Jennifer Lucy Allan

Das Lied des Nebelhorns


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Platte, die sich vor 650 000 Jahren zugetragen haben. Die Bucht ist genau genommen ein Durchbruch, den der Pazifische Ozean auf Meereshöhe in die kalifornischen Küstengebirge geschnitten hat, und weil sich dieser Durchbruch am Golden Gate stark verjüngt, wird die Luft, gleich ob heiß oder kalt, stark beschleunigt, wenn sie hindurchmuss, weshalb der Sonne zehn Minuten und weniger genügen, um sie in Nebel zu verwandeln. Würde man den Nebel von San Francisco mitsamt der aus den geografischen Besonderheiten resultierenden Energie an die Themsemündung verfrachten, könnte ich ihm mit dem Fahrrad nicht folgen.

      Die Frühjahrs- und Sommernebel von San Francisco sind Advektionsnebel, der entsteht, wenn feuchte Luft auf die Wasseroberfläche in der Bucht trifft oder, bei warmem Wetter, warme Luft an den umgebenden Hängen aufsteigt und abkühlt. Winter- oder Tule-Nebel sind Strahlungsnebel; verantwortlich ist das Zusammentreffen von kaltem Land und warmer Luft, die darüber hinwegstreicht. Der Ausdruck »Tule« ist eine Ableitung aus dem Aztekischen und meint die Binsen, an denen sich der Nebel sammelt. Für die meisten Schiffsunglücke, die sich in der Bucht ereignen, sind diese Winter- oder Tule-Nebel ursächlich.

      Auch für andere Nebelformen, die sich einer besonderen Geografie verdanken, gibt es dialektale Bezeichnungen. Manche ziehen besonders schnell auf, andere sind besonders kalt, und wieder andere zeichnen Trugbilder in die Luft. In Südamerika heißen besonders dichte Nebel, die nicht von Regen begleitet werden, camanchaca, in Chile und Peru steht das Wort garúa für kalte Winternebel; die im Westen der USA lebenden Schoschonen nennen Nebel, der in den tiefen Gebirgstälern gefriert, pogonip. Das Niederländische kennt den Ausdruck witte Wieven, womit in Nebelschwaden gehüllte Frauen gemeint sind, die im Herbst erscheinen. In Schottland und Nordengland heißt Meeresnebel kurz haar oder fret.

      Nebel spielt im Volksglauben und in der Mythologie eine wesentliche Rolle. Mal ist er der Bote, der etwas bringt, mal der, der Dinge enthüllt, dann wieder jemand, der eine Brücke zwischen der diesseitigen Welt und anderen Sphären schlägt. An der britischen Küste kursiert eine Geschichte aus dem Cornwall des 16. Jahrhunderts, die von einem großen Nebel berichtet, aus dem eine Burg hervorsteigt, gefolgt von einer Flotte aus größeren und kleineren Schiffen. Der Legende nach lag die Isle of Man einst unter der Wasseroberfläche, und als sie sich schließlich erhob, blieb sie unter einem magischen Nebelschleier verborgen. Auch Avalon war laut manchen Überlieferungen auf magische Weise verhüllt. In außereuropäischen Kulturen sind solche mythischen Erscheinungsformen des Nebels ebenfalls anzutreffen. Im Popol Vuh – der Schöpfungsgeschichte der Mayas – bewirkt das Aussprechen des Wortes »Welt«, dass sich das Land »wie eine Wolke, wie Nebel« aus dem Wasser erhebt. Seinen Ursprung mag dieses Bild in der Art und Weise haben, in der Wolken und Nebel die Berge ver- und enthüllen, von denen die Region geprägt ist.

      Doch wo oder wann auch immer, in all diesen Geschichten, erst recht in der Wirklichkeit, ist der Nebel so gut wie nie harmlos oder ungefährlich. Im Zweiten Weltkrieg verhinderte Nebel über den Flugplätzen, dass Flugzeuge der Alliierten sicher landen konnten, wenn sie von ihren Einsätzen zurückkamen. Aus diesem Grund wurde FIDO entwickelt, ein System aus zwei langen, mit Treibstoff gefüllten Röhren, die parallel zur Landebahn ausgelegt und in der Hoffnung angezündet wurden, dass sich so der Nebel vertreiben ließe. Auf diese Weise wurden pro Stunde 450 000 Liter Treibstoff vernichtet. Piloten, die sich im Anflug befanden, bot sich mit der brennenden Landebahn ein wahrlich infernalisches Bild. Doch das war sicherlich immer noch besser als die bis dahin verwendete Praxis, im Fall, dass der Flugplatz im Nebel lag, mit dem Fallschirm abzuspringen und das Flugzeug ins Meer stürzen zu lassen.

      Auf meinem Weg entlang dem Themseufer fällt mir das Läuten einer Glocke auf, die an einer Tonne befestigt ist und von den Wellenbewegungen zum Klingen gebracht wird. Ich kann die Umrisse der Landschaft förmlich hören, wissend, dass die Flut noch bevorsteht. Bei uns Sehenden wird der Orientierungssinn durch Nebel empfindlich gestört, ohne dass er dadurch greifbarer würde. Wir können ihn nicht in die Hände nehmen, und doch legt er sich um uns, vereinzelt uns, schneidet uns von der Außenwelt ab.

      Künstlerinnen und Künstler wie Ólafur Elíasson, Antony Gormley und Fujiko Nakaya – eine Bildhauerin, die für ihre Nebelinstallationen bekannt ist, die sie wie flüchtige Skulpturen für den öffentlichen Raum entwirft – haben diese Eigenschaften des Nebels in ihrer Arbeit aufgegriffen. Alle drei haben mit teils überwältigendem Erfolg Ausstellungen veranstaltet, die die Frage thematisierten, was es bedeutet, in künstlichen Nebel einzutauchen und sich so von der Außenwelt abzukapseln. Solcherlei Kunst ist auf keinerlei Vorwissen angewiesen, weil sie eine unmittelbare sinnliche Erfahrung ermöglicht. Auch das kann Nebel.

      Auch Menschen mit eingeschränkten sinnlichen Fähigkeiten kennen eine solche Neuordnung der Wahrnehmung unter dem Einfluss von Nebel. Blinde nennen Schnee gelegentlich auch »Nebel der Nichtsehenden«, weil er die Informationen über die Welt unterdrückt, die sie sonst über das Gehör aufnehmen. Während Sehende Ecken und Flächen, Wege, Straßen und Hindernisse über die Augen wahrnehmen, orientieren sich Blinde anhand des Echos, das auf ihre Ohren trifft. Schnee aber löscht diese Informationen aus. Wenn ein Blinder bei Starkregen die Haustür öffnet, dann ist das, so John M. Hull in seinem Buch Im Dunkeln sehen, als würde ein Sehender die Vorhänge seines Fensters öffnen. Beide verschaffen sich ein Bild von der Welt, der eine über die Augen, der andere über das Gehör.14

      Zurück nach Essex, wo ich noch immer am Ufer der Themse entlangradele, das Kollern der Gänse und den Klang der Fallen höre, die im Jachthafen an metallene Masten schlagen. Diese Geräusche sagen mir, wo ich mich befinde, setzen meinem wenig verlässlichen Raumgefühl willkommene Grenzen. In dichtem Nebel auf meine Umwelt zu hören hat mir dabei geholfen, für die Geschichte, der ich auf der Spur war, einen Rahmen zu finden und so etwas über die Rolle herauszufinden, die das Nebelhorn in der Klanglandschaft unserer Küsten einnimmt.

      Nebelhörner sind die Tonspur des Nebels und seiner Verbündeten, ein Mittel, fehlende Sicht zu überwinden, wenn Tiefe und Details von einem weiß-grauen Schleier verhüllt sind, wenn der Orientierungssinn ins Zweifeln gerät und man nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, wo man sich befindet. Hier und jetzt an der Themsemündung, von einem Licht umfangen, dem jede Tiefe abgeht, bin ich von dem Ort, den ich wie meine Westentasche kenne, vollständig getrennt. Der Nebel hat nicht nur meine Sinne umsortiert, sondern auch den Ort neu geformt, und im Gepäck hat er all die Assoziationen mit der Schauerliteratur und deren Grenzerfahrungen. Ich stehe unter dem Bann des Nebels, bin vom Wetter eingehüllt, seinen unterschiedlichen Bedeutungen, und erlebe nach, wie seine feuchten Finger nach Schriftstellern und Seeleuten gleichermaßen gegriffen haben.

      Und doch: Nebelhörner waren zwar die größten und lautesten Klangerzeuger an unseren stillen Küsten, aber beileibe nicht die ersten, und sie kamen auch nicht aus dem Nichts. Womit sich die Frage stellt, was an den entlegensten Grenzen des Festlands erklang, bevor das Nebelhorn zu brüllen begann, und was dafür verantwortlich ist, dass ein derart monströses und zugleich melancholisches Ding wie das Nebelhorn erfunden wurde.

      Unterwasserglocken

      Nebelhörner wurden nicht an stillen Küsten aufgebaut, sondern an Orten, die von Sprengstoffexplosionen und Glockenläuten erfüllt waren, von Geräuschen, die von Uhrwerken, Feuerkraft und, in einem Fall, von einem Pferd erzeugt wurden.

      Der älteste überlieferte Hinweis auf ein Tonsignal, das für Schiffe gedacht war, die von Nebel überrascht wurden, stammt aus dem Jahr 1771 und wird heute in der Nationalbibliothek von Schottland verwahrt. Er gehört zu einer Sammlung von Schriftstücken der Familie Stevenson, einer Dynastie von Ingenieuren, die sich vor allem im 19. Jahrhundert um den Bau von Leuchttürmen verdient gemacht hat. Ich sitze im kühlen und stillen Lesesaal der Bibliothek, nehme das lose Blatt vorsichtig aus der Mappe und lege es vor mich auf den Tisch. All die Jahre überdauert hat es nur, weil sich auch in einem früheren Jahrhundert jemand für derlei Ephemera interessiert, wenn nicht begeistert hat.

      Als ein Mitglied der Familie Stevenson das Blatt an sich nahm und sicherte, war es bereits ein Jahrhundert alt. Es ist mit tiefschwarzer Schrift und einem Holzschnitt bedruckt, der Bamburgh Castle zeigt, das an der Küste Northumberlands liegt. Der Text handelt davon, dass »am Südturm bei dichtem Nebel eine