Gefundene Kraftquellen – in der Planung des Workshops
Es sind wohl meine sehr persönlichen, prägenden gesamtdeutschen Erfahrungen, die in mir den sehr frei nach Marcel Proust gestalteten Workshoptitel »Auf der Suche nach den gefundenen Kraftquellen – Identitätsstiftende Ressourcen vor und nach dem Mauerfall« entstehen lassen.
In meinen Überlegungen im Vorfeld der Tagung wird mir klar, dass die Anfangseuphorie und das rasante Tempo der Wiedervereinigung bisher wenig Platz gelassen haben für achtsame Annäherung und ressourcenorientierte Sichtweisen im Umgang miteinander: Die Wiedervereinigung ist geprägt von der Fokussierung auf politische und wirtschaftliche Umstellungs- und Anpassungsprozesse – Letztere werden vor allem von den Bewohnern der ehemaligen DDR erwartet.
Es gibt nicht genug Raum und Zeit für die Achtung vor dem Gewachsenen und den bewegten Entwicklungen von Biografien, für die Anerkennung von Lebensleistungen und spezifischen Stärken, für den Respekt vor Coping-Strategien und die Würdigung der Werte der jeweils anderen Seite.
Joachim Gauck, der Theologe aus Rostock und Bundespräsident der BRD von 2012 bis 2017, sagt bezüglich des Zusammenwachsens der Menschen in Ost und West im Jahr 2019: »Die Prägungen der Seele und die Wandlungen der Mentalität sind unendlich langsam« (Süddeutsche Zeitung 29.9.2019).
Bezogen auf diesen Weg der »langsamen Wandlung«, entscheide ich mich, in meinem Workshop auf der Tagung in Naumburg zusammen mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen auf eine ressourcen- statt eine defizitorientierte Spurensuche zu gehen und uns unserer spezifischen Stärken anzunehmen.
Da auf der Tagung Teilnehmende aus der gesamten BRD eingeladen sind und auch Gäste aus anderen Ländern erwartet werden, geht es mir darum, einen gemeinsamen Schritt zu gehen, um uns unserer jeweiligen Kraftquellen bewusst zu werden, sie anzuerkennen und sie zu würdigen – in uns selber und im anderen.
Unser ressourcenorientierter Blick wird von der Perspektive unserer persönlichen Biografie gespeist und durch die jeweilige Staats- und Gesellschaftsform geprägt. Es macht ja einen großen Unterschied, wo wir geboren werden, aufwachsen, zur Schule gehen, arbeiten, welche Entscheidungen wir oder unsere Familie bezüglich unseres Wohnortes fällen, wie sich der Mauerbau und der Mauerfall auf unser persönliches Leben auswirken.
In diesem Workshop möchte ich anregen, auf besonders starke, identitätsstiftende Ressourcen zu fokussieren, die vielleicht sogar bis heute einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung unserer persönlichen Identität leisten.
… und Zweifel
Der Fokus ist also klar: Ich möchte – um mit einem Bild des systemischen Therapeuten Steve de Shazer zu sprechen – den Aufmerksamkeitsscheinwerfer weg vom Problem hin zu den Ressourcen richten.
Auf diese Klarheit folgt eine Phase des Zweifels: Wie werden die Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus dem Osten damit umgehen, wenn ich als Westlerin, die ich nun mal bin, sie einlade, sich ihre vor und nach dem Mauerfall erworbenen Kraftquellen bewusst zu machen? Als Traumatherapeutin, die ich nun mal auch bin, befürchte ich, es könnte bei ihnen das Gefühl entstehen, dass Leid und Verletzungen vor und nach dem Mauerfall nicht ausreichend gesehen und gewürdigt werden.
Auch in Bezug auf die Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus dem Westen habe ich Zweifel: Sind Ressourcenfindungen vor und nach dem Mauerfall überhaupt in diesem Kontext angebracht und von Interesse? Und besteht nicht die Gefahr der Scham und der Beschämung durch einen möglicherweise entstehenden Vergleich westlicher und östlicher Ressourcen?
Der niederländische Therapeut Dan van Kampenhout spricht kollektiven Systemen wie Volksgruppen oder Staaten eine »Stammesseele« zu, die, wie sich in der Menschheitsgeschichte immer wieder zeigt, sehr vulnerabel ist. Wie die individuelle Seele auch, reagiert diese kollektive Seele auf Verletzungen mit Kampf, Flucht oder Erstarrung – die Geschichte gibt uns dafür zahllose Beispiele.
Ist durch die 40-jährige Trennung von BRD und DDR auch so etwas wie eine jeweils eigene »Stammesseele« entstanden? Und, wenn ja, wie kann ich in dem Workshop damit angemessen umgehen?
Um die Zweifel konstruktiv anzugehen, beginne ich erst mal mit der Suche nach meinen eigenen Ressourcen in Bezug auf die genannten Zeiträume.
Meine persönliche Suche nach den gefundenen Kraftquellen
Meine wichtigste identitätsstiftende Kraftquelle vor dem Mauerfall wird mir überhaupt erst durch die Beschäftigung mit dieser Suche klar: Im Gegensatz zu meinen Eltern, die ihre jungen Jahre im Nationalsozialismus und im Krieg verbracht haben, bin ich in der Freiheit aufgewachsen.
In der Freiheit, meine Meinung zu äußern, beispielsweise als Schülerin auf Demos gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze. In der Freiheit, als Studentin meine Träume zu leben in einer Landkommune oder später dann als verbeamtete Lehrerin die Entscheidung zu fällen, diese Sicherheit aufzugeben und als Selbstständige im psychotherapeutischen Bereich zu arbeiten.
Werde ich mich schämen, über so viel Freiheit, mit der ich aufgewachsen bin, in dem Workshop zu sprechen, oder beschäme ich meine Kollegen und Kolleginnen aus dem Osten damit?
Durch die Beschäftigung mit der Ressource »Aufwachsen in Freiheit« werden in mir Erinnerungen an Familienaufstellungen wach, an denen ich in den 90er-Jahren teilgenommen habe. In diesen Aufstellungen zeigt sich immer wieder das Bild, dass ich, wie viele Menschen aus meiner Generation, versuche, das »Schicksal der Unfreiheit« meiner Eltern im Nationalsozialismus mitzutragen, um ihnen diese Last zu erleichtern. Gleichzeitig bin ich aber auch all die Jahre in einem Prozess, in dem starke Kraftquellen mich immer wieder ermutigen, mein eigenes Leben zu wagen. Und nun, im Jahr 2019, wird mir die Kraftquelle »Aufwachsen in Freiheit« bewusst – welch ein Geschenk!
Auch über eine identitätsstiftende Kraftquelle aus der Zeit nach dem Mauerfall muss ich erst mal nachdenken, sie ist mir nicht auf Anhieb bewusst.
Ich bin neun Jahre alt, als die Mauer gebaut wird, und ich erinnere mich heute noch an Fotos davon in der Zeitung – aber die Bedeutung des Mauerbaus für die Menschen und für meine Schulfreundin aus der »Ostzone« verstehe ich als Kind nicht. Als Jugendliche erfahre ich dann im Geschichtsunterricht mehr von der deutsch-deutschen Geschichte, wachse aber vom Gefühl her mit dem Glaubenssatz auf, dass es eben zwei deutsche Staaten gibt und dass das ungerecht und traurig, aber nun mal so ist.
Nach dem Mauerfall fällt auch in mir dieser Glaubenssatz.
Und es entsteht Raum für eine bis heute in mir wirkende Ressource: Eine Wirklichkeit, die ich als negativ, aber unabänderlich erlebe, kann sich ändern, sie kann geändert werden! Dass ich mir dieser Ressource bewusst werde, beschert mir ein Glücksgefühl, mich leitet diese Kraftquelle »Handlungsfähigkeit« doch täglich in meinem persönlichen Leben und in meinem Beruf als Therapeutin.
Die Erfahrungen mit meinen beiden identitätsstiftenden Ressourcen relativieren meine Zweifel an dem geplanten Workshop, und ich beschließe, mich auch zusammen mit den Teilnehmenden auf die Suche nach den gefundenen Kraftquellen zu machen.
Die Methode
Um die inneren Bilder der Kraftquellen jedes Einzelnen bewusst, sichtbar und mit möglichst vielen Sinnen erlebbar zu machen, wähle ich methodisch das Neuro-Imaginative Gestalten (NIG®, entwickelt von Eva Madelung, von mir weiterentwickelt). Das NIG ermöglicht kreative Aufstellungen sowohl im systemisch-konstruktivistischen als auch im systemisch-phänomenologischen Bereich und lässt sich im Einzelsetting und in Gruppen einsetzen.
In der NIG-Aufstellung erstellt der Klient oder Teilnehmer16 mit seiner nichtdominanten Hand rasche Skizzen, die auf dem Boden als Bodenanker ausgelegt