Jennifer Lucy Allan

Das Lied des Nebelhorns


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in andere Bereiche der Kultur überführen lassen. Zudem waren die meisten dieser Geschichten allenfalls zur Hälfte wahr, was die spannende Frage aufwarf, was sie am Leben hielt. Was mochte an einer überholten Technologie der jüngeren Vergangenheit so anziehend sein, dass sie dem Vergessen entrissen, zu neuem Leben erweckt und für eine nachwachsende Generation mit einer neuen Funktion und einer neuen kulturellen Bedeutung ausgestattet wurde?

      Wenn von der Küste ein melancholischer Klang zu uns dringt, denken die meisten an ein Nebelhorn. Dabei ist das Nebelhorn nur eines von mehreren Nebelsignalen. Es gibt ein ganzes Arsenal an Instrumenten, die an der Küste als Navigationshilfe Einsatz finden – Glocken, Pyrotechnik, Hupen und Sirenen unterschiedlichster Bauart –, doch eines davon interessierte mich mehr als die anderen. Der Klang dieser gähnenden Schlünde, die ich am Souter Point gehört hatte, wird von einem besonders großen technischen Gerät erzeugt, das mir als Motiv aus Filmen, Literatur und Musik vertraut war. Was landläufig Nebelhorn genannt wird, kann tatsächlich ein Schiffshorn sein, eine elektrisch betriebene Sirene oder, wie in South Shields, ein großes hupendes Diaphon, bei dem Druckluft durch einen Kolben geleitet wird. Ein Nebelhorn im strengen Sinne ist nur Letzteres, und Letzteres war es auch, das mich in die Abhängigkeit trieb. Mir diesen »Stoff« zu beschaffen erwies sich als schwierig, denn wenn ich mich endlich zu einem dieser Nebelhörner vorgearbeitet hatte, war es vielfach bereits verstummt; andere, die sich noch vernehmlich machen konnten, wurden nicht mehr von und für Seeleute betrieben, sondern im Sommer für Touristen angeworfen, die sich von der schieren Kraft einschüchtern ließen.

      Das Nebelhorn am Souter Point wurde von Kompressoren betrieben, die ihre Kraft aus Dieselmotoren schöpften. Die Motoren füllten Druckbehälter, aus denen komprimierte Luft durch eine Leitung zu einem Ventil geführt wurde, das am Hals des eigentlichen Horns saß. Wurde es geöffnet, gelangte der gewaltige Klang des Horns in die Welt. Auch Schiffe, klein wie groß, sind mit Nebelsignalen bestückt. Die Palette reicht von Hörnern, die es mit ihren Kollegen an Land aufnehmen können, über elektrisch betriebene Tröten bis hin zu mit Druckluft gefüllten Kartuschen, wie man sie auf kleineren Booten antrifft, aber auch auf Technopartys und Karnevalsveranstaltungen. In Sachen Klang und Lautstärke können es große Schiffe durchaus mit kleineren Nebelhörnern aufnehmen, aber nichts reicht an jene Bestien heran, die an Leuchttürmen und in Häfen installiert sind.

      Der Klang eines Nebelhorns gehört zum akustischen Inventar einer Küstenlandschaft, vor allem im britischen Königreich und in Nordamerika. Aber versuchen wir einen Moment lang, den vertrauten Klang auszublenden und den Blick neu auszurichten. Dann haben wir eine kühne, unwirkliche Maschine vor uns, die mit 120 Dezibel so laut ist wie eine Rockgruppe, die ihre Verstärker bis zum Anschlag aufdreht, allerdings an einem abgelegenen und schwer zugänglichen Fleckchen Erde steht und aus riesigen Schalltrichtern aufs Meer hinausschreit. Die Lautstärke ist ohrenbetäubend, die Architektur der markanten Wachposten bizarr. Zugegeben: Auch Flutwarn- und Zivilschutzsysteme sowie Luftschutzsirenen sind durchaus beeindruckend, aber nichts macht sich so nachhaltig bemerkbar wie das Nebelhorn, wenn es das Meer anbrüllt, nichts vermag eine Warnung so tröstlich vorzubringen, und nichts ist so bedeutungsschwer aufgeladen mit Leben und Tod, Erinnerung und Melancholie wie der Klang, den ich an jenem Junitag auf den Klippen von South Shields hörte.

      Diese Verbindung von Klang, Ort und Menschen nahm mich gefangen, weil mir nichts von dem, was ich hörte oder las, das Erlebte erklären konnte. Es gibt keinen Klang, der so sehr an ein bestimmtes Wetter geknüpft ist, und keine andere Maschine klingt derartig gewaltig. Der metallene Schalltrichter des Nebelhorns kann so groß geraten, dass man hineinkrabbeln kann, die Maschinen, mit denen sie betrieben werden, sind Giganten mit einem gigantischen Verbrauch an fossilen Brennstoffen. Ausgelöst worden war meine Begeisterung von der schieren Größe des Nebelhorns ebenso wie durch die Gefühle, die sich in jenem Moment eingestellt hatten, in dem ich es zum ersten Mal erlebte, aber ich wollte auch die Geschichte dieses Klanges verstehen. Wer hatte beschlossen, dass dieses grauenhafte Gerät ein gutes Werk verrichten könnte? Wie war ein derartig obszöner Apparat entstanden? Wo hätte ich die Möglichkeit, es zu hören? Wie konnte es sein, dass derart viele Menschen davon zu Tränen gerührt wurden? Und funktionierte es eigentlich noch? Diese Fragen verlangten nach Antworten, und um Antworten zu finden, musste ich tiefer graben.

      Dieses Buch beschäftigt sich mit Nebelhörnern – eine Art Stimmführer im Konzert an unseren Küsten und Ursprung einer Musik, die für alle, die sie kennen, selbstverständlich geworden ist, weshalb sie keinen Gedanken mehr daran verschwenden, wie absurd sie eigentlich ist. Dieses Buch beschäftigt sich aber auch mit der Frage, ob wir, wenn wir über die Klänge, die wir kennen, und die Art und Weise, wie wir sie hören, nachdenken, etwas darüber erfahren, wo unser Platz in dieser Welt ist, weil wir dabei bislang unbekannten Details und Geschichten auf die Spur kommen, die komplexer sind, als es zunächst den Anschein hat. Klänge und Musik sind so wichtig wie das, was wir sehen können, die unsichtbaren Luftschwingungen, die uns umgeben, können uns in die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft entführen. Was ich im Klang des Nebelhorns gehört habe, war nicht nur ohrenbetäubende Musik, sondern das Potenzial, Geschichte, Kultur, Industrie, Landschaft und, dies vor allem, Menschen miteinander zu verbinden.

Teil 1

      Der erste Aufschrei

      Der Legende nach wurde das Nebelhorn um 1850 von einem Mann namens Robert Foulis in Kanada erfunden. Er hatte in Schottland ein Ingenieurstudium absolviert und anschließend in Belfast als Anstreicher gearbeitet. Dort lernte er seine erste Frau Elizabeth Leatham kennen, die 1817 kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Euphemia starb, woraufhin Foulis beschloss, auf der anderen Seite des Ozeans ein neues Leben zu beginnen. Sein Ziel war Ohio, aber das Schiff geriet in schweres Wetter und musste Nova Scotia anlaufen, wo schottische Freunde Foulis überredeten, mit ihnen auszusteigen.1 Euphemia, die bei ihrer Tante in Edinburgh geblieben war, ließ er nachkommen, und beide siedelten sich in Saint John, New Brunswick, an, wo Foulis ein zweites Mal heiratete. Beruflich befasste er sich mit technischen Aspekten der Bekohlung und der Dampfschifffahrt, war wechselweise als Maler oder Ingenieur angestellt und gründete sowohl eine Kunstschule als auch eine Gießerei. 1928 wurde ihm zu Ehren auf einem Friedhof von Saint John ein Denkmal errichtet.

      So weit die gesicherten Fakten aus seinem Leben, doch aus denen wird nicht ersichtlich, dass oder warum er ein Gerät wie das Nebelhorn erfunden haben sollte. Das übernimmt eine andere Geschichte, eine Mischung aus Folklore und Tatsachen unbestimmten Ursprungs. In ihrer verbreitetsten Version bildet sie ein Narrativ, das zu glauben leicht, zu beweisen hingegen unmöglich ist, aber dafür dem Nebelhorn von seinem ersten Aufschrei an eine hohe Emotionalität beilegt. Diese Geschichte geht so: An einem Abend in Saint John ging Foulis bei dichtem Nebel am Strand spazieren. Noch von dort konnte er hören, wie seine Tochter Klavier spielte, und dabei fiel ihm auf, dass die tieferen Töne lauter klangen als die hohen und besser durch den Nebel drangen. In Nebel eingehüllt, ließ er sich vom Klavierspiel seiner Tochter nach Hause leiten. Dieses Erlebnis brachte ihn auf die Idee, eine Maschine zu konstruieren, die tiefe und laute Töne von sich geben konnte, um so von Land aus Schiffe zu warnen, die wegen des Nebels das Licht des Leuchtturms nicht sehen konnten. Und so baute er ein Nebelhorn, das 1859 auf Partridge Island aufgestellt wurde. Foulis unterließ es, seine Erfindung zu patentieren, weshalb er 1866 als armer Mann starb.2

      Diese Geschichte findet sich in Büchern und im Internet, sie wird in Fernsehsendungen und Enzyklopädien weitergetragen. Lange Zeit habe ich sie akzeptiert, ohne sie zu hinterfragen. Doch je mehr ich mich mit der Materie beschäftigte, desto größer wurden die Zweifel, desto mehr Fragen stellten sich mir. Tatsächlich ist die Geschichte allenfalls im Kern wahr, der Rest ein ans Herz gehender Mythos über einen industriellen Klang. Es gab tatsächlich einen Erfinder namens Foulis, der ein dampfbetriebenes Horn auf Partridge Island aufstellte, aber wer will sagen, ob es diesen Spaziergang im Nebel wirklich gab oder ob seine Tochter je Klavier gespielt hat? Für diesen Teil der Geschichte gibt es nicht einmal Indizien, und auch die Frage, wie ihn ausgerechnet der Klang eines Klaviers im Nebel auf die Idee gebracht haben könnte, ein dampfbetriebenes Nebelhorn zu konstruieren, muss unbeantwortet bleiben. Wer denkt bei einem Klavier an ein Nebelhorn? Und wie muss ein Mensch gestrickt sein, der sich von den Klavierübungen eines Kindes dazu