runzelte die Stirn. Erschrocken sah sie mich an. Ich brauchte einen kurzen Augenblick.
»Nein! Es ist nicht … ich schwöre, das ist nicht für … das ist für Templeton! Meinen Hund!«
»Quoi?«
»Um seine Analbeutel auszudrücken. Das ist eine Krankheit, die manche Hunde kriegen. Wir können es uns nicht leisten, ihn dauernd zum Tierarzt zu bringen, also habe ich gelernt, wie man es zu Hause macht.« Sie schaute mich verständnislos an, und mir war klar, dass sie keine Ahnung hatte, wovon ich redete. »Ich ziehe nur die Handschuhe an« – ich tat so, als würde ich die Handschuhe überstreifen –, »dann nehme ich etwas von der Vaseline« – ich tat so, als würde ich Vaseline auf meinen Finger schmieren –, »dann stecke ich meinen Finger in sein Rektum, suche die Analbeutel und drücke den Inhalt auf ein Papiertaschentuch …« Diesen Teil stellte ich ebenfalls nach.
»Du bist ein Tierliebhaber.«
»Ja! Ja genau, ich bin ein Tierliebhaber.«
Sie stürzte aus meinem Zimmer und die Treppe hinunter.
Kurz darauf hörte ich sie schreien.
Ich hätte vermutlich auch geschrien, wenn ich einem Zombie begegnet wäre. Charlie war gerade dabei, Mademoiselle Lefèvres Telefonnummer zu wählen, als Mum zur Tür hereinkam, direkt vom Filmset von, wie sie es nennt, The Walking Dead für Arme. Die Maskenbildnerin hatte alles gegeben; es sah wirklich so aus, als sei die Hälfte ihres Gesichts verfault.
Zum Glück kann Mum ganz gut Französisch, also war sie in der Lage, Charlie ziemlich schnell zu beruhigen. Ein paar Minuten später lachten die beiden in der Küche, während Mum Teewasser aufsetzte.
»Oh, Wil«, sagte Mum. »Erst dachte sie, du seist onaniesüchtig. Und dann dachte sie, du treibst es mit dem Hund!« Ich versuchte zu lachen, aber ich war ziemlich beleidigt. Als würde ich es jemals mit einem Hund treiben.
Sal schickte mir eine Nachricht, als Charlie und ich gerade dabei waren, den Tisch fürs Abendessen zu decken.
Was macht dein Austauschschwuler?
Sal hasst es, mit dem Daumen zu tippen, und sein Sehvermögen ist nicht unbedingt das beste, also muss ich ab und zu die Rechtschreibfehler und Autokorrekturen in seinen Nachrichten entschlüsseln.
Mein Austauschschüler ist ein Mädchen. Charlie = Charlotte.
Wie deine Lieblingsspinne!, antwortete Sal.
Sal und ich tauschten öfter mal Bücher aus, und ich hatte ihm vor Kurzem meine heiß geliebte Ausgabe von Wilbur und Charlotte geliehen.
Aber hübscher, tippte ich. Und ohne acht Augen und Beine.
Dem Hummel sei Dank.
Willst du zum Essen rüberkommen?
Wer kocht?
Norah.
…
Esse lieber hier, danke.
Sal schätzt Mums Essen ebenso sehr wie wir anderen auch.
Mup kam erst nach Hause, als wir uns gerade zum Essen hinsetzten. Sie trug ihre Arbeitshose und einen alten Pulli und war mit Fellbüscheln übersät. »Stanley und Daisy waren heute richtige Teufelsbraten«, sagte sie.
»Du arbeitest mit Kindern?«, fragte Charlie.
»Mit Hunden. Ist also fast dasselbe. Außer, dass die meisten Kinder auf die Toilette gehen können.« Mup arbeitet ein paarmal die Woche in einer Hundetagesstätte – ihr dritter von drei Jobs.
Während des Abendessens entspannte ich mich, denn ich wusste, die Mumps würden das Gespräch am Laufen halten. Templeton lag zu meinen Füßen und hoffte auf Abfälle. Mum, die das Make-up entfernt und ihre Jogginghose angezogen hatte, kredenzte uns eine ihrer Spezialitäten, einen fleischlosen Hackbraten.
»Heute bin ich am Set zur Statistin mit besonderen Fähigkeiten befördert worden«, erzählte sie. »Der Regisseur hat mich in der Nahaufnahme gefilmt, wie ich jemandem den Arm abkaue. Ich durfte ›Aaaaaaaaaaarrhh‹ sagen.«
»Sehr überzeugend«, sagte ich.
»Mir ist es kalt den Rücken runtergelaufen«, stimmte Charlie zu.
»Erzähl uns noch ein bisschen von dir, Charlie«, sagte Mup. »Hast du Geschwister?«
»Non. Ich bin ein Einzelkind, wie Wilbur. Ich wohne bei meinem Vater.«
»Und deine Mutter …?«
»Sie ist nicht mehr bei uns.«
Ich legte meine Gabel beiseite. Ein Kloß formte sich in meinem Hals. Ich hatte Angst, ich könnte anfangen zu weinen, denn das war millionenmal schlimmer als das Lied von Sarah McLachlan. »Das tut mir sehr leid«, sagte ich. »Wann ist sie …?«
»Als ich sieben war.«
»Wie ist sie …?«, fragte Mup.
»Zug.«
Alle drei versuchten wir, unsere Bestürzung zu verbergen. »Sie wurde vom Zug überfahren?«, fragte ich.
Charlie wirkte verwirrt. Dann fing sie an zu lachen. »Oh non! Ich habe es nicht gut erklärt. Als ich sieben war, nahm sie den Zug nach Südfrankreich mit ihrem Freund! Sie ist am Leben.«
Allesamt atmeten wir auf. »Gottseidank«, sagte Mum. Und dann: »Warum hat sie dich nicht mitgenommen?«
»Sie sagte, sie müsse ihrem Herzen folgen. Ich verbringe die Sommerferien bei ihr.«
Die Mumps sahen schon wieder ganz entsetzt aus. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich mich fühlen würde, wenn eine von ihnen wegginge, um ›ihrem Herzen zu folgen‹. Es war zu traurig, um darüber nachzudenken.
Mum holte die Karussell-Keksdose herunter und machte einen Teller mit ihren Quinoa-Ecken zurecht. »Ihr esst wohl viele Kekse«, sagte Charlie und betrachtete die mehr als zwanzig Dosen, die auf den Schränken aufgereiht standen.
»Nö«, sagte Mup. »Wir wohnen bloß mit einer Hamste-, Verzeihung, einer Sammlerin zusammen.«
»Sie verschaffen mir gute Laune«, sagte Mum. »Was macht dein Vater, Charlie?«, wechselte sie das Thema.
»Er ist ein Intellektueller.«
»Ich meinte, als was arbeitet er?«
»Als Intellektueller.«
Mup pfiff. »Wow. Ich glaube nicht, dass das in Nordamerika eine Berufsbezeichnung ist. Hier gilt es eher als Beleidigung. Insbesondere in der Politik.«
»Aber das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Charlie. »Man will doch, dass Menschen in der Politik klug sind, non?«
Mum lächelte betrübt. »Möchte man meinen, nicht wahr?«
»In Frankreich schätzen wir sachkundige Meinungen.« Charlie biss ein Stück von der Quinoa-Ecke ab. Ihre Augen wurden größer. Kurz darauf sah ich, wie sie den Rest des Gebäcks für Templeton auf den Boden fallen ließ, der ihn verschlang, weil er buchstäblich alles frisst, einschließlich, aber nicht ausschließlich Zigarettenstummeln, schmutziger Unterwäsche und seiner eigenen Kotze.
»Was macht er genau?«, fragte ich.
»Er schreibt für Zeitungen und Zeitschriften. Er veröffentlicht Essays. Und er tritt oft im Fernsehen auf. Mein Vater und ich, wir streiten andauernd, aber nicht im Bösen. Er will, dass aus mir eine kritische Denkerin wird.«
Ich nickte und versuchte so auszusehen, als würde ich kritisch denken. Doch in meinem Kopf kreiste der Gedanke Sie spielt in jeder Hinsicht in einer anderen Liga als ich.