Maximilian Mondel

Die Anbetung der Könige


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hat die Kiste hergebracht? Und warum haben Sie mich nicht gleich gerufen?«, zischte Poletti, nachdem er sich in einem gefühlt zehn Minuten dauernden Ritual von der sechsköpfigen Delegation aus China verabschiedet hatte.

      »Vorsicht«, ereiferte sich Bruzzo, als Poletti die Kiste auf die Seite drehte, wo nun Luftschlitze erkennbar waren.

      »Bruzzo, bitte, was soll schon sein? Es ist eine Babyschlange, haben Sie doch gesagt«, schnaubte der studierte Zoologe verächtlich.

      Die Kiste war auffällig leicht, fand Poletti, und dann sah er den rund 40 Zentimeter langen Sprung quer über die Luftschlitze. Ohne zu zögern, hob er die Kiste in die Höhe und schüttelte sie. Ein wenig Stroh rieselte heraus, ansonsten bewegte sich nichts.

      Vorwurfsvoll blickte er zum Portier: »Bruzzo, bei allem Respekt: Zuerst lassen Sie mich im ganzen Haus suchen wie einen Schwerverbrecher. Und jetzt das! Wo, zum Henker, ist die Schlange? In der Kiste ist sie nämlich nicht!«

      EINE EREIGNISREICHE NACHT

      Es war knapp nach halb elf. Die Dunkelheit legte sich über die Restaurationswerkstatt im Zentrum von Florenz. Der Nachtportier Giovanni Fiore hatte um zehn nach zehn den letzten noch im Haus befindlichen Mitarbeiter verabschiedet und seine Runde durch das Gebäude vollendet. Boa constrictor hatte er, nicht anders als vermutet, keine gesehen. Der Schürhaken in seiner rechten Faust war nicht zum Einsatz gekommen. Soll sich doch Bruzzo tagsüber darum kümmern, dachte sich der schmächtige Enddreißiger, der von seinen Kollegen oft als »unser Philosoph« tituliert wurde, weil er stets mit dicken Schmökern zur Arbeit erschien. Der Chef der Portierstruppe war ganz aufgelöst gewesen, als Fiore sich um 21.50 Uhr zum neunstündigen Nachtdienst bei der Portiersloge eingefunden hatte. Die auch gegenüber Bruzzo mehrfach geäußerte Theorie von Fiore lautete: »Es handelt sich um einen üblen Scherz, und in der Kiste war gar keine Schlange.« Und nachdem die Belegschaft in einer improvisierten Mitarbeiterversammlung über die angebliche Babyriesenschlange informiert und zu Vorsicht sowie Stillschweigen gegenüber der Presse angehalten worden war, war man wieder zur Tagesordnung übergegangen. Die lokale Tierrettung und ein Riesenschlangenexperte aus Rom waren jedenfalls für den kommenden Morgen um acht Uhr ins OPD bestellt worden. Er, Fiore, würde dann allerdings bereits im Land der Träume weilen, seine Schicht endete schließlich um sieben Uhr, inklusive Übergabe spätestens um 7.15 Uhr. Schon erstaunlich, wofür es alles Experten gibt, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Riesenschlangenexperte in Italien. Absurd. Vielleicht sollte er auch Experte für irgendetwas werden und saftige Honorare kassieren, dann müsste er nicht vier Tage in der Woche als Nachtportier im Opificio delle Pietre Dure schuften. Experte für Alarmanlagen war er ja schon, murmelte Fiore zu sich selbst, während er die Anlage kontrollierte. Er registrierte keine Unregelmäßigkeiten und machte es sich darauf mit der von Bruzzo hinterlassenen »Gazzetta dello Sport« in der Portiersloge bequem.

      Zuvor warf er noch einen kurzen Blick auf das interne Memo, in dem die Geschäftsführung nachdrücklich darauf hinwies, dass unternehmensfremde Personen – auch Angehörige – unter keinen Umständen von der Boa constrictor erfahren dürften, auch und vor allem, weil man sich angesichts der Konkurrenz aus Turin keine negativen Presseberichte leisten könne. Unterzeichnet hatte das Memo Direttore Collocini, der nicht nur unter den Portieren weitaus beliebter war als der mitunter pedantische kaufmännische Direttore Poletti. Fiore würde jetzt noch eine Stunde Zeitung lesen, danach einen Rundgang machen – mit dem Schürhaken bewaffnet – und sich anschließend aufs Ohr hauen.

      Zur gleichen Zeit setzte sich zwei Stockwerke oberhalb der Portiersloge in einem Raum mit Putzutensilien ein Mann in einem dunkelgrünen Overall eine Schirmkappe auf. Sowohl der Overall als auch die Kappe wiesen ihn als Mitarbeiter von Mondo Animali aus. »Lorenzo Di Pasquali« stand auf einem Namensschild mit Logo zu lesen. Die vergangenen Stunden hatte der Mann unter anderem damit zugebracht, aus Kunststoffstäben und Steckvorrichtungen sowie einer Kunststoffplane eine 30 Zentimeter tiefe, 260 Zentimeter lange und 260 Zentimeter breite Transportkiste zu basteln. Die Vorderseite zierte das grüne Logo von Mondo ­Animali, auf der Rückseite prangte in großen Lettern »Attenzione, Serpente soffocato!« – »Achtung, Würgenschlange!«

      Di Pasquali, der Baumwollhandschuhe trug, öffnete nun vorsichtig die Tür der Putzkammer, trat auf den Gang hinaus, versicherte sich noch einmal, dass sein Tun von keiner Sicherheitskamera und keinem Bewegungsmelder verfolgt wurde, und warf einen prüfenden Blick auf die verschlossene Tür des Labors, hinter der die Gemälde auf Leinwand und Holz restauriert wurden. Die überdimensionale Transportkiste hatte er in der Putzkammer zurückgelassen. Er zog einen walnussgroßen Stein aus der Jackentasche, zielte und traf. Als das Türglas zerbarst, hatte der Stein ein Loch von rund vier Zentimeter Durchmesser hinterlassen, und zwei Stockwerke tiefer schlug, um exakt 22.40 Uhr, in der Portiersloge die Alarmanlage an. Di Pasquali hatte sich unterdessen gleich wieder in sein Putzkämmerchen verzogen und wartete nun, dass der Nachtportier auf den Plan trat.

      Giovanni Fiore wollte sich gerade den Vorbericht zum morgigen Meisterschaftsspiel von Florentina gegen Bologna durchlesen, da heulte die Sirene los. In weniger als drei Sekunden landete die »Gazzetta dello Sport« auf dem Tisch, und Fiore hatte den Entwarnungsknopf für die Eingangstür zur Restaurationswerkstatt an der Alarmanlage gedrückt. Dass die Carabinieri ausgerechnet heute bei ihm aufkreuzten, musste er unter allen Umständen vermeiden: Erstens wäre das mit mühseliger Schreibarbeit verbunden, zweitens würde ihn Chefportier Bruzzo elendslang befragen, warum es notwendig gewesen sei, die Polizei ins Haus zu holen, und drittens durfte die Geschichte mit der abhanden gekommenen Boa constrictor keinesfalls an die Öffentlichkeit dringen. War die Polizei erst mal im Haus, würde die lokale Presse in Windeseile von der entkommenen Boa erfahren, und das Opificio delle Pietre Dure wäre zumindest für einen Tag das Gespött von ganz Florenz. Mit diesen wenig erquicklichen Gedanken machte sich Fiore auf den Weg zum Labor in die zweite Etage: Bewaffnet mit einer Taschenlampe in der linken und dem Schürhaken in der rechten Hand, nahm er jeweils drei Stufen auf einmal. Diesem Biest würde er es zeigen! Ihm die Nachtruhe stehlen und Arbeit ohne Ende aufbürden! Diese verdammte Boa! Fiore schnaubte entschlossen und nahm den Schürhaken noch etwas fester in die Hand.

      Als das Licht der Taschenlampe die Tür zum Labor für die Gemälderestaurierung erfasste, sah Fiore sofort das golfballgroße Loch in der Milchglasscheibe. Im Nu hatte er seinen Schlüsselbund hervorgekramt, die Tür geöffnet und sämtliche Lichtschalter betätigt. In Türnähe war der Boden mit Glassplittern übersät, aber sonst schien alles normal zu sein. Das Da-Vinci-Gemälde, dessen Inhalte in den vergangenen Monaten von Tag zu Tag deutlicher zum Vorschein gekommen waren, befand sich noch immer in seinem Holzrahmen. Und auch sonst gab es nichts, was Fiore, der nun immer weiter ins Labor vordrang, verdächtig schien. Ein Knacken hinter seinem Rücken ließ ihn herumfahren. Er bog um eine Staffelei, umrundete einen Schreibtisch, und da lag sie: eine Maus, deren Zustand mit mausetot ziemlich treffsicher beschrieben werden konnte. Ein, zwei Schritte noch, und Fiore war wieder bei der Tür angelangt. War da nicht was? Diese Boa kann was erleben, fluchte er vor sich hin, während seine Faust den Schürhaken so fest umklammerte, dass die Adern auf dem Handrücken hervortraten. Fiore warf einen Blick nach links und rechts und entschied sich, den Gang nach rechts zu nehmen. Zwanzig Meter weiter lag erneut eine T-Kreuzung vor ihm. Noch bevor er sich ein weiteres Mal mit der Links-oder-rechts-Frage auseinandersetzen konnte, schrillte erneut die Alarmanlage. Fiore machte auf dem Absatz kehrt, hetzte an der noch immer offenstehenden Tür zur Restaurationswerkstätte vorbei und nahm im Stiegenhaus drei Stufen auf einmal, inständig hoffend, seine Portiersloge rechtzeitig zu erreichen, bevor der verdammte Alarm an die Carabinieri und den Securitydienstleister des Opificio delle Pietre Dure weitergeleitet wurde.

      Zwei Etagen höher machte sich unterdessen der Mann in der Mondo-Animali-Uniform daran, die »Anbetung der Könige« mit flinken und routinierten Handgriffen aus dem Holzrahmen zu entfernen. Behutsam berührte er das jahrhundertealte Gemälde mit seinen Baumwollhandschuhen, genau dort, wo dies auch die Restauratoren des OPD tun würden, und beförderte es in weniger als sechs Minuten in die Transportbox von Mondo Animali. Vorbereitung ist die halbe Miete, wusste Di Pasquali: Er hatte nichts dem Zufall überlassen und Eckenschoner aus Styropor mitgebracht, die das Bild in der mit Rädern ausgestatteten Transportbox schützen und zugleich stabilisieren sollten. Weitere