Vorläufer der Scham beginnen, nach Leon Wurmser, mit dem ersten Blickkontakt. Das heißt, wenn wir mit Schamgefühl zu tun haben, ist dies nicht nur eines von vielen Gefühlen, sondern eins, das ganz an den Anfang, an den Kern der Existenz geht.
Zweitens ist wichtig, ob ein Mensch mit Wut und Verachtung angeschaut wird, wie in Rushdies Romanszene, oder mit Liebe und Anerkennung. Es geht also gar nicht um komplexe Kommunikationstechniken, sondern um die Qualität des Blicks. Wie schauen wir? Das kennen wir wahrscheinlich alle: Ob die Beziehung zum Beispiel mit einem Klienten oder einer Klientin gelingt, entscheidet sich oft schon mit dem ersten Blickkontakt.
Das Interessante am Blickkontakt ist, dass wir ihn ja nur bedingt »machen« können. Es geht also nicht um aufgesetzte Kundenfreundlichkeit. Meiner Frau und mir ist das neulich passiert: Wir kommen in ein Restaurant und sind die einzigen Gäste. Es ist deutlich spürbar, dass wir den Kellner stören. Endlich kommt er dann doch auf uns zu und zieht im letzten Moment noch die Mundwinkel nach oben (offenbar hat er irgendwann ein Kundenfreundlichkeitstraining absolviert) und sagt: »Ja, bitte?«, »Bitte schön!«, »Gerne«. Das hat vorne und hinten nicht gestimmt. Die ganze Haltung signalisierte: »Lassen Sie mich in Ruhe«, darüber war aufgesetzte Kundenfreundlichkeit. Darum geht es mir nicht, sondern um eine Haltung. Und eine Haltung der Menschenwürde erreichen wir, wenn wir in Kontakt sind mit der Scham. Was ich damit meine, möchte ich mit einer anderen Begebenheit illustrieren: Ein Bekannter berichtete von einem Besuch bei der Familie der Tochter. Im Laufe des Besuchs hat das Enkelkind die Oma gehauen, bis Letztere irgendwann sagte: »Tobias, hör auf, du tust mir weh!« Jetzt schämt sich der kleine Tobias und kommt zum Opa, um zu kuscheln. Da sagt der Opa: »Tobias, du brauchst dich aber nicht zu schämen.«
Hm … würden wir so mit Trauer umgehen? Wenn ein Kind trauert, weil die geliebte Schwester gestorben ist, würden wir ihm sagen: »Du musst aber nicht traurig sein«? Natürlich darf ein Kind trauern. Und genauso, denke ich, darf Tobias sich schämen. Weil die Scham so schmerzhaft ist, steckt für ihn das Entwicklungspotenzial drin: »Das tue ich nie wieder!« Wenn wir – gut gemeint – Tobias die Scham nehmen, nehmen wir ihm die Chance für moralische Entwicklung. Ich vermute, dass der Opa die Scham seines Enkels nicht ausgehalten hat. Wenn aber der Opa in Kontakt wäre mit seiner Scham, dann könnte er die Haltung vermitteln: »Tobias, ich kenne die Scham. Ich weiß, wie schmerzhaft sie ist. Von daher kann ich einfühlen, wie du dich fühlst. Willkommen, hier darfst du sein mit deiner Scham. Ich werde deine Scham nicht banalisieren. Ich nehme dich ernst mit deiner Scham. Ich werde dich aber auch nicht zusätzlich verspotten oder verhöhnen.« – Dies ist die Haltung, um die es mir geht.
Wie finden wir in der Arbeit mit Klienten eine Haltung, sodass sie spüren: »Hier darf ich sein mit meiner Scham. Hier werde ich damit ernst genommen.« So wie wir von Trauerarbeit sprechen, so spreche ich von Schamarbeit. Beides ist schmerzhaft.
Drittens weist Rushdies Roman auch auf die transgenerationale Qualität der Scham hin:
Unbewusste Schamgefühle können über viele Generationen weiterwirken. Viele Menschen fragen sich: »Warum sind die Deutschen eigentlich so, wie sie sind?« Ich bin überzeugt, um diese Frage zu beantworte, müssen wir mindestens bis zu unserem großen Trauma zurück, dem Dreißigjährigen Krieg. Wir denken, 400 Jahre seien ewig lang her. Psychologisch ist das aber gerade sozusagen um die Ecke.
Sigmund Freud hat mal geschrieben: »Das Unbewusste ist zeitlos« (Freud 1915, S. 145). Das heißt, bei unbewussten Prozessen brauchen wir ein ganz anderes Zeitkonzept …
Wer das damals überlebt hat, 30 Jahre – der war wahrlich traumatisiert. In manchen Gegenden überlebte ein Drittel der Bevölkerung oder noch weniger. Magdeburg zum Beispiel wurde fast völlig ausgelöscht. Wir wissen heute aus der Traumaforschung und Familientherapie, dass Überlebende von Folter, Vergewaltigung, auch die Täter, mit massiven Schamgefühlen zurückbleiben. Und wenn die nicht aufgearbeitet werden, wirken sie weiter und weiter. Das hat dann (natürlich in Kombination mit vielen anderen Einflüssen) zum Ersten Weltkrieg geführt, zur Weimarer Republik, zum Zweiten Weltkrieg, Holocaust und so weiter und so weiter.
Dieses unbewusste Weitergießen von Schamgefühlen, durch immer neue, fortgesetzte Beschämung, dies haben wir über Jahrhunderte praktiziert, in der Schule, im Umgang miteinander. Ich finde, es reicht! Es ist wirklich an der Zeit, damit aufzuhören und Würde in die zwischenmenschlichen Beziehungen einzuführen, in der Beratung, in der Schule, im Umgang miteinander in West und Ost u. v. a.
Universalität von Scham
Scham ist universell. Schon die im Alten Testament beschriebenen allerersten Menschen erlebten Scham. Das heißt, Scham beginnt dort, wo der Mensch beginnt. Jeder Mensch kennt die Scham (abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen, wenn etwa so etwas vorliegt, das wir einen »Gehirndefekt« nennen). Jeder Mensch kennt die Scham, was nicht bedeutet, dass wir die Schamgefühle unseres Gegenübers so ohne Weiteres erkennen.
Jeder Mensch kennt die Scham, aber sie ist individuell unterschiedlich. Meine Geschichte mit Scham ist anders als Ihre: weil wir verschiedene Familiengeschichten haben, weil wir in verschiedenen Teilen Deutschlands aufgewachsen sind usw. Aber es geht noch weiter:
Boris Cyrulnik (2011), ein französischer Neuropsychiater, schätzt, dass jedes fünfte oder sechste Kind mit einer genetischen Besonderheit geboren wird, die dazu führt (übersetzt in die Metapher, die ich hier verwende), dass sie sozusagen wie kleine Gefäße sind. Das müssen wir erst einmal akzeptieren. Es hilft nicht, einen »kleingefäßigen« Menschen jetzt noch zusätzlich zu beschämen: »Stell dich nicht so an!«, »Jetzt seien Sie mal nicht so überempfindlich!« Es hat seine guten Gründe, dass manche Menschen wie ein kleines Gefäß sind: familiengeschichtliche, gesellschaftliche, häufig auch genetische Gründe.
Dies muss jedoch kein lebenslängliches Schicksal sein. Stellen wir uns vor, ein »kleingefäßiges« Menschenkind wird geboren in eine Familie, in der die Eltern liebevoll, würdeachtend miteinander umgehen. Dann kann das Gefäß allmählich weiter werden. Aber wenn die Eltern vielleicht selber traumatisiert sind oder das Kind schlagen oder verächtlich mit ihm umgehen, dann wird das Kind gezwungen, auf seine »Kleingefäßigkeit« zurückzuschrumpfen. Und Jahre, Jahrzehnte später, wenn so ein »kleingefäßiger« Mensch zu Ihnen in Beratung oder Therapie kommt, ist es wichtig, dass Sie mit ihm so umgehen, dass das Gefäß weit werden kann. Und vielleicht erlebt ein Klient bei Ihnen zum allerersten Mal in seinem Leben, wie es ist, ein großes Gefäß sein.
Hinzu kommen Unterschiede, wofür Männer bzw. Frauen sich jeweils schämen und womit sie möglicherweise unterschiedlich umgehen; dazu gleich mehr.
Außerdem gibt es kulturspezifische Unterschiede, d. h., wenn wir mit Menschen aus anderen Kulturen, aus anderen Ländern, aus anderen Schichten (als denen, denen wir selbst angehören) arbeiten, dann ist die Scham vielleicht ganz anders angeordnet, es gibt andere Umgangsweisen, Grenzen, Begriffe. Da hilft es nicht zu sagen: »Mein Umgang mit Scham ist universell gültig.« Zum Beispiel tragen bei den Tuareg in Nordafrika traditionell Männer einen Gesichtsschleier, und wenn ein traditioneller Tuareg in der Öffentlichkeit den Schleier abnehmen muss, dann fühlt er sich so, wie wir uns fühlen würden, wenn wir plötzlich nackt herumlaufen müssten. Ebenso wenig hilfreich wäre die Einstellung: »Der west- (bzw. ost)deutsche Umgang mit Scham gilt für alle!«
Wenn wir die Schamgrenze unseres Gegenübers nicht achten, besteht die große Gefahr von Missverständnissen, Kontaktabbruch oder Schlimmerem. Weil Scham so schmerzhaft ist; sie ist eine der stärksten Emotionen überhaupt. So stark, dass wir im Zustand von massiver akuter Scham vielleicht gar nicht mehr klar denken können; vielleicht nur noch stammeln. Stattdessen treten körperliche Reaktionen auf wie: Schwitzen, Rotwerden oder Die-Hände-vor-die-Augen-Halten. So zeigt auch die Körpersprache, dass zu viel Scham die Beziehung unterbricht; sie isoliert, macht einsam, trennt, entsolidarisiert. Wenn unser Gegenüber zu viel Scham erlebt, dann ist es »weg«, dann können wir in der Beratung noch so wichtige Sätze sagen, das hört unser Gegenüber eventuell gar nicht.
Die Körperhaltung bei Scham ist interessant: Die betroffene Person wendet sich ab, schaut weg und krümmt sich