so viele Menschen Hitler folgten. All das habe ich zusammengefasst in dem Buch: Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus (Marks 2007).
Ein zentraler Affekt
In den nächsten Monaten trat dann eine andere Frage in den Vordergrund. Wenn Scham damals so bedeutsam dafür war, Hitler »an die Macht« zu bringen: Welche Bedeutung hat sie heute, Jahrzehnte später, in der deutschen Gesellschaft? Es wurde mehr und mehr deutlich, wie viele untergründige Probleme der deutschen Gesellschaft mit einer unbewussten Schamthematik zu tun haben. Etwa unser Umgang mit Menschen ohne Arbeit. Wenn der Arbeitsplatz »abgewickelt« wird, hat das nichts mit Schuld zu tun, ist aber für Betroffene massiv beschämend, umso mehr, wenn es so gehandhabt wird wie häufig nach dem Ende der DDR. Wie gehen wir hierzulande mit alten Menschen um? Wie gehen West- und Ostdeutsche miteinander um? »Die Wessis«, »die Ossis«?
Vor allem hat mich elektrisiert, was in deutschen Schulen passiert. Seit Jahrzehnten wird geklagt, deutsche Schulen seien nicht so erfolgreich wie die in anderen Ländern.
Aus schampsychologischer Sicht ist das ganz einfach zu erklären: Auf der einen Seite werden in Deutschland die Lehrer und Lehrerinnen pauschal beschämt als faule Säcke, faule Hunde, Halbtagsjobber: von manchen Politikern, Medien und der öffentlichen Meinung. Auf der anderen Seite, obwohl Schule gewiss besser geworden ist, passiert es immer noch in jedem dritten oder vierten Klassenzimmer, dass Schüler und Schülerinnen von Lehrern und Lehrerinnen bloßgestellt oder lächerlich gemacht werden. Wie sollte Lehren und Lernen hierzulande gelingen, wenn für viele Lehrer und Lehrerinnen wie Schüler und Schülerinnen die Schule ein Ort der Entwürdigung ist?
Da ich selber sehr gelitten habe unter einem beschämenden Schulunterricht, machte ich mich auf den Weg, um das zu verändern, soweit ich das kann. Seitdem gebe ich Lehrerfortbildungen.18 Ich bekomme auch sehr viele Einladungen von anderen Berufsgruppen; ich habe seither viele Fortbildungen gegeben für Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Schuldnerberater, Polizisten, Mitarbeiter in Gefängnissen, Hebammen, Führungskräfte, Staatsanwälte, Therapeuten, Supervisoren, Mediatoren, Seelsorger, Pflegekräfte, Ehrenamtliche in der Telefonseelsorge, in der Hospizarbeit, in der Strafgefangenenarbeit und viele weitere: Menschen, die mit Menschen arbeiten.
In diesem Vortrag hier möchte ich Ihnen einige grundlegende Informationen über Scham vorstellen.
Was ist Scham?
Zunächst möchte ich Ihnen eine Metapher mit auf den Weg geben, sodass wir uns die Scham auch bildlich vorstellen können. Sie geht zurück auf Salman Rushdie. In seinem Roman Scham und Schande schreibt er:
»Stellen Sie sich Scham als eine Flüssigkeit vor, sagen wir, als ein süßes, schäumendes Getränk, das aus Automaten gezogen wird. Sie drücken den richtigen Knopf, und ein Becher plumpst unter einen pissenden Strahl der Flüssigkeit« (Rushdie 2019, S. 145).
So weit, so gut. Aber was ist, wenn zu viel Scham da ist? Was ist, wenn mehr Scham da ist, als das Gefäß aufnehmen kann? Kein Problem, schreibt Rushdie. Viele Kulturen haben Minderheiten ausgewählt, und deren Aufgabe ist es, all die Scham, die zu viel ist, die keiner will, zu der sich keiner bekennt, all diese Scham aufzuwischen, aufzusaugen und zu verkörpern. Und wir haben keine gute Meinung von »diesen Leuten«, zum Beispiel in hinduistischen Gesellschaften sind dies die sogenannten Parias, die Unberührbaren, die so sehr den »Abschaum« einer Gesellschaft verkörpern, dass nicht mal der Schatten eines Parias auf einen »richtigen« Menschen fallen darf.
In Peru, sehr eindrücklich, sind es die Leute von den Anden, die alles Böse, Schlechte in unsere »guten« Städte runterbringen – so die Bewohner der Küstenstädte. Im Nationalsozialismus waren das die Juden, die »Zigeuner«, die Osteuropäer. In dem schwäbischen Dorf, in dem ich aufwuchs, in den 50er-Jahren, gab es auch eine Familie, die galten als »Zigeuner«. Die waren der Schandfleck des Dorfes, mit denen hat keiner geredet. Diese Leute hatten drei Makel. Sie waren arm, sie waren Flüchtlinge, und sie wohnten in einem Holzhaus, während »anständige« Leute »natürlich« in einem Steinhaus lebten.
Bis heute gibt es in vielen Orten so eine Straße oder einen Stadtteil, über deren Bewohner von anderen nur verächtlich geredet wird. Wenn zum Beispiel in Freiburg im Breisgau jemand sagt, er komme aus dem Stadtteil »Weingarten«, folgt sofort eine verächtliche Reaktion.
Für viele Westdeutsche sind dies pauschal »die Ossis.« In vielen Teams beobachte ich die Einstellung: »Wir wären ein ganz tolles Team, wenn nur ›der X‹ nicht wäre.« Irgendwann geht X oder wird gegangen; und dann heißt es: »Wir wären ein super Team, wenn nur ›die Y‹ nicht wäre.«
Viele Schulklassen haben einen Schüler oder eine Schülerin in dieser Rolle. Immer ist es eine Minderheit. Und indem diese Minderheit ausgegrenzt wird, wird das Thema »Scham« sozusagen entsorgt. Das ist wie das alttestamentarische Sündenbockritual: Eine Gemeinschaft bindet symbolisch ihre Sünden einem Ziegenbock auf, dann wird der Ziegenbock in die Wüste gejagt, und damit sind die Sünden entsorgt.
Aber hier geht es um die Entsorgung von Scham, und sie ist viel elementarer, viel schmerzhafter, viel existenzieller als nur Sünde. Auf diese Weise wird Scham zu einem Nicht-Thema gemacht, zu einer tabuisierten Emotion. Sie ist eine Emotion, die wir oft nicht im Bewusstsein haben, obwohl sie so allgegenwärtig, eben in allen zwischenmenschlichen Begegnungen gegenwärtig ist.
Zum Beispiel hat Altenpflege natürlich mit Scham zu tun: Aber ich kenne Pflegeteams, da wird nicht über Scham geredet. Eine Teilnehmerin berichtete zum Beispiel: »Immer wenn ich bei Herrn X. klopfe, um ihn zu pflegen, beginnt er, die Pflegesituation zu sexualisieren. Mit dieser Erfahrung kam ich in eine Teambesprechung und musste mir dann von Kollegen und Leitung anhören: ›Damit muss man halt professionell umgehen.‹« Das heißt, die Kollegin wurde als unprofessionell beschämt, und das Thema war wieder vom Tisch. Anderes Beispiel: Sportlehrer haben natürlich jeden Tag massiv mit Scham zu tun. Doch Scham ist so gut wie kein Thema in der Sportlehrerausbildung.
Auch in der sozialwissenschaftlichen Analyse gesellschaftlicher Prozesse taucht das Thema »Scham« erstaunlich wenig auf, obwohl es so allgegenwärtig ist.
Scham – ein Nicht-Thema?
Es hat Nachteile, wenn wir Scham zu einem Nicht-Thema machen. Einmal ist das sehr schmerzhaft für die Minderheiten, die zu Verkörperung der Scham gemacht, verachtet und ausgegrenzt werden. Aber wir alle verlieren etwas, wenn wir die Scham zu einem Nicht-Thema machen. Denn sie ist zwar schmerzhaft, hat aber auch positive Aufgaben. León Wurmser nennt Scham die Wächterin der menschlichen Würde (Wurmser 1997, S. 74). Das heißt, wenn wir die Menschenwürde wirklich verstehen möchten, ist es hilfreich, die Scham zu kennen.
»Die Würde des Menschen ist unantastbar«, steht zwar im Grundgesetz, und das ist großartig.
Aber fragt man Leute auf der Straße: »Was ist denn die Menschenwürde?« »Ja, sie ist wichtig!« Und fragt man nach, was bedeutet sie denn? Dann kommt oft nichts. Oft schauen die Menschen nach oben, weil der Begriff »Menschenwürde« für sie abstrakt ist. Und solange dieser Begriff als etwas Abstraktes erlebt wird, bleibt er folgenlos.
Mir geht es darum, den Begriff von »oben« nach »unten«, in die Praxis zu bringen, und dazu hilft uns die Scham, weil sie psychologisch für die Würde »zuständig« ist.
Nochmal kurz zurück zum Roman von Rushdie. Er schildert, wie die Schamgefühle der Eltern in die Seele eines Kindes weitergegossen werden. Er schildert eine Geburt, im Krankenhaus; der Vater blickt auf sein soeben geborenes Kind: Er blickt voller Wut und Verachtung, als er sieht, dass sein Erstgeborenes nur ein Mädchen ist, nur ein Mädchen. Daraufhin errötete das Baby. Seit dem ersten Blickkontakt schämte es sich zu viel. Es wächst heran, geistig behindert, und wird schließlich zur Mörderin.
Soweit Rushdie,