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Vom Träumen und Aufwachen


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wie hoch schätzen die Menschen, mit denen Sie arbeiten, ihre gesellschaftspolitische Selbstwirksamkeit ein?

      CORNELIA STIELER Ich mache die Erfahrung, dass nur wenige Menschen in Ostdeutschland sich ihrer eigenen politischen Selbstwirksamkeit bewusst sind. Die Mehrheit der Ostdeutschen war an der friedlichen Revolution auch nicht aktiv beteiligt, sondern eher Zuschauer und Zuschauerinnen, das müssen wir anhand der Zahlen ernüchtert feststellen. Manche wurden maximal zum Mitläufer bzw. zur Mitläuferin, als es nicht mehr so viel Mut brauchte, sich in einer Großdemo einzureihen. Dass aber dennoch mutige Ostdeutsche selbst den Systemsturz herbeigeführt und bereits über viele Jahre Vorarbeit dafür geleistet haben, wurde aus meiner Sicht in den letzten 30 Jahre nicht ausreichend gewürdigt. Auch die vielen kleinen systemdestabilisierenden Aktivitäten in der DDR spielen in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung kaum eine Rolle. Doch genau sie sind wichtig dafür, den Menschen einen Zugang zu ihrer eigenen Selbstwirksamkeit aufzuzeigen. Man muss kein großer Revolutionär sein, wenn man bereit ist, auch im Alltag Zivilcourage zu zeigen. Wenn viele das tun, verändert das Gesellschaft auch. Das ist eine Erfahrung, die wir in der DDR gemacht haben. Doch die scheint heute fast in Vergessenheit zu geraten, und das halte ich für problematisch – für ganz Deutschland, denn auch heute wird Zivilcourage gebraucht!

       Wodurch lässt sie sich Ihrer Meinung nach steigern?

      CORNELIA STIELER Ich versuche, meinen Beitrag dazu zu leisten, indem ich in meinen unterschiedlichen Biografieformaten v. a. die unterschiedlichen Gruppen der ostdeutschen Gesellschaft miteinander in den Dialog bringe. Und das sind teilweise sehr berührende, aber auch neue und zum Teil auch verstörende Erfahrungen. Nach 30 Jahren ist die Distanz groß genug dafür, in geschütztem Rahmen Begegnung zu ermöglichen. In meinen Gruppen sitzen oft Kinder von Oppositionellen neben Stasikindern, einstige FDJ-Sekretäre neben Pfarrerstöchtern … Wir lernen inzwischen sehr viel voneinander und beginnen, die DDR aus der Perspektive der jeweils anderen Seite retrospektiv zu begreifen. Daraus erwächst ein gemeinsames Verständnis, was die Diktatur mit und aus uns gemacht hat. Es entstehen Momente, in denen gemeinsam Betroffenheit gezeigt und Verlorenes betrauert werden kann, aber auch gemeinsame Kraft aus der verbindenden Erfahrungswelt entsteht. Wir gehen nie auseinander ohne die Frage, welche Erfahrungen wir in die heutige Gesellschaft zurückspielen können. Und ich bin sehr optimistisch, dass auch diese vielen kleinen punktuellen Bemühungen voranbringen.

       Inwiefern kann sich der Blick auf die Gesellschaft verändern durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie?

      CORNELIA STIELER Durch das Verständnis der Wechselwirkungen zwischen erlebter Zeitgeschichte und der eigenen Biografie entsteht bei den Menschen, die sich dieser Auseinandersetzung stellen, eine hohe Sensibilität für die Geschehnisse im Heute. Gesellschaftliche Phänomene wie Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, soziale Benachteiligung, Ausgrenzung von Migranten, all das wird in 20 oder 30 Jahren wieder tiefgreifende biografische Folgen für die Betroffenen haben. Wer sich dessen aus seiner eigenen Biografie heraus bewusst ist, kann sich heute anders engagieren und Verantwortung für die Gestaltung von Gesellschaft übernehmen.

       Literatur

      Bode, S. (2019): Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart (Klett-Cotta).

      Decker. F, V. Best, S. Fischer u. A. Küppers (2019): Vertrauen in die Demokratie. Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik? Verfügbar unter https://library.fes.de/pdf-files/fes/15621-20190822.pdf [23.6.2021].

      Deutscher Bundestag (2019): Bericht des Petitionsausschuss (2. Ausschuss). Verfügbar unter https://dserver.bundestag.de/btd/19/099/1909900.pdf [23.6.2021].

      Drechsler, H., F. Neumann u. W. Hilligen (1970): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik. München (Vahlen), 10. Aufl. 2003.

      Hepp, G. (2013): Wie der Staat das Bildungswesen prägt. Verfügbar unter https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/145238/staat-als-akteur [23.6.2021].

      Röhrbein, A. (2019): Und das ist noch nicht alles. Systemische Biografiearbeit. Heidelberg (Carl-Auer).

      »Rekordzahl an Demonstrationen 2019 in Berlin«. Tagesspiegel, 26.12.2019.

      Weßels, B. (2018): Politische Integration und politisches Engagement. In: Statistisches Bundesamt u. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (Hrsg.): Datenreport 2018. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn (bpb), S. 350-357.

       Auf der Suche nach den gefundenen Kraftquellen

       Barbara Innecken

       Identitätsstiftende Ressourcen vor und nach dem Mauerfall

      Die Einladung, mich mit einem Workshop an der geplanten Tagung zum Thema »30 Jahre Mauerfall« zu beteiligen, freut mich, ich fühle mich spontan angesprochen und habe ziemlich bald eine Gestaltungsidee vor Augen.

      Wie kommt es zu dieser spontanen Reaktion, wo finden sich Bezüge einer 1952 geborenen »Westlerin« zu dem Tagungsuntertitel »Die Freiheit, die ich meine … Zwischen Identität und Wandel – auf Spurensuche«?

       Meine persönliche Ost-West-Spurensuche

      Vor dem Mauerbau, in meiner Kindheit, erinnere ich mich vor allem an die Kinder aus der »Ostzone« in meiner Klasse, ich erlebe sie als irgendwie etwas anders, ohne mir darüber weitere Gedanken zu machen. Eins dieser Kinder wird meine beste Freundin und ist es bis heute.

      Meine Vorstellungen von der »Ostzone« sind eher diffus und vor allem wohl durch die Päckchen mit Kaffee, Schokolade und Kleidung, die unsere Mütter regelmäßig in den Osten schicken, geprägt. Da gibt es jemanden, den unsere Mütter mögen, der nie zu Besuch kommt und der diese Päckchen gut brauchen kann.

      Später dann, Jahre nach dem Mauerbau, als politisch engagierte Studentin, fahre ich gerne nach Berlin, um in Westberlin in die Szene der Studentenbewegung einzutauchen und gemeinsam mit Kommilitonen und Kommilitoninnen um unsere Einstellung zum Sozialismus in der DDR zu ringen, der uns in seiner Grundidee fasziniert und in seiner konkreten Umsetzung zu denken gibt. Die DDR als Land kenne ich in dieser Zeit nur aus den Tagesfahrten nach Ostberlin, wo mich der damals gerade nach Moskauer Vorbild fertiggestellte riesige und kahle Alexanderplatz eher erschreckt. Sehr beliebt hingegen ist der Einkauf von Büchern, Notenheften und Langspielplatten mit sog. klassischer Musik, die mit ihren deutlich günstigeren Preisen unserem studentischen Budget guttun.

      Der Mauerfall, an den ich persönlich nicht mehr geglaubt habe, überrascht und freut mich dann im Geburtsjahr unseres dritten Kindes. Welch ein Aufbruch, der durch das Engagement so vieler mutiger Menschen erst möglich geworden ist! Sie geben nicht auf, sie kämpfen so lange um ihre Rechte, bis das verkrustete System zerbricht und der Weg in die Wiedervereinigung beginnt.

      In späteren Jahren lerne ich staunend die Schönheit der neuen Bundesländer, ihrer Städte und Landschaften auf Reisen kennen und lieben.

      Seitdem lerne ich dort in meinen Weiterbildungen für »Aufstellungsarbeit im Einzelsetting mit dem NIG®15 immer wieder die für mich besonderen, kraftvollen Ressourcen