in Westberlin lebenden Schwester klärte mich dann auf, wir hörten von den bewegenden Momenten nach der Maueröffnung, jedoch auch in der Folgezeit entwickelte sich kein besonderes Interesse am wiedervereinigten Deutschland, das für uns halt ein Stück größer geworden war durch Übernahme der DDR in die BRD. Bei unserer Haushaltshilfe, die 1989 noch über Ungarn aus der DDR kam, waren wir ungläubig-überrascht, dass ihr erster Besuch in einem Westsupermarkt sie in eine Art von Schockstarre versetzt hatte, sodass sie nach wenigen Minuten völlig überwältigt aus dem Markt fliehen musste.
Meine Aufstellungsarbeit bei Beate Jaquet hier in Naumburg (später auch in Suhl, Dresden und Leipzig) habe ich immer sehr gerne gemacht, es wurden natürlich viele Fakten des Lebens in der DDR angesprochen und gut bearbeitet – aber merkwürdigerweise hat sie eine auch bei mir wirksame kollektive Ebene des Nicht-ganz-Beteiligtseins für lange Zeit unberührt gelassen.
Es gab für uns eine Art von eisernem Bewusstseinsvorhang, auf dessen östlicher Seite so etwas wie »Dunkeldeutschland« ein graues Dasein fristete. Grau schienen sogar die Ostlandschaften bei Zug oder Autoreisen nach Westberlin. Und »die da drüben« hatten mit der sowjetischen Besatzung, ihrem neuen totalitären Regime, der gegenseitigen Bespitzelung etc. eben Pech gegenüber dem ungleich besseren Los von Westdeutschland. Das war halt so und löste auch Schuldgefühle aus, die aber bei den allermeisten im Westen keine Handlungsimpulse weckten, was sich auch nach der Wende nicht wesentlich änderte.
In diesem westdeutschen Desinteresse sieht Irene Misselwitz in ihrem Tagungsbeitrag einen Grund für die besonderen Erfolge der AfD im Osten, die sich dort als »Kümmererpartei« anbiete und die Ostbelange scheinbar wirklich ernst nehme.
Die von vielen Westdeutschen geteilte Indifferenz hat sich bei mir in den letzten Monaten sehr verändert, was auch durch die Ausrichtung auf diese Tagung »30 Jahre Mauerfall« angestoßen wurde. Ich bin dabei, zu anderen Empfindungen zurückzukommen oder erstmals dorthin zu gelangen: eine einfache Verbindung vom Herzen aus, Anteilnahme und Zuneigung.
Zum Thema: Populismus und Mauerfall
Ich möchte vier Bereiche ansprechen:
1)Was ist Populismus?
2)Der Mauerfall und seine Folgen als ein »Brandbeschleuniger« für Populismus.
3)Die noch immer kontroverse Bedeutung der Treuhandanstalt für die Nachwendezeit.
4)Und schließlich die zentrale Rolle einer »frohen Botschaft« (so lautet ein Buchtitel), die auf der Tatsache beruht, dass sich die Welt über die vergangenen Jahrzehnte in fast allen Lebensbereichen nachweislich überaus positiv entwickelt hat.6
Populismus
Populismus ist definiert durch eine vierfache Idee von Gesellschaft, nämlich:
1)die Unterscheidung zwischen der Fiktion von einem »wahren Volk« (»populus«) einserseits – und »den korrupten Eliten sowie den anderen« andererseits. Also: auf der einen Seite wir/ das einfache Volk/die anständigen Bürger – auf der anderen Seite die Politiker/die Eliten/die anderen, die Ausländer, die Migranten
2)die Idee von gesellschaftlicher Homogenität, von weitgehender Übereinstimmung innerhalb dieses »Volkes« und damit die Annahme eines allgemeinen, identischen Volkswillens innerhalb dieses Wir
3)die Behauptung, dass wir am Abgrund stehen und in beängstigenden Gefahren leben, wie Migration, Islamisierung oder der »Umvolkung« des Westens
4)die Idee: Wir, das Volk, sind das Opfer dieser Entwicklungen, die von den Eliten sowohl hervorgerufen als auch geleugnet werden und die nicht benannt werden dürfen.
Daraus ergeben sich die vier konstituierenden, typischen Elemente des Populismus:7
1)Antiestablishment
2)die exklusive Souveränität hinsichtlich des Wir, unseres Volkes: Nur unsere Stimme ist wahr, nur unsere Überzeugungen sind gültig.
3)Und damit: Antipluralismus, d. h. gegen die grundsätzliche Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit unterschiedlicher Interessen und Weltanschauungen.
4)Betonung des Opferstatus, der Gegenwehr dringend nötig und legitim macht.
Wenn wir diese knappen Kriterien etwas ausführen, lässt sich Folgendes sagen:
Populisten – und wir alle haben solche Neigungen in uns – möchten das sichere Gefühl haben, zu einer großen, gleichgesinnten Gruppe zu gehören, zu Uns, zum Volk, dessen Mitglieder das Gleiche für wahr und richtig halten und die alles, was unwahr, falsch und schädlich ist, bei »denen da oben«, den Eliten oder den anderen, den Fremden, festmachen.
Wir Populisten sind in vieler Hinsicht die Opfer dieser vom wirklichen Volk abgehobenen Eliten, die schuld daran sind, dass Migranten und Asyltouristen auf unsere Kosten bevorzugt werden und dass unsere Bedürfnisse und Wünsche, unsere nationale Würde, unser Volkswille verkannt und in unüberschaubaren und unverständlichen europäischen und globalen Töpfen untergerührt werden.
Wir Populisten wollen endlich wieder auf unsere deutsche Geschichte stolz sein können und diesen krankhaften deutschen Schuldkult ad acta legen – in diesem Sinn ist mit dem Zurechtstutzen der Nazi-Zeit auf einen »Vogelschiss der Geschichte« (Gauland 2018)8 ein guter Anfang gemacht.
Wir Populisten wollen einfache, klare Worte und Erklärungen von unseren »Führern« – oder, besser noch: von unserem »Führer« –, die aus unserer Mitte heraus für uns eintreten, die wissen, wo’s langgeht und nicht lange fackeln. Wir wollen kein intellektuelles Geschwurbel, sondern wir wollen hören, was Sache ist und was jeder sofort versteht.
Wir Populisten wollen also eine Führungsfigur, am besten einen Mann, der eine solche Dynamik in seinem Auftreten hat, dass wir wissen: Der hat den Durchblick und die Unbeirrbarkeit eines zu höheren Aufgaben Berufenen, der eigene, womöglich abweichende Denkanstrengungen unnötig macht.
Wir Populisten wollen freiweg und impulsiv sprechen, so wie wir fühlen, und dabei gewalttätige, obszöne oder hasserfüllte Ausdrücke gebrauchen können, die von den elitären Medien, von der Lügenpresse unerwünscht sind.9
Die Kontraktion auf populistische Neigungen wird immer hervorgerufen und befördert durch die Unsicherheit äußerer Lebensbedingungen, besonders wenn sie begleitet sind von kollektiven Gefühlen der Überforderung, Enttäuschung, Kränkung oder Demütigung, wie gegenwärtig bei den Folgen des Mauerfalls oder der Globalisierung.
Letztere, die Globalisierung also, ist ein mächtiger Auslöser für Populismus: Internationale Handelsbeziehungen, enorme weltweite Informationsfülle über Medien aller Art, Konsumgüter aus allen Ländern der Welt, rasch zunehmende internationale Kontakte durch stark vereinfachtes, verbilligtes Reisen und die erlebte Auflösung von Landesgrenzen etc. – diese Öffnungs- und Entgrenzungserfahrungen lösen immer auch ihr Gegenteil aus: Kontraktion auf Nahes, Vertrautes, Eigenes bis hin zu Ablehnung oder Bekämpfung des und der Anderen und Fremden.
Was den Mauerfall und die Nachwendezeit als Auslöser bzw. Brandverstärker von populistischen Haltungen betrifft, so sind sie an Dramatik nicht zu überbieten: massenhafter und oft dauerhafter Verlust von Arbeitsplätzen unter radikaler Privatisierung und Deindustrialisierung im Osten, Anpassung nahezu aller Lebensbereiche im Osten an westliche Verhältnisse – also eine Anpassung mit der ausschließlichen Richtung von Ost nach West.
Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung 1.11.2019) fasst kurz zusammen: »Die DDR-Wirtschaft wurde liquidiert und von der Treuhand exekutiert.« Im Grundgesetz wäre ein Zusammenführen beider deutscher Staaten unter einer neuen Verfassung vorgesehen gewesen, u. a. mit den Grundgesetzartikeln 23 und 146.10 Damit hätte man die Erfahrungen der DDR-Deutschen in ein überarbeitetes Grundgesetz