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Vom Träumen und Aufwachen


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Sport. Wer während des Stimmbruchs vorsingen musste und ausgelacht wurde, der singt später vielleicht nie wieder. Was kommt da alles nicht in die Welt!? Was bleibt da verborgen aus Angst, ausgelacht zu werden!?

      •Lügen: Wenn das Umfeld so ist, dass es als existenzielle Bedrohung erlebt wird, bei einem Fehler ertappt zu werden (das genau bedeutet traumatische Scham: Überlebensangst), dann kann man nicht einfach sagen: »Ja, ich habe diesen Fehler gemacht.« Vielmehr muss man dann lügen, schummeln, abschreiben, die Schuld anderen zuweisen, Rechtfertigungen vorbringen u. v. a.

      •Perfektionismus: Aus Angst, ausgelacht zu werden, gibt man alles, um perfekt zu sein.

      •Ein weiterer Abwehrmechanismus ist emotionale Erstarrung: »Schwache«, weiche Gefühle wie Liebe, Güte, Empathie, Hoffnung, Trauer, Schmerz oder Scham zu zeigen macht ja verletzbar. Da ist es scheinbar viel sicherer, sich hinter einer Fassade von Coolness zu verbergen. Lehrer wissen, wie das ist, vor 20 oder 30 »coolen« Schülergesichtern zu unterrichten: ohne Nicken, ohne Lächeln, ohne Resonanz. Emotionale Erstarrung wurde häufig beobachtet bei Überlebenden von traumatischen Erfahrungen, zum Beispiel bei Kriegsveteranen. Dies kann zu einer alles durchdringenden, chronischen Langeweile werden. Diese wiederum kann zu Depressionen führen, im Extrem bis zum Suizid. Wenn Rot die Farbe der Scham ist, gilt häufig: »Lieber tot als rot.«

      •Schließlich Sucht: Eine Schülerin hat mich darauf hingewiesen, dass sie sich ritzt, um Schamgefühle nicht zu spüren. Dies kann zu einem Teufelskreis führen, der auch im Roman Der kleine Prinz beschrieben wird. Darin sagt der Alkoholiker, zusammengefasst: »Ich trinke, weil ich mich schäme, und ich schäme mich, weil ich trinke.« Ich habe trockene Alkoholiker mehrfach an langen Wochenenden begleitet. Es war immer sehr berührend, wenn die Teilnehmenden von diesem jahrzehntelangen Teufelskreis sprachen.

      Soweit einige verbreitete Abwehrmechanismen; die Liste ließe sich fortsetzen. Manchmal frage ich in berufsspezifischen Fortbildungen: »Welche Abwehrmechanismen sind in Ihrem Berufsfeld verbreitet?« Hierauf antworten zum Beispiel Ärzte oder Rechtsanwälte häufig: »Fremdwörter«. Vieles könnte man gut auch auf Deutsch sagen. Aber wenn man es auf Lateinisch sage, fühlt man sich sicherer, während Zuhörende gezwungen werden, sich dumm und inkompetent zu fühlen.

      Die Pointe bei den verschiedenen Abwehrmechanismen ist, dass jedes System (z. B. eine Berufsgruppe, Subkultur, Clique usw., aber auch jede Gesellschaft) sich aus den vielen möglichen Abwehrmechanismen wie aus einem ABC ein Set von Verhaltensweisen zusammensetzt, die hier gewünscht sind. Eben etwa Fremdwörter in bestimmten Akademikerkreisen.

      Wenn ich auf das gesellschaftliche Klima der alten Bundesländer, in denen ich groß geworden bin, zurückblicke, dann fallen mir unmittelbar z. B. folgende erwünschte Abwehrformen ein: Projektion und Perfektionismus: Alles Unerwünschte konnte bequem auf die andere Seite des sogenannten Eisernen Vorhangs projiziert werden. Wie köstlich amüsierten sich viele Wessis über die sogenannte Primitivität der »Ostzone« bzw. der »sogenannten DDR« und ihre Autos. Arroganz und Coolness: Dies beginnt schon mit der Art und Weise, auf die viele Auto fahren. Eine französische Journalistin schrieb einmal, dass viele Franzosen den Deutschen nicht übelnähmen, dass, sondern wie sie Mercedes fahren.

      Soweit einige weitere Beispiele für verbreitete Schamabwehrmechanismen. Vielleicht haben Sie den einen oder anderen in Ihrer jeweiligen Arbeit mit Menschen auch schon erlebt. Ich hoffe, es wurde deutlich, wie unbewusste und abgewehrte Schamgefühle häufig das eigene Leben oder/und die zwischenmenschlichen Beziehungen vergiften. An dieser Stelle mache ich in Seminaren eine Arbeitsgruppenphase. Die Teilnehmenden bilden Dreiergruppen und tauschen ihre Beobachtungen zu folgender Frage aus: »Hinter welchen Verhaltensweisen verbirgt sich vielleicht die Scham meiner Klienten oder Klientinnen?« Nach 20 Minuten tragen wir zusammen, was besprochen wurde, und dann wird es immer richtig schwer, weil deutlich wird: Abgewehrte Schamgefühle vergiften häufig die zwischenmenschlichen Beziehungen. Zum Beispiel berichten Pflegekräfte an dieser Stelle typischerweise: »Ich mache die Tür auf, um einen alten Menschen zu pflegen, und werde bespuckt, gekratzt, beleidigt, geschlagen.« Das ist Alltag für viele Pflegekräfte. Um auf die Metapher zurückzukommen: Wenn ich als Pflegekraft ausgeschlafen, gesund, gut in Tagesform bin, wenn mein Glas halb leer ist, kann ich das vielleicht noch gut abfedern. Aber was ist, wenn mein Glas schon randvoll ist, ehe ich überhaupt an die Tür klopfe und sie öffne?

      Es gibt ein spannendes Buch über Gewalt in der Pflege von Katharina Gröning (2001). Sie beschreibt, dass Pflegekräfte nicht gewalttätig handeln, weil sie »böse« sind, sondern (übersetzt in meine Metapher) weil das Glas schon randvoll war, ehe sie an die Tür geklopft haben: weil sie im Stress sind, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen.

      Ich kenne viele Pflegekräfte, die sagen: »Um meinen Arbeitsplatz zu behalten, muss ich schnell, schnell machen. Ich schäme mich, so mit den alten Menschen umzugehen!« Oft sind es die Rahmenbedingungen, die uns in die Scham zwingen.

      Wenn also mein Glas schon randvoll ist (zum Beispiel aufgrund der Pflegebedingungen) und ich dann noch zusätzlich bespuckt, gekratzt, beleidigt, geschlagen werde, dann kann es geschehen, dass ich selber in die Schamüberflutung rutsche. Jetzt haben wir zwei Personen vis-à-vis, jede im Modus des Reptilienhirns – dies kann zu einem eskalierenden Konflikt führen.

      Abschließend schildere ich denselben Mechanismus aus einem anderen Berufsfeld.

       Scham und Schule

      Einer meiner ersten Lehrerfortbildungen vor vielen Jahren war ein ganzer Tag mit dem Kollegium eines Gymnasiums (60 Gymnasiallehrkräften) zum Thema »Scham«.

      Nach der Einführung meldet sich ein älterer Lehrer und sagt: »Also, Herr Dr. Marks, als ich vom Thema dieser Fortbildung hörte, war ich ziemlich skeptisch. Eben erst ist mir bewusst geworden, wie sehr ich als Schüler gelitten habe unter den Beschämungen durch meine Lehrer und dass ich die ganzen Jahrzehnte als Lehrer dasselbe an meinen Schülern wiederholt habe.« Es war mucksmäuschenstill im Raum. Das ist genau der Punkt: Jeder Lehrer, da bin ich überzeugt, beginnt mit dem Wunsch: »Ich möchte mal ein besserer Lehrer werden, als ich es selbst erlebt habe. Ich möchte meine Schüler mal nicht beschämen.«

      Aber wenn es eng wird, wenn Stress kommt, wenn es schnell, schnell gehen muss, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, wenn man sich als Lehrer schämen muss, eine verfehlte Bildungspolitik zu vertreten, wenn man in versifften, verdreckten Schulgebäuden unterrichten muss … Was muten wir unseren Lehrern und Schülern zu? Wenn man dazu noch gesellschaftlich verachtet wird als »fauler Sack« und dann vielleicht noch von einem Schüler provoziert wird: Dann kann geschehen, dass ich als Lehrer in die Schamüberflutung rutsche. Dann dominiert das Reptiliengehirn, und natürlich missglückt dann eine Schulstunde. Ich kenne Lehrer, denen so etwas passiert, die im Lehrerzimmer davon berichten und sich dann von Kollegen anhören müssen: »Ich weiß gar nicht, was du hast, ich habe die Klasse im Griff, das ist mir noch nie passiert.«

      Dann gehen die Türen zu! Denn natürlich möchte ich nicht noch einmal beschämt werden von meinen Kollegen. Ich möchte nicht noch einmal, dass Kollegen mitbekommen, dass ich eine Klasse »nicht im Griff« habe. Viel Scham entsolidarisiert: So geht ein Team kaputt, dann macht jeder nur noch »sein Ding«.

      Was wir jedoch brauchen, sind Orte, an denen ich mit meinen Schamerfahrungen sein darf und nicht zusätzlich noch beschämt werde: das Team als Raum der Würde, wie ich dies nenne. Ein Ort, an dem ich Verständnis und unter Unterstützung erfahre:

      »Ja, das ist schrecklich, was dir passiert ist. Da kann ich mich einfühlen. Wie können wir dich unterstützen? Was müssen wir hier ändern, dass so etwas nicht wieder passiert?« Solche »Räume der Würde« können wir dann schaffen, wenn wir in Kontakt mit der Scham sind. Erst ein bewusster Umgang mit Scham eröffnet die Möglichkeit, dass die jeweilige Arbeit mit Menschen in würdevoller Weise geschehen kann. Lasst uns damit anfangen, in der Beratung, in der Therapie, in der Supervision.

       Literatur