell in den Flur trippelte. »Wo ist mein braver Kleiner?«, rief ich mit Babystimme. »Wo ist mein braver, süßer Kleiner?« Ich nahm ihn hoch. Angriffslustig leckte er mein Gesicht ab.

      Wir liefen in die Küche. Unter dem Spülbecken schauten Mups Beine hervor. Sie sagt gern: »Wenn’s hart auf hart kommt, legen die Harten erst richtig los.« Das hat sie gemacht, seit sie entlassen wurde. Zusätzlich zu ihren drei Teilzeitjobs beschloss sie, Reparaturen eben selbst zu erledigen, wenn wir uns einen Handwerker nicht leisten konnten. Sie schaut sich Videoanleitungen zu allen möglichen Themen an, vom Verputzen bis hin zu einfachen Klempnerarbeiten; sie hat sich alles selber beigebracht. Aber sie ist auch nur eine einzelne Frau und lebt mit zwei Individuen mit räumlicher und handwerklicher Behinderung zusammen, also geht das Reparieren langsam vonstatten.

      Gerade setzte ich Templeton ab, als Mup mit triumphierendem Grinsen unter der Spüle hervorgekrochen kam. »Hab die undichte Stelle repariert. Ich koche gleich Abendessen – Pfui. Wil.« Mup deutete auf Templeton. Er robbte mit den Vorderbeinen durchs Zimmer und schleifte seinen Hintern übers Linoleum. »Du weißt, was das heißt.«

      Wusste ich. »Muss das jetzt sofort sein?«

      »Er hinterlässt Kackspuren auf dem Boden. Und du weißt, worauf wir uns geeinigt haben. Du bist seine …«

      »Hauptverantwortliche Betreuungsperson. Ich weiß.« Das hatten mir die Mumps eingetrichtert, als ich ihn adoptieren durfte. Ich nahm ihn wieder hoch und hielt ihn diesmal etwas mehr auf Abstand. »Du hast Glück, dass ich dich so lieb habe«, flüsterte ich in sein gutes Ohr. Dann