Susin Nielsen

Die gigantischen Dinge des Lebens


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       oder das, was die anderen seh’n?

       Welcher ist echt?

       Welcher bloß Schein?

      Wichs oder Wilbur? Will am liebsten nur schrei’n.

      Wenn im Wald ein Baum fällt,

       kracht es laut oder ist nichts vernehmbar?

       Wird der Abgestempelte irgendwann sein Stempel?

       (tiefgründig, schon klar)

       Keine wird mich jemals lieben

       als Wichs

       Bin Außenseiter oder noch schlimmer

      ein Nix.

       Einer gehört angeklagt

       trägt Schuld an meinen Qualen

       Er weiß, wer er ist, doch sein Name bleibt ungesagt

      Ich stoß meinen Quäler, im Traum oder Wahn,

       in eines seelensaugenden Dementors Bahn

       Und wenn ich ihn vor eine Dampfwalze bugsiere

      bleibt nichts weiter übrig als klebrige Schmiere.

       von Wilbur Hernandez-Schott

      »Erzähl doch mal von deiner ersten Schulwoche nach den Ferien«, sagte Sal am Samstagmorgen zu mir. Wir standen vor unseren benachbarten Schließfächern in der Umkleide des jüdischen Gemeindezentrums und zogen uns aus. Ich tat mein Bestes, um nicht hinzugucken, weil a) Starren sehr unhöflich und b) Sal »fünfundachtzig Jahre jung« ist und somit sehr, sehr viele Falten hat, und zwar am ganzen Körper.

      »War ganz okay«, erwiderte ich. »Die Trudeau-Tonartisten haben viel geprobt. Mr P will, dass wir gut sind, wenn unsere Gäste kommen.« Der Leiter unserer Band, Mr Papadopoulos, war den Sommer über bei einer Schulorchesterkonferenz gewesen und hatte eine Dirigentin aus Paris kennengelernt. Es ging das Gerücht um, sie hätten richtig viel S-E-X gehabt und einen Schüleraustausch ausgeklügelt, damit sie einander wiedersehen konnten. Am Montag sollte das französische Orchester ankommen. »Wir haben die Namen der Leute gekriegt, die bei uns übernachten«, erzählte ich. »Meiner heißt Charlie Bourget.«

      »Charlie klingt nicht sehr französisch.«

      »Genau, finde ich auch! Ich hatte einen Yves erwartet, oder einen Jaques.« Unter dem Schutzmantel eines Handtuchs zog ich meine rote Badehose an. Ich habe nicht den Körper für eine Badehose; viel lieber würde ich sackartige Badeshorts tragen; aber Sal hat mir die Badehose zum Geburtstag geschenkt, und wer bin ich denn, dass ich meinen besten Freund beleidigen würde?

      Er hielt sich an meinem Arm fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und wir zogen los, langsam, aber stetig. Eigentlich hatte ich in diesem Kurs gar nichts zu suchen, frühestens in ungefähr fünfzig Jahren, doch Sal benötigte meine Hilfe im Umkleideraum, also wurde eine Ausnahme gemacht.

      Mup stand schon am Becken, ihre schwarzen Locken steckten unter einer Badekappe, ihr kräftiger Körper in einem marineblauen Badeanzug. Die anderen, die am Kurs teilnahmen – alles Frauen, alle weit über sechzig –, umringten sie. Dies ist einer von ihren drei Teilzeitjobs, und ich bin ziemlich sicher, dass sie den am meisten mag.

      Als die Damen uns erblickten, fingen sie an zu grinsen. »Unsere Jungens sind da!«, sagte Ruth Gimbel. Da wir die einzigen Männer im Kurs sind, behandeln sie Sal und mich wie Rockstars. Die Damen kneifen mich in die Wangen, wuscheln mir durchs krause Haar und bringen mir hausgemachtes Gebäck mit, was echt klasse ist.

      Doch wenn ich also quasi der Schlagzeuger der Band bin, dann ist Sal der Frontsänger und Mädchenschwarm. Die Damen lieben ihn. Mindestens vier von ihnen, einschließlich Ruth, flirten mit ihm, weil sie wissen, dass er Witwer ist und darüber hinaus einfach ein beeindruckender Mensch.

      Mup schaltete die Musik ein. »So, alle miteinander, ab ins Wasser!«

      Sal und ich hüpften ins Becken. In der folgenden Stunde ging ich auf eine Art und Weise aus mir raus wie sonst nirgendwo. Ich schleuderte die Arme hoch, schüttelte verwegen meine Schultern und tanzte unter Wasser Cancan.

      Aquagymnastik für alle ab 60+ zählt definitiv zu den Höhepunkten meiner Woche.

      Mup musste noch weitere Kurse geben, also liefen Sal und ich hinterher sehr langsam zum Royal Ontario Museum, das nur ein paar Straßen entfernt lag. (Sal schenkt mir jedes Jahr zu Weihnachten eine Junior-Mitgliedschaft und ich ihm jedes Jahr zu Chanukka eine Senioren-Mitgliedschaft.) Sal spähte in seine Leinentasche. »Was hast du heute erbeutet?«

      »Nanaimo-Riegel und Kekse mit Schokostückchen von den Zwillingen«, sagte ich. »Und du?«

      »Dasselbe. Und noch einen ganzen Schokoladen-Babka von Ruth.«

      »Sie steht so was von auf dich.«

      »Da gebe ich dir nicht Unrecht. Aber es ist noch zu früh.«

      »Irmas Tod ist drei Jahre her.« Ich hatte Sals Frau nie kennengelernt; sie war gestorben, bevor wir einzogen, aber ich wusste, dass sie ihm noch immer sehr fehlte.

      »Genau. Zu früh. Und außerdem, wenn du die Wahrheit hören willst, Ruth grabscht ganz gern mal. Heute im Becken hat sie mir drei Mal an meinen Derrière* gefasst.«

      »Woa. Dreist.«

      »Seh ich genauso.«

      Wir betraten das Museum und liefen ohne Umwege zu Fulton, so nennen wir das riesige Dinosaurierskelett, das das gesamte Foyer beherrscht. Unsere gemeinsame Begeisterung für alles, was mit Dinosauriern zu tun hat, gehörte zu den Dingen, die uns von Anfang an verbanden. Er lieh mir ein paar Bücher, und ich las ihm die Geschichten vor, die ich über einen freundlichen, aber scheuen Tyrannosaurus Rex mit dem recht einfallslosen Namen Tex geschrieben hatte.

      Fulton ist kein Tyrannosaurus; er ist die Nachbildung eines Futalognkosaurus, der vor Urzeiten Südamerika durchstreift hat. Er ist riesig. Seine Füße stehen auf zwei Metallklötzen mit ein paar Metern Abstand dazwischen.

      Wir legten uns, die Hände unterm Kopf, auf den Boden. Wir blickten nach oben und betrachteten Fultons Knochen. Das ist eine von Sals Lieblingsbeschäftigungen. »Stell dir mal vor, diese Lebewesen sind vor Millionen und Abermillionen von Jahren auf ebendiesem Planeten herumgelaufen! Das ist unglaublich. Unser Leben ist bloß ein Fliegenschiss. Gigantisch! Aber nichtsdestotrotz ein Fliegenschiss!«, sagt er gerne. »Was ist das Leben doch für ein Wunderwerk!« Sal steckt in dieser Hinsicht voller Weisheit; einen besten Freund zu haben, der einundsiebzig Jahre älter ist als ich, ist ein Geschenk.

      »Hast du dich mit Alex fürs Wochenende verabredet?«, fragte er, während wir Fultons wuchtigen Brustkorb anstarrten.

      »Nein. Ich hab’s versucht, aber … er hatte schon was vor.«

      »Der Freund?«

      Ich nickte.

      »Ah. Sehr schade. Manche Leute drehen ein bisschen durch, wenn sie sich in den ersten Zügen einer Romanze befinden.«

      »Ist schon okay. Dafür kann ich mehr Zeit mit dir verbringen.«

      »Du brauchst auch gleichaltrige Freunde, Wilbur. Ich habe Freunde in meinem Alter.«

      »Sal. Wilbur.« José, die Samstagsaufsicht, türmte sich über uns auf. Seine Uniform spannte über seinen Muskeln. »Ihr wisst, was jetzt kommt.«

      Sal und ich sagten einstimmig: »Ihr könnt hier nicht auf dem Boden liegen. Ihr gefährdet euch und andere.« José ergriff Sals ausgestreckte Hand und half ihm hoch. Er reichte Sal seinen Filzhut.