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Vom Träumen und Aufwachen


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sich« usw., das heißt: Die sich schämende Person kreist um sich selbst.

      Psychologisch gesehen, sind Narzissmus und Scham häufig verbunden. Nehmen Sie zum Beispiel einen Patienten, der Jungen sexuell »missbraucht« hat und seinem Therapeuten wieder und wieder sagt: »Ich schäme mich«. Er kreist nur um sich selbst. Zwar ist es wichtig, dass er sich schämt (dazu gleich mehr), aber solange er sich nur schämt, bleibt dies ein narzisstisches Um-sich-selbst-Kreisen.

      Bei Scham denkt man oft an etwas ganz Intimes. Und doch kann die Scham in jeder Beziehung und jeder Begegnung mit Menschen auftauchen. Sie ist der soziale Affekt; Scham ist das Gefühl, welches das Zwischenmenschliche reguliert. – Was bedeutet das für die zwischenmenschlichen Beziehungen einer Gesellschaft, wie zum Beispiel der deutschen, die das Bewusstsein für die Scham so massiv abgeschafft hat? Dies hat verheerende Auswirkungen, das sehen wir jeden Tag auf der Straße, in der Politik …

      Scham und Beschämung werden oft verwechselt; es ist mir wichtig, sie zu unterscheiden. Ich beginne mit einem leeren Glas und erzähle ein Beispiel aus der Schule. Sagen wir: Ein Schüler hat etwas geklaut aus der Schultasche einer Mitschülerin, z. B. einen Apfel. Dafür schämt er sich.

       Die Psychologie der Scham

      Die eigentliche Scham beginnt ab Mitte des zweiten Lebensjahres, wenn eine bestimmte Gehirnregion sich entwickelt, die uns Menschen befähigt, wie von außen auf uns selbst zu blicken (Selbstobjektivierung). Genau dieser Entwicklungsschritt wird übrigens im Alten Testament beschrieben, in der Geschichte von Adam und Eva: Sie waren nackt, hatten kein Bewusstsein davon und schämten sich nicht. Aber dann verändert sich etwas: Sie aßen eine Frucht vom Baum der Erkenntnis, und plötzlich erkannten sie, dass sie nackt waren. Sie blickten auf sich selbst und schämten sich.

      Übertragen auf mein Beispiel: Der Junge blickt auf sich und erkennt, »Oh, ich bin ja ein Dieb« – und schämt sich. Insofern ist die eigentliche Scham wie eine eigene Leistung, sie ist wie eine sprudelnde Quelle. (Um Missverständnisse zu vermeiden: Es kann schon sein, dass wir dem Jungen sagen müssen: »Stopp, es ist nicht in Ordnung zu stehlen!« Was nicht bedeutet, dass wir ihn beschämen dürfen.)

      Scham ist eine eigene Leistung des sich Schämenden, die es anzuerkennen gilt. Das heißt, Ihre Klienten, die zu Ihnen kommen, in Beratung oder Therapie, bringen ihr mehr oder weniger volles Glas an Scham mit. Dies ist ihre Scham, sie gilt es anzuerkennen. Wenn wir mit Menschen arbeiten, ist es nicht unser Auftrag, unsere eigene Scham »los«zuwerden, indem wir sie, metaphorisch gesprochen, unserem Gegenüber eingießen. – Dies geht ja ganz einfach, wir kennen das:

      Erstens werden Menschen beschämt, wenn wir sie missachten, etwa durch verächtliche Haltung, arrogante Sprache oder indem wir ihre Lebensleistung vom Tisch wischen. Indem wir, mit anderen Worten, ihr Grundbedürfnis nach Anerkennung verletzen.

      Zweitens beschämen wir Menschen, wenn wir ihr Grundbedürfnis nach Schutz verletzen, etwa indem wir etwas, was privat ist, in die Öffentlichkeit zerren, etwas Körperliches oder Seelisches.

      Drittens werden Menschen beschämt, wenn wir ihnen zu verstehen geben, sie seien »falsch«; zum Beispiel (aus Sicht der dominierenden Werte der alten Bundesländer:) nicht genügend jung, schön, schlank, fit, leistungsfähig, selbstoptimiert, erfolgreich u. v. a. Wenn wir also ihr Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit verletzen.

      Viertens beschämen wir Menschen, wenn wir ihr Grundbedürfnis nach Integrität verletzen, z. B. indem wir all das, was ihnen über Jahrzehnte wichtig war, für nichtig erklären. Oder wenn wir sie zu Zeugen von Unrecht machen, wie dies durch die Massenmedien tagtäglich geschieht: Etwa wenn Otto Schily, kurz nach der ersten gesamtdeutschen Wahl, eine Banane in die TV-Kamera hält, um all die Wähler verächtlich zu machen, die nicht für seine SPD gestimmt haben.

      Wenn wir die Art und Weise, wie die beiden Deutschland »wiedervereinigt« wurden, aus der Sicht dieser vier Grundbedürfnisse betrachten, wird m. E. deutlich, dass sie mit massiven Beschämungen verbunden war, für alle. Auch wenn ich dies »nur« aus der Ferne, vom Schwarzwald aus, und nur vermittelt über die Medien verfolgt habe: Ich schäme mich noch heute für vieles, was in dieser Zeit passiert ist.

      Zurück zur Psychologie der Scham.

      Es gibt Menschen, deren Glas, metaphorisch gesagt, halb leer ist; hier könnte man noch eingießen. Aber es gibt Menschen, die sind schon übervoll mit Schamgefühlen. Was passiert dann? Schamforscher wie Micha Hilgers unterscheiden zwischen einerseits einem gesunden Maß an Scham (»gesunder Scham«), wenn die Psyche des Menschen, das Gefäß sozusagen, halb leer oder halb voll ist; wenn er oder sie noch damit umgehen und daraus lernen kann. Im Unterschied dazu steht »traumatische Scham«, wenn das Ich wie überflutet wird, ertrinkt in Schamgefühlen. Ertrinkende zeigen ja manchmal ganz unerwartete Reaktionen, schlagen z. B. um sich. Dasselbe passiert bei traumatischer Scham. Wenn wir mit Schamgefühlen überflutet werden, sind dieselben Gehirnregionen aktiv wie beim Ertrinkenden (vgl. Marks 2021, S. 79).

      Nehmen wir z. B. zwei Schüler, die durchs Abitur gefallen sind; beide schämen sich. Der eine von beiden nimmt Nachhilfe, belegt Ferienkurse, er lernt, übt, büffelt und macht ein Jahr später ein super Abitur. Sein Freund, auch durchgefallen, geht auf den Dachboden und erhängt sich. Beide Male Scham; in dem einen Fall ein ganz starker Entwicklungsanstoß. Weil die Scham so schmerzhaft ist, ist sie einer der stärksten Entwicklungsimpulsgeber, in einem gesunden Maß. Wenn aber zu viel Scham da ist, traumatische Scham, können Chancen sich nicht verwirklichen, und es geschieht etwas ganz anderes.

       Scham im Gehirn

      Was passiert dabei im Gehirn? Ich erinnere mich, als Schüler stehe ich vorne an der Tafel, ich gebe eine ungeschickte Antwort, meine Mitschüler lachen, und dann geht gar nichts mehr. Vor drei Minuten noch wusste ich diese verdammte Physikformel, aber plötzlich, im Zustand von Ungeschicktheit (die Scham darüber ist meine eigene Leistung) plus Ausgelachtwerden (Beschämung von außen) kann ich mich nicht an die Formel erinnern. Zu viel Scham macht das, was wir umgangssprachlich »dumm sein« nennen. Gehirnforscher wie Donald Nathanson sagen dasselbe etwas eleganter: Dies ist wie ein Schock, der höhere Funktionen der vorderen Hirnrinde zum Entgleisen bringt. Höhere Funktionen der vorderen Hirnrinde: Dort sind z. B. Mathe- und Physikformeln, Sprachvermögen, die »Zehn Gebote«, moralisches Bewusstsein gespeichert (Nathanson 1987, S. 26).

      Schön, dass es dies gibt; aber im Zustand von Schamüberflutung sind diese Regionen nicht mehr verfügbar, weil das sogenannte Reptilienhirn die Regie übernimmt. Es geht nur um »Weg von der Angstquelle, um jeden Preis!« durch Angreifen, Fliehen oder Sichverstecken, Im-Abgrund-versinken-Wollen.

      Wir kennen das vermutlich alle: Es gibt eine schamauslösende Situation, zunächst passiert scheinbar gar nichts – und plötzlich eine Reaktion wie vom anderen Planeten, weil auch tatsächlich ganz gegensätzliche Gehirnregionen jeweils im Vordergrund stehen.

      Es gibt noch weitere Ergebnisse aus der Gehirnforschung, die den Moment akuter Scham als extreme Fehlregulation von Sympathikus und Parasympathikus beschreiben. Diese beiden Teile des autonomen Nervensystems arbeiten normalerweise abwechselnd. In der Regel wird morgens der Sympathikus hochgefahren, mit der Folge, dass Herz, Lunge, Gehirn mehr arbeiten. Abends wird der Parasympathikus hochgefahren und sein Gegenspieler nach unten; daher werden Herz und Gehirn ruhiger: So entsteht ein Wechsel zwischen »aktiv« und »passiv«, Anspannung und Entspannung, Sympathikus und Parasympathikus.

      Im Zustand von massiver akuter Scham sind nun beide Systeme extrem hochgefahren: extrem aktiv und zugleich extrem passiv. Hierbei gibt es starke Übereinstimmung mit dem traumatischen Prozess, daher ist auch der Begriff »traumatische Scham« stimmig.

      Extrem aktiv und zugleich extrem passiv: In diesem fehlregulierten Zustand fällen wir eine Entscheidung, wie wir auf die Schamszene reagieren. Dies konnten wir gut in einer kleinen Studie beobachten: Sportunterricht, Schüler spielen Fußball. Ein Junge macht einen Fehler, spielt einen