Jennifer Lucy Allan

Das Lied des Nebelhorns


Скачать книгу

voneinander getrennt, gleichzeitig aber durch die forcierte Suche nach technischer Neuerung und Modernität, die ihr eigentlicher Antrieb ist, eng miteinander verbunden. Beide kommen in ihrem Klang überein, der hier wie dort durch Experimentieren entstanden ist. In beiden Fällen bringt eine neue Technologie einen neuen und charakteristischen Klang hervor, der aber nicht durch die Technologie definiert ist, die ihm zugrunde liegt, sondern durch die Art und Weise, wie die Menschen, die ihn hören, ihn einsetzen. Anders gesagt, lässt sich der Klang des Nebelhorns nicht auf seine technische Funktion reduzieren. Kulturelle und soziale Faktoren sowie willkürliche Entscheidungen haben den Klang zu dem gemacht, als das wir ihn heute wahrnehmen.

      Musikalische Genres und weltbewegende Erfindungen – egal ob es sich um Nebelhörner oder Acid House handelt – sind so gut wie nie das Werk eines einzelnen Genies. »Helden«-Geschichten, die anderes behaupten, halten einer genaueren Überprüfung nur ausgesprochen selten stand. Und so erweist sich in unserem Fall, dass Foulis nicht der Einzige war, der an einem Signalhorn arbeitete, und das Gerät, das schließlich an unseren Küsten Verbreitung fand, nicht seines war. Parallel zu Foulis entwickelten gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Ingenieure vergleichbare Apparaturen. Ein Amerikaner namens Celadon Leeds Daboll ließ sich 1860 mit Druckluft betriebene Hörner patentieren, zunächst in seiner Heimat, drei Jahre später auch in Großbritannien.4

      Der Chemieprofessor Frederick Hale Holmes entwickelte 1863 ein Horn mit einem Rohrblatt als Tonerzeuger, und wenige Jahre später wurde das erste Drucklufthorn patentiert. In den 1880er-Jahren folgten ein handbetätigtes diaphonähnliches Nebelhorn, ein von einem Kolben betriebenes Nebelhorn sowie weitere Varianten. Robert Hope-Jones – der Erfinder der Wurlitzer-Orgel – reichte 1896 ein Patent für eine Weiterentwicklung des Diaphons ein, in dem als Anwendungsgebiet neben der Verwendung in der Orgel ausdrücklich auch Schallsignale genannt werden. Ein weiteres, später eingereichtes Patent hat ausschließlich ein Nebelhorn zum Inhalt.

      Nichtsdestotrotz wird die Erfindung des Nebelhorns allein Foulis zugeschrieben. So wie die singenden Frösche der Geschichte von der Erfindung des Exotica erst die richtige Würze verleihen, so ist es in Foulis’ Geschichte das Klavier. In beiden Fällen handelt es sich um eine Zutat, die unabhängig von ihrer historischen Wahrheit den Reiz der Geschichte erhöht. Und in beiden Fällen sagt diese Zutat weniger über den Klang als vor allem darüber aus, welche Gefühle mit ihm verbunden sind. Was Foulis’ Geschichte so fesselnd macht – dass er ein Außenseiter war, ein Einzelgänger, der verarmt starb, obwohl er die gewaltige Maschine erfunden hat, der ich verfallen war –, kann nicht einmal ansatzweise erklären, warum Nebelhörner, auch wenn sie auf seine Erfindung zurückgehen mögen, einen derartigen Einfluss auf eine Musikjournalistin haben können, die ein Jahrhundert später fernab jeder Küste geboren wurde.

image

      Das Patent von Celadon Leeds Daboll aus dem Jahr 1860

      Foulis’ Geschichte ist fantastisch und zugleich romantisch. Ich ließ mich von den Stimmungen und Motiven mitreißen, die darin anklingen und mir aus dem Kino vertraut sind, von dem Leid und Verderben, die durch die Geschichte wabern wie der Nebel, in dem sie sich zutrug. Ich begriff, dass dieser Nebel, der vor fast 170 Jahren einen Strand einhüllte, die Tür war, die zu tiefer liegenden Schichten und zu belastbaren Fakten führte, weil er einer der wenigen belastbaren Fakten war, die in der Geschichte steckten. Der Nebel stand für Stimmungen, war Gleichnis und bedeutete Gefahr, aber, wichtiger noch, im Nebel lagen auch Ursache und Wirkung. Nicht nur Foulis’ Geschichte war ohne ihn undenkbar, sondern auch die Existenz des Nebelhorns. Wenn ich das Nebelhorn verstehen wollte, musste ich erst einmal den Nebel verstehen.

      Schwerwetter

      An einem frostigen Novembermorgen mache ich mich auf den Weg zu meinem Büro. Es liegt an der Themsemündung, und aus dem Fenster kann ich die Salzmarschen von Leigh Marsh sehen. Wenn ich dort bin, arbeite ich im Rhythmus der Gezeiten. Ist das Wasser bei meiner Ankunft weg, gehe ich erst, wenn es wieder zurück ist, ist es da, bleibe ich, bis ich wieder den feuchten Sand der Salzwiesen sehen kann, die im Sommer sattgrün und im Winter schmutzig braun sind. Ich fahre mit dem Fahrrad und komme dabei durch jene Landschaft, in der auch Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis beginnt. Von London kommend, ankert Marlow mit seiner Segeljacht im Mündungsgebiet der Themse. »In der Ferne verschmolzen das Meer und der Himmel.«5 Über den Marschen von Essex hängt Dunst, »der einem Gewebe aus leuchtender Gaze« gleicht.6 Doch als ich eine Pause einlege, um etwas zu verschnaufen, ist kein Horizont zu sehen, kein Himmel und kein Meer und auch keine in Dunst gehüllte Salzmarsch, weil ich von dem hellen Grau eines dichten Morgennebels umfangen bin.

      Die Luft ist nass und schwer, die Feuchtigkeit schlägt sich auf meiner Kleidung nieder. Mein Blick ist eigentümlich unscharf und müht sich vergeblich, die klamme und dumpfe Luft zu durchdringen. Der Nebel kriecht in die Manschetten meiner Ärmel, und obwohl ich das Haar zusammengebunden habe, ziehen sich einzelne Strähnen durch die Feuchtigkeit zu Locken zusammen. Wo der Nebel auf das kalte Metall meines Fahrrads trifft, etwa am Lenker, bildet sich Kondenswasser. Laternenmasten und Poller sind allenfalls schemenhaft zu erkennen. Und wie im Dunkeln glaube ich, meinen Atem, der vom Fahrradfahren leicht beschleunigt ist, lauter zu hören als gewöhnlich. Doch auch wenn der Nebel alles vor meinem Blick verbirgt, fühle ich mich anders als im Dunkeln. Ich bin umgeben von Licht, dem die Tiefe fehlt. Die Welt ist zusammengeschrumpft auf die Größe dessen, was ich hören kann, und was ich hören kann, reicht weiter als das, was ich sehen kann. Der Nebel dämpft Geräusche, verbannt den Sehsinn vom Spitzenplatz und schärft meinen Geruchs- und meinen Tastsinn. Wenn ich tief einatme, kann ich sogar die Luft schmecken; ich spüre das salzige Seegras auf meiner Zunge und die öligen Abgase in meinem Hals.

      Ich halte inne und lausche.

      Leuchtende Scheinwerfer ziehen vorbei wie motorisierte Himmelskörper, die im vom Nebel verlangsamten Straßenverkehr mitschwimmen. Am Ende des zwei Kilometer langen Southend Pier hupt das moderne Nebelsignal, das vom Geräusch der Autos und dem Krächzen der nahezu unsichtbar herumschwebenden Möwen fast übertönt wird. Es soll Kajaks und kleineren Sportbooten den Weg weisen und ist ungleich leiser als die Hörner der Containerschiffe, die in dem ausgebaggerten Teil der Themsemündung Richtung Londoner Hafen ziehen. Wenn der Nebel so dicht ist wie heute, stoppen die großen Schiffe mitunter im Hauptfahrwasser oder fahren sehr langsam und geben mithilfe des Nebelhorns ihre Position kund. Um das Piepsen am Ende des Piers auch nur wahrzunehmen, sind sie viel zu groß, Kapitän und Besatzung stecken in geschlossenen Ruderhäusern und Kabinen hoch über der Wasserlinie.

      Ich, die ich auf festem Boden stehe, aale mich derweil im Nebel und genieße die Stille um mich herum. In Eugene O’Neills Drama Eines langen Tages Reise in die Nacht, in dem der Nebel als Versinnbildlichung für die Eintrübung des Verstandes durch die Alkoholsucht steht, findet Edmund für seine Weltflucht folgende Worte:

      Gerade den Nebel wollte ich. Wenn man halb den Weg herunter ist, kann man das Haus schon nicht mehr sehen. Man weiß nicht mehr genau, wo es war. Auch nicht die anderen Häuser, den ganzen Weg entlang. Ich konnte nur ein paar Schritt weit sehen. Keine Menschenseele weit und breit. Alles um mich herum sah und hörte sich unwirklich an. Nichts war so, wie es ist. Das wollte ich gerade – mit mir selbst allein sein in einer anderen Welt, wo Wahrheit unwahr wird und das Leben sich vor sich selbst verbergen kann. Hinter dem Hafen, wo die Straße am Ufer entlanggeht, habe ich sogar das Gefühl verloren, auf festem Boden zu sein. Nebel und Wasser gingen ineinander über. Es war, wie wenn man auf dem Meer ginge, über das Wasser. Als ob ich vor langer Zeit ertrunken wäre. Als wäre ich ein Geist, dem Nebel zugehörig, und der Nebel war der Geist des Meeres.7

      Nebel ist Materie gewordenes Wetter, zugleich greifbar und unbegreiflich. Ein Nebelhorn erklingt im Nebel und wegen des Nebels, Klang und Wetter sind dadurch verbunden, dass sie auf unsere Sinne einwirken. Nebel löscht das Sichtbare aus, während das Brüllen des Nebelhorns in der Undurchsichtigkeit als akustischer Anker fungiert. Nebel wirkt anders als Dunkelheit – die Nacht lässt sich künstlich aufhellen, aber wie vertreibt man Nebel? Kennen Sie einen anderen Klang, der so fest mit einem bestimmten Wetter verbunden ist? Die Glocke eines