Jennifer Lucy Allan

Das Lied des Nebelhorns


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Der Eiswagen bimmelt bei jedem Wetter. Zivilschutzwarnungen gehen dem Ereignis voraus, ihr Warnruf fordert die Menschen zum Handeln auf. Das Nebelhorn unterscheidet sich diametral davon, nicht nur hinsichtlich der Technik, sondern auch funktional. Offiziell handelt es sich um eine Navigationshilfe. Es wurde nicht nur erfunden, um Schiffe vor gefährlichen Küstenabschnitten und Sandbänken zu warnen, sondern vor allem, um ihnen mitzuteilen, wo sie sich befinden.8

      Sind wir dem Wetter ausgesetzt, werden alle unsere Sinne angesprochen, in jedem Falle aber der Sehsinn, der Hörsinn und der Geruchssinn, mitunter auch der Tastsinn. Ein Sommerregen bewirkt eine Veränderung der Lichtstimmung, weil sich der Himmel verdunkelt und Regenwolken aufziehen. In Städten ist der Geruch des Staubes, der vom heißen Beton aufsteigt, ein Vorbote der ersten Regentropfen, die wir auf unserer Haut und in unseren Handflächen spüren. Auf dem Land steigt uns der Duft von Erde und Laub in die Nase.9

      Um verschiedene Arten von Nebel zu unterscheiden, wird zunächst danach geschaut, wie und wo er sich bildet. Strahlungsnebel entsteht, wenn die Erde nach Sonnenuntergang auskühlt; er legt sich im Morgengrauen über Marschen und Senken und löst sich mit steigenden Temperaturen in Wohlgefallen auf. Advektionsnebel bewegt sich horizontal fort und rollt heran, wenn sich feuchte Luft über eine kältere Fläche wie das Meer oder ein Schneegebiet legt. Es gibt Talnebel und Bergnebel, auch orografischer Nebel genannt, Verdunstungsnebel und Eisnebel. Es gibt sogar Nebelbögen – farblose Lichtbögen aus leuchtendem weißem Dunst.

      Nebel, Dunst und Wolken sind Variationen ein und desselben Prinzips: Kondensation. Die Definition von Nebel ist dabei ausgesprochen anthropozentrisch geraten, weil sie einen Beobachter voraussetzt. Der einzige Unterschied, den der britische meteorologische Dienst zwischen Nebel und Dunst macht, ist die Sichtweite. Nebel unter wissenschaftlichen Aspekten in den Blick zu nehmen bedeutet daher, den Menschen als Beobachter aus der Definition zu entfernen.

      Waren Sie je auf einem Konzert oder in einem Club, wo so viel Kunsteis zum Einsatz kam, dass Sie sogar von Ihrer Begleitung separiert wurden? Wie hat sich das angefühlt? Haben Sie sich desorientiert gefühlt, verloren? Nehmen Sie dieses Gefühl, nicht sehen zu können, was sich unmittelbar neben Ihnen befindet, und versetzen Sie sich auf ein Schiff auf hoher See. Sie haben keine Ahnung, in welche Richtung Sie fahren, und die Situation wird allmählich gefährlich. Ursache ist ein Verlust, das Fehlen von Orientierungspunkten, die gewöhnlich für die Navigation benutzt werden – gleich ob Sie in Ihre Stammkneipe oder in einen sicheren Hafen wollen, wenn auch mit unterschiedlichen Folgen.

      Musiker, die in ihren Konzerten große Mengen Trockeneis einsetzen, nutzen den Nebel als Kulisse für die Musik, die zu hören das Publikum gekommen ist. Die mit langen Mänteln und Kapuzen angetane Gruppe Sunn O))), prominente Vertreter des Doom Metal, deren dröhnende Gitarren aus monumentalen Verstärkertürmen dringen, setzt Nebel ein, um die Intensität des Klanges zu erhöhen. In ihren Konzerten machen sie davon derart massiv Gebrauch, dass in angrenzenden Gebäuden die Rauchmelder ausgelöst wurden. In dem einen Zusammenhang kann Nebel, selbst wenn er aus der Maschine stammt, also Nervenkitzel bewirken, weil er die Welt im Handumdrehen verändert. In einem anderen Zusammenhang, etwa auf See und ohne festen Boden unter den Füßen, verbreitet er Angst und Schrecken.

      Nebel, der sich über das Meer und die Küste senkt, ist lebensbedrohlich, weil sich in seinem Gefolge der Tod anschleichen und ganze Schiffe verschlingen kann. Jeder Seemann weiß, wie schnell Nebel aufziehen kann und was das für den Orientierungssinn bedeutet. Chris Williams, der als Hausmeister und Teilzeit-Wärter auf dem Leuchtturm von Nash Point in Südwales gearbeitet und zahllose Ausfahrten auf dem Bristolkanal unternommen hat, erinnert sich daran, dass sich sein Boot einmal bei dichtem Nebel um 180 Grad gedreht hat, während er sich einen Handschuh überzog.

      Nebel beschreibt eine Grenze, Nebel beschreibt eine Stimmung. Wenn Ella Fitzgerald A Foggy Day von George Gershwin singt, geht es nicht um das Wetter, sondern um den Nebel als Gleichnis für ein persönliches Leid. Wenn der Angebetete schließlich auftaucht, lichtet sich der symbolische Nebel. Doch der Nebel ist nicht nur der sichtbare Ausdruck für Ellas Gefühle, sondern zugleich etwas, das diese Gefühle erst hervorruft. Wenn Bob »The Bear« Hite von der Gruppe Canned Heat auf der Platte Live at Topanga Corral10 murmelt »I’m already in a fog. I don’t need the machine«, dann zielt er auf eine gänzlich andere Form des Nebels ab, die ihn einhüllt – einen Nebel, der chemikalischen Ursprungs ist.

      Der Nebel zieht sich durch die westliche Kultur wie eine Rauchschwade, angefangen von Aphrodite, die in der Ilias Paris mithilfe einer Wolke in Sicherheit bringt, bis hin zu John Carpenter, der in seinem Film Nebel des Grauens eine Nebelbank über eine verschlafene Kleinstadt an der kalifornischen Küste hereinbrechen lässt, in der von Lepra gezeichnete Zombie-Piraten stecken. Stephen King lässt in seinem Buch Der Nebel ebenfalls Monster auftreten; in James Herberts Roman Der Nebel bringt er Wahnsinn unter die Menschen. Eine besondere Rolle spielt der Nebel im Genre des Schauerromans, wo er als Sinnbild der menschlichen Irrtümer und als Schwelle zur Geisterwelt dient. Nebel spielt eine tragende Rolle in Susan Hills Die Frau in Schwarz, in den Büchern mit Sherlock Holmes und bei H. G. Wells. Robert Louis Stevensons Figur Dr. Jekyll biegt in eine neblige Gasse ein und verlässt sie als Mr. Hyde.11 Am meisten beeindruckt mich jedoch der Nebel, der Dracula an die Küste von Whitby verschlägt (der dortige Leuchtturm erhielt übrigens erst 1903 ein Nebelhorn, also einige Jahre nach Draculas Ankunft). Das Schiff erreicht die Küste bei dichtem Nebel, der selbst nach britischem Maß gemessen beklemmend ist:

      Dann kam wieder der Nebel vom Meer, dichter als zuvor, eine feuchte Dunstmasse, die alles wie ein graues Leichentuch einhüllte, so dass die Menschen ganz auf ihr Gehör angewiesen waren, denn das Brüllen des Sturms und das Krachen des Donners und das Dröhnen der mächtigen Böen drangen noch lauter als zuvor durch die nasskalten Schleier.12

      In San Francisco gehört der Nebel zur Stadt und die Stadt zum Nebel. Und zu diesem Nebel gehören die Nebelhörner. Rund um die Bucht von San Francisco ertönen sie durchschnittlich zweieinhalb Stunden pro Tag, und in den Brauereien im Umland wird Bier gebraut, das Verloren im Nebel, Nebelbrecher oder Stadt des Nebels heißt. Wenn die Einwohner von San Francisco über Wolken reden, sprechen sie von »hohem Nebel«, und wenn dieser hohe Nebel in die Straßen der Stadt Einzug hält, fühlen sie sich »eingenebelt«. In einem Buch von Edwin Rosskam von 1930 heißt es, dass der Nebel nicht zum Wetter gehört, sondern »wie eine Insel im Wetter treibt«. Der Nebel ist so allgegenwärtig, dass er in Gestalt eines sarkastischen Charakters namens Karl der Nebel (benannt in Anlehnung an die Figur Karl der Riese aus dem Film Big Fish) einen eigenen Twitter-Account unterhält. Karl brüstet sich damit, das Feuerwerk zum Nationalfeiertag verhindert zu haben, ärgert Touristen, indem er sich vor die Linsen ihrer Fotoapparate schleicht, und schießt Selfies – graue Rechtecke in unterschiedlichsten Schattierungen. Besonders Letzteres entbehrt nicht einer gewissen Komik, weil Nebel selbst nicht fotografiert werden kann, sondern allenfalls seine Wirkung, etwa wenn er ein Motiv ganz oder teilweise verhüllt. 1966 behauptete ein gewisser Gareld M. Corman, er habe eine Linse erfunden, mit der er durch den Nebel von San Francisco hindurchsehen könne. Er gab ihr den Namen »Ohmichlescope«.13

      In seinem Buch über das Wetter in der Bucht von San Francisco – das in Wahrheit ein Buch über den Nebel in der Bucht von San Francisco ist – führt Harold Gilliam aus, dass pro Stunde bis zu einer Million Tonnen Wasser in Form von Dunst und Nebel durch die Meerenge Golden Gate wabert. Im späten Frühling und im Sommer kann die Nebelwalze zwischen hundert Metern und mehreren Hundert Kilometern breit und zwischen hundert Metern und einem knappen Kilometer hoch sein – Ausmaße, die ihn zugleich fester und stofflicher wirken lassen, als er tatsächlich ist. Der Schriftsteller George Sterling, der San Francisco als »kühle, graue Stadt der Liebe« bezeichnete, war davon überzeugt, dass der Nebel eines schönen Tages als Energiequelle genutzt werden könnte, weil er mit bis zu sechzig Stundenkilometern durch das Golden Gate strömt.

      Solch beeindruckende Zahlen verschlinge ich regelrecht, aber so aussagekräftig sie auch sind, verlieren sie ihre Bedeutung, wenn man sie auf eine Masse bezieht, bei der es sich letztlich um bewegte schwere Luft handelt. Nebel kann ich weder greifen noch fotografieren – seine Anwesenheit erschließt sich allein aus der Relation zu anderen Dingen.

      Geschwindigkeit,