Gesellschaftssystem ist das Individuum in der Lage, eigenmächtiger und selbstwirksamer zu agieren. Und doch gibt es Menschen, die sich in unserem demokratischen System ohnmächtig fühlen, weil sie keine Gestaltungsräume sehen. Einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge war 2019 nicht mal die Hälfte der befragten Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mit der Demokratie zufrieden (Decker, Best, Fischer u. Küppers 2019). Sie stellen das System infrage, in dem sie demokratietheoretisch der oberste Souverän sind. Viele von ihnen nutzen keins der ihnen zur Verfügung stehenden demokratischen Instrumente: Wahlen, Petitionen, Demonstrationen, Sprechstunden der Abgeordneten im Wahlkreis. Viele Menschen erleben keinerlei gesellschaftspolitische Selbstwirksamkeit.
Alleine das politische System dafür verantwortlich zu machen und die Menschen, die dieses System aktiv gestalten, wäre verkürzt. Denn auf der anderen Seite stehen Bürgerinnen und Bürger, die ihre Gestaltungsspielräume sehr wohl sehen und wahrnehmen: 2018 sind über 13 000 Petitionen beim zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages eingegangen (vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/9900). Alleine in Berlin wurden 2019 mehr als 5350 Demonstrationen angemeldet (vgl. Tagesspiegel 26.12.2019). Die aktuellsten Erhebungen des Statistischen Bundesamts zur allgemeinen Bürgerbeteiligung zeigen, dass 2016 eine beziehungsweise einer von sechs Bürgerinnen und Bürgern eine Politikerin oder einen Politiker kontaktiert hat (vgl. Weßels 2018).
Was also unterscheidet die Ohnmächtigen von den Selbstwirksamen?
Man hört auf diese Frage zahlreiche Antworten. Denn das Zusammenwirken von Politik und Individuum ist hochkomplex. Wer verunsichert ist, erlebt sich möglicherweise eher als überfordert, sucht nach Orientierung und bleibt tendenziell eher passiv. Andererseits ist es wahrscheinlich, dass das Wissen über die eigenen Handlungsspielräume die Selbstwirksamkeit erhöht. Menschen brauchen Informationen über Politik und Gesellschaft, um mitzuwirken und sich ihre eigene Meinung zu bilden. Sie brauchen aber auch ein Bewusstsein dafür, dass sie als Teil des Systems elementar sind. Sie benötigen die Selbstgewissheit, dass sie relevant sind und durch aktives Handeln Dinge verändern können.
Wissen über Politik und Demokratie vermitteln in Deutschland die schulische und außerschulische politische Bildung. Ihre zentrale Aufgabe ist es, aus passiven Individuen partizipierende Bürgerinnen und Bürger zu machen.
»Ziel Politischer Bildung ist kritisches Bewusstsein, selbstständiges Urteil und politisches Engagement. Voraussetzung für demokratisches Engagement ist, dass dem Bürger die Zusammenhänge zwischen individuellem Schicksal und gesellschaftlichen Prozessen und Strukturen bewusst werden« (Drechsler, Neumann u. Hilligen 2003, »Statt eines Vorwortes«).
Die politische Bildung hat sich in den letzten Jahren stets weiterentwickelt. Sie nutzt alle ihr zur Verfügung stehenden Kanäle (Bücher, soziale Medien, Workshops, Unterrichtseinheiten etc.), um die Menschen zu erreichen. Sie ist in immer mehr Bereichen eine Querschnittsaufgabe (in der Sozialen Arbeit, in Unternehmen, in der Bundeswehr etc.) und dadurch zunehmend aufsuchend tätig. Politische Bildung versucht stets, die Betroffenheit des Einzelnen (»Was hat Politik mit mir ganz persönlich zu tun?«) zu wecken, aber ihre Methoden und Inhalte sind zielgruppenorientiert und weniger selbstreflexiv ausgerichtet. Ungestellt bleiben meist Fragen wie: »Wer bist du, welche Geschichte(n) hast du im Gepäck, und was kannst du ganz konkret in die Gesellschaft einbringen?« Dadurch bleibt Politik für viele häufig abstrakt und wird nicht Teil des persönlichen Bewusstseins.
Unserer Meinung nach ist es daher dringend nötig, Methoden der Selbsterfahrung in die politische Bildung zu integrieren. Die Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen (Familien-)Geschichte kann ein Schlüssel zur Gesellschaft sein und ins Handeln bringen. Denn: Wie soll ein Mensch ein gesellschaftliches System mittragen und mitgestalten, wenn er sich kaum zutraut, sein eigenes, ganz persönliches System zu gestalten? Wie soll ein Mensch gesamtgesellschaftliche Werte verteidigen, wenn er sich seiner eigenen wenig bewusst ist? Wie soll ein Mensch die Biografie eines anderen wertschätzen, wenn er mit seiner eigenen hadert?
Damit Menschen eher ins Handeln kommen, sollten sie sich ihrer Wünsche und Bedürfnisse bewusst sein. Wenn sie ihre Ressourcen und Stärken kennen, fällt es ihnen leichter, sich Verbündete und Gleichgesinnte zu suchen. Wenn sie wissen, auf welchem tragenden Fundament ihr Leben ruht und mit welchen Fähigkeiten sie ausgestattet sind, dann wächst das Zutrauen, etwas bewegen zu können. Mittel und Wege, sich dessen bewusst zu werden und eigenes Handeln zu initiieren, kennt die systemische ressourcenorientierte Biografiearbeit (vgl. Röhrbein 2019). Biografiearbeit ist eine sehr gute Möglichkeit, die Dinge zu sortieren und die eigene Position zu festigen. Sie kann dabei helfen, die eigenen Ressourcen zu erkennen und zu klären, wie sie genutzt werden können, um das künftige Leben gut zu gestalten. Hilfreiche Fragen können dabei lauten: »Was macht mich aus?«, »Welches sind meine Stärken?«, »Was will ich erreichen?« und »Wen habe ich (dabei) an meiner Seite?«
Um allerdings ins gesellschaftliche Handeln zu kommen, müssen Menschen womöglich noch einen Schritt weiter gehen: Sie sollten ihre Werte kennen, im besten Fall verstehen, wodurch diese Werte geprägt sind. Sie sollten eine Idee davon haben, in welcher Gesellschaft sie eigentlich leben möchten und die Instrumente überblicken, die sie nutzen können, um Gesellschaft mitzugestalten. Hier zeigt sich, dass die politische Bildung (Wissenserweiterung) und die systemische Biografiearbeit (sich seiner selbst bewusst zu sein) eine geniale, weil aktivierende Verbindung eingehen können.
Politische Bildung und systemische Biografiearbeit haben im Grundsatz vieles gemeinsam: Sie wollen den Menschen dabei unterstützen, sein eigenes Leben und Umfeld im eigenen Sinne zu gestalten.
Sie lenken den Blick auf Wechselwirkungen und Gesamtzusammenhänge. Sie arbeiten ressourcenorientiert und im besten Sinne des Wortes allparteilich (auf dem Boden des Grundgesetzes). Die Biografiearbeit kann darüber hinaus als Teil der politischen Bildung eine Leerstelle füllen: nämlich das Bewusstsein dafür schärfen, sich selbst als politisches Wesen innerhalb der Gesellschaft wahrzunehmen. Im Zusammenspiel der Disziplinen werden Menschen dazu eingeladen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und aktiv ins Geschehen einzugreifen, weil sie sich der eigenen Wurzeln, Werte und Stärken bewusster werden.
Das Workshopkonzept
Im Rahmen der Tagung »30 Jahre Mauerfall – Die Freiheit, die ich meine. Auf Spurensuche – zwischen Identität und Wandel«, einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen zum Jahrestag des Mauerfalls, hatten wir die Möglichkeit, einen ersten Testballon zu starten und 90 Minuten lang die sinnhafte Verknüpfung von Biografiearbeit und politischer Bildung vorzustellen.
Die drei konkreten Ziele des Workshops waren:
1)ganz grundsätzlich: der Omnipräsenz von Politik im Persönlichen Raum zu geben
2)die Teilnehmenden darin zu unterstützen, sich als Teil der Gesellschaft wahrzunehmen
3)gemeinsam mit den Teilnehmenden Ideen zu entwickeln, wie sie ins gesellschaftliche Handeln kommen können.
Bereits der Einstieg über die Methode der Landkarte (die Teilnehmenden verorten sich anhand einzelner Fragen, z. B.: »Wo bist du aufgewachsen?«, »Wo wohnst du heute?«, »Mit welchem Ort verbindest du einen persönlichen politischen Moment?«) zeigte, wie eng verknüpft die eigene Biografie mit politischen Ereignissen ist. Schnell wurden verbindende Erinnerungen und Gemeinschaftserfahrungen wach: »Da war ich auch dabei!« oder »Ja, das war echt unglaublich«. Kleine Anekdoten und berührende Erlebnisberichte führten zu einer großen »Dichte« und spannenden »Zeitreise«.
In einem weiteren Schritt positionierten sich die Teilnehmenden dann auf einer Skala von 0 bis 100, zu wie viel Prozent sie sich als »politisch« erleben, und begründeten ihren Standpunkt. Nach einem interessanten Austausch im Plenum wechselten wir in kleinere Einheiten.
Im Zweierinterview tauschten sich die Teilnehmenden schließlich darüber aus, wodurch ihre persönliche innere Landkarte geprägt worden ist und wie sie sich als Teil der Gesellschaft wahrnehmen und erleben. Zur Inspiration dienten dabei zunächst die folgenden Satzanfänge, die von den Dialogpartnerinnen und -partnern