Jennifer Lucy Allan

Das Lied des Nebelhorns


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Suche nach der Quelle dieser Geschichte führte mich in düstere Archive und in prunkvolle Lesesäle in London und in Schottland, zu Onlinedatenbanken und auf genealogische Websites. Ich fand Aufzeichnungen eines Mannes mit identischem Namen, der von Boston nach Kanada umziehen wollte und unterwegs einen Abstecher zu Verwandten machte, die in der Druckindustrie arbeiteten. Er überlegte, für das Leben in der neuen Umgebung wie so viele zu jener Zeit die Schreibweise seines Nachnamens zu ändern, um seine gesellschaftliche Stellung zu verbessern. Ich hatte angenommen, dem Gesuchten mit wenigen Klicks näher zu kommen, doch auch wenn ich recht bald eine Biografie zusammenhatte, fand ich nichts, was mich zum Ursprung der Geschichte hätte führen können. Statt der Herkunft des Nebelhorns durch meine Recherche auf den Grund zu kommen, versank sie immer weiter im Nebel.

      Ich grub alternative Versionen aus, von denen einige plausibel, andere an den Haaren herbeigezogen waren. In einer Quelle wurde behauptet, der Ehrgeiz, sein Wissen als Ingenieur in die Weiterentwicklung von Nebelsignalen zu stecken, habe seinen Ursprung in der Lektüre eines Zeitungsberichts über die Kollision der SS Arctis und der SS Vesta. 1854 – Foulis arbeitete zu dieser Zeit im Leuchtturm von Partridge Island – waren die beiden Schiffe vor der Küste Neufundlands bei dichtem Nebel zusammengestoßen und gesunken. Dabei kamen mehr als dreihundert Menschen ums Leben, darunter alle Frauen und Kinder, die sich an Bord befunden hatten. Ein Techniker, der an der Restaurierung eines Nebelhorns mitgewirkt hatte, schwor Stein und Bein, dass Foulis bei Nebel am Strand auf einem Klavier gespielt habe, aber dann stellte sich heraus, dass er etwas durcheinandergebracht hatte und sich lediglich an eine Episode aus der BBC-Serie Coast erinnerte, die der Geschichte von der Erfindung des Nebelhorns nachgegangen war. Um herauszufinden, wie weit der Klang trägt, hatten sie ein Klavier an den Strand geschleppt und darauf gespielt. Einen Auftritt hatte das Nebelhorn auch in der surrealistischen Eingangsszene der Comedy-Show The Smell of Reeves & Mortimer. Dort wird seine Erfindung John Betjemann zugeschrieben und auf das Jahr 1961 datiert. Ein Grund ist nicht erkennbar.

      Dass Foulis das Nebelhorn erfunden hat, diese Erklärung ist mir mit allenfalls geringfügigen Abweichungen begegnet, seit ich mich ernsthaft mit dem Thema befasst habe. Erst nach einigen Jahren habe ich mit dem Versuch begonnen, den Ursprung dieser Geschichte ausfindig zu machen. Dort angekommen, hätte ich auch den Ursprung des Nebelhorns gefunden, so meine Überlegung. Doch wie sich zeigte, gibt es ein ganzes Netz an Verbindungen zwischen Foulis, der am Meer spazieren geht, und dem Moment, in dem auf den Klippen am South Shields das Nebelhorn von Souter Point aufgestellt wird.3

      In Geschichten gerät ein Leben oft komplizierter, als es in Wirklichkeit war. Die Geschichte von Foulis ist eine elegante, geradlinige Geschichte – ein Mann von der kanadischen Küste verbindet eine Dampfmaschine mit einem großen Horn, und ein neuer Klang ist in der Welt. Gut möglich, dass dies der erste Einsatz einer Dampfmaschine als Nebelsignal war. Tatsächlich ist der Weg, der zu einer Erfindung führt, aber selten so klar auszumachen wie die Wirkung, die sie erzeugt. Hört man sich die Geschichte von Foulis unter diesem Aspekt noch einmal an, dann entdeckt man eine Ballade, die von anrührenden Irrtümern und dichtem Nebel durchdrungen ist.

      Nebel stellt die Zeit und die sichtbare Welt still, und im grauen Licht einer konturlosen Umgebung werden wir mit uns selbst und unseren Erinnerungen konfrontiert. So wird es auch Foulis ergangen sein. Als er sich auf den Heimweg machte, ließ er da mit dem Strand auch das Gefühl des Verlustes hinter sich, das mit dem Nebel verbunden ist? Orientierung bot ihm der Klang, der aus seinem neuen Heim stammte, in dem seine neue Familie lebte. In dieser Geschichte übernimmt das Klavier die Rolle des Nebelhorns, denn es weist ihm den Weg in die Sicherheit. Sein Spaziergang im Nebel handelt also bestenfalls zum Teil davon, dass er das Nebelhorn erfindet. Sie berichtet auch von der Trauer, die aus seiner Biografie rührt.

      So betrachtet, wandelt sich die Geschichte von einer historischen Wahrheit zu einer volkstümlichen Überlieferung des Industriezeitalters. Als Foulis am Strand von New Brunswick spazieren ging und sich der Nebel senkte, so schnell und dicht, wie es an dieser Küste geschieht, woran dachte er in diesem Augenblick? Warum war er allein? Dachte er, vom Nebel wie in Watte gehüllt, an die Frau, die er verloren hatte? An das neue Leben, das in Form von Klavierakkorden durch den Nebel zu ihm drang? Die Geschichte von der Erfindung des Nebelhorns handelt von mehr als einem Einfall. Foulis’ Spaziergang am Strand berichtet vor allem von der emotionalen Kraft des Nebelhorns, und in dessen Klageton sind diese melancholischen Schwingungen bis heute zu erleben, gleich ob man danebensteht oder eine Aufnahme hört, gleich ob in der Erinnerung oder im Tonstudio.

      Mein Interesse gilt seit jeher der Frage nach den Ursprüngen der Musik – wer hat sie warum gemacht? Das Nebelhorn bot mir zum ersten Mal Anlass, statt über eine bestimmte Gruppe oder eine konkrete Komposition über einen spezifischen Klang nachzudenken. Wenn wir im Zusammenhang mit Musik über Ursprünge reden, neigen wir dazu, die Dinge zu vereinfachen und zu verklären. So geschah es auch in diesem Fall. Die überlieferten Fakten gehören zu komplexen Narrativen, von denen manche zu zufälligen Entdeckungen geschrumpft sind. Irrtümer schleichen sich ein, Einzelheiten werden vertauscht, in ihrer Bedeutung vermindert oder verstärkt. Dann kommen wir und verleiben uns diese Schöpfungsmythen ein wie Hostien. Foulis’ Geschichte hat mich dazu angeregt, darüber nachzudenken, wie andere Klänge in die Welt gekommen sind, wie fehlbar die Überlieferung ist und wie unglaubwürdig viele unserer Geschichten sind. Wenn Foulis’ Nebelhorn eine singuläre Erscheinung war – er hat die Erfindung nie patentieren lassen –, stellt sich die Frage, wo der Klang dann seinen Ursprung hatte. Woran macht man historisch fest, dass ein Klang in der Welt ist? An der Technik? Der akustischen Charakteristik? Der Verbreitung des Geräts, das ihn erzeugt? Und wenn Foulis’ Nebelhorn tatsächlich an einer einsamen Küste ertönte, konnte man dann von einem Klang sprechen, wenn niemand da war, der es hören konnte?

      Exotica, diese nach lauen Tropennächten klingende Spielart des Jazz, die in den 1950er-Jahren in den USA populär wurde, soll durch die zufällige Begegnung von Martin Denny und seiner Band mit einigen Fröschen entstanden sein. Bei einem Konzert in der Shell Bar in Honolulu sollen sich die Amphibien quakend in ein Konzert Dennys eingebracht haben, und das nicht nur synchron mit der Musik, sondern auch unter Beachtung der Pausen. Wie die Geschichte von Foulis reduziert auch diese die Entstehung eines Klanges auf einen einzelnen, schlaglichtartig hervortretenden Moment, schreibt sie einem gewöhnlichen Ereignis zu, das durch einen außerordentlichen Klang geadelt wird. Die Wahrheit hingegen lautet, dass Denny in seiner Zeit als Soldat der US-Streitkräfte über viele Jahre Instrumente und Klänge aus aller Welt für sein Orchester zusammengetragen hat.

      Unter Minimal Music, dieser bedeutenden musikalischen Neuerung, die ihren Anfang in den USA genommen hat, wird oft nur das Werk einer knappen Handvoll Komponisten – Terry Riley, La Monte Young, Steve Reich und Philip Glass – verstanden, obwohl diese Leute in ein Netz von Musikern und Komponisten eingebunden waren, von denen viele – von Julius Eastman bis Joan La Barbara – denselben Überzeugungen und Prinzipien folgten. Dennis Johnson, der mit Riley und Young befreundet war, schuf nur ein Werk, eine minimalistische Komposition für Klavier mit dem Titel November. 1959 geschrieben, wurde sie erst in diesem Jahrtausend einem größeren Publikum bekannt. Interessanterweise nimmt diese Komposition Terry Rileys In C von 1964, die als »Stunde null« der Minimal Music gilt, in vielen Elementen vorweg. Doch damals kannte noch niemand Johnsons Komposition. Wann also entstand dieser spezifische Klang? Mit seinem ersten öffentlichen »Auftritt«? Oder schon mit der ersten Niederschrift, auch wenn die erst Jahrzehnte später zur Kenntnis genommen wurde?

      Über Acid House heißt es gelegentlich herablassend, es sei vom Phuture-Mitglied Earl Smith jr. (besser bekannt als der unvergleichliche DJ Spank-Spank) »zufällig« entdeckt worden, als der eines Nachts zusammen mit DJ Pierre an einem neuen Roland-303-Synthesizer herumgespielt habe, um herauszufinden, was man mit dem Gerät alles anstellen konnte. Dabei sei »aus heiterem Himmel« der charakteristische Sound entstanden. Tatsächlich hat Phuture den neuen Klang namens Acid House aus der gründlichen und systematischen Beschäftigung mit der Musikszene Chicagos heraus entwickelt. So wie die Dampfmaschine benutzt wurde, um die Mechanisierung auf eine neue, ungeahnte Stufe zu heben, so wurden Synthesizer dazu verwendet, der Clubmusik neue Dimensionen zu verleihen. Beide Phänomene in einem Atemzug zu nennen mag willkürlich wirken, aber unstrittig ist, dass sich die Entwicklung beider Klänge einem