Jennifer Lucy Allan

Das Lied des Nebelhorns


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      Jennifer Lucy Allan

      DAS LIED

      DES NEBELHORNS

      Eine Klang- und Kulturgeschichte

      Aus dem Englischen von Rudolf Mast

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      Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel

       The Foghorn’s Lament: The Disappearing Music of the Coast

      bei White Rabbit / Orion Publishing Group Ltd., London.

      Copyright © Jennifer Lucy Allan 2021

      © 2022 by mareverlag, Hamburg

      Lektorat Lisa Fabian, Hamburg

      Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag

      Coverabbildung Edward Hopper, »Rocky Pedestal, 1927« © Heirs of Josephine N. Hopper / VAGA at ARS, NY/VG Bild-Kunst, Bonn 2021

      Datenkonvertierung E-Book Bookwire

      ISBN E-Book: 978-3-86648-803-8

      ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-689-8

       www.mare.de

      Wenn

      Wir es waren, die diesem Schrei die Stimme verliehen haben

      Was sagt er dann über uns, indem er wieder

      Und wieder Dinge anspricht

      Die wir nie sagen wollten?

      M. S. Merwin: Foghorn

      Inhalt

       Prolog

       Teil 1

       ATTACKEUrsprünge – Obsession – Begegnungen

       Der erste Aufschrei

       Schwerwetter

       Unterwasserglocken

       Schiffbruch

       Testen und noch mal testen

       Der Klang der Sirenen

       Teil 2

       VERFALLLärm – Beschwerden – Vergleiche

       Musikalische Offenbarungen

       Das größte Ärgernis

       Bullen. Eine Reprise

       Neue Mythen, alte Mächte

       Gehirnwäsche

       Teil 3

       NACHHALLSammlung – Bedeutung – Erinnerung

       Die Brücke

       Im Pelagial

       Auch kleine Schiffe haben Radar

       Hafensymphonien

       Die Sammler

       Himmelstrompeten

       Trümmer

       Teil 4

       BEFREIUNGRückkehr – Relikte – Reminiszenzen

       Piepsen statt Dröhnen

       Etwas so Abstraktes wie Klang

       Epilog

       Dank

       Anmerkungen

      Prolog

      22. Juni 2013

      Dann setzt das Nebelhorn ein.

      Sein unvermittelter und furchterregender Zwischenruf dringt aus zwei rechteckigen schwarzen Mäulern, ein ungeheurer metallischer Aufschrei, der ohrenbetäubend laut ist. Er flutet meine Ohren und erschüttert meine Eingeweide. Ich bin überwältigt. Ich erstarre. Unter den Ärmeln stellen sich auf meinen Armen kleinste Härchen auf. Der klagende Trompetenstoß erstirbt in einem unwirschen Grunzen, das mich aus meiner Schockstarre reißt. Es folgt eine endlose Sekunde allumfassender und vollständiger Stille, bis die mich umstehende Menge in jenes aufgekratzte Lachen verfällt, das für Momente des ehrfürchtigen Schauderns reserviert ist. Was wir erleben, ist aurale Auslöschung.

      Im Juni 2013 fuhr ich gemeinsam mit Freunden von London in den Nordosten Englands, um das Foghorn Requiem zu verfolgen, eine gigantische Aufführung unter freiem Himmel, an der drei Blechbläserensembles mit insgesamt 65 Musikern beteiligt waren, die auf den Klippen am Leuchtturm von Souter Point in South Shields Aufstellung bezogen hatten. Verstärkung erhielten sie durch eine bunt gemischte Flottille aus mehr als fünfzig Schiffen, die auf der Nordsee dümpelten, darunter eine Fähre und Fischerboote, Segel- und Rettungsboote, Jachten mit einem und mit zwei Masten sowie Schlepper. Das Zentrum bildete das allmächtige Nebelhorn von Souter Point, das aus einer Menschenmenge heraus ertönte und seine Stimme über die Köpfe der Bläser hinweg zu den Schiffen und von dort weiter bis zum Horizont erklingen ließ, eine Stimme, für die komprimierte Luft aus von einem massigen Dieselmotor betriebenen Lungenflügeln gepresst wurde.

      Es war ein sonniger und windiger Tag, der das Publikum unter einem blauen Himmel frösteln ließ. Das hatte sich rund um den weiß getünchten Leuchtturm und das angrenzende Gebäude aufgestellt, auf dem das Nebelhorn stand – quadratisch wie ein Transformatorenhäuschen, trug es zwei übergroße Schalltrichter, die wie klaffende