Jennifer Lucy Allan

Das Lied des Nebelhorns


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die Thermoskannen mit Tee kreisen ließen, Pärchen mit Hunden, Großeltern auf Campingstühlen, Kinder, die auf dem Mäuerchen hockten, das den Leuchtturm umgab, und Menschen wie ich, mit Jeans und dünner Jacke für den kaum elf Grad warmen Sommertag in South Shields gänzlich unpassend gekleidet, warteten zitternd und vom Wind zerzaust darauf, dass die Vorstellung begann.

      Als die Blechbläser Aufstellung nahmen, verstummten die Menschen. Die ehrfürchtige Stille wurde durch einen einzelnen klaren und hohen Ton durchschnitten, der von einem Trompeter auf dem Dach des Leuchtturms stammte. Dann setzten die anderen Instrumente ein, und die düstere Phrase wurde von einer leichten Brise ergriffen und aufs Meer hinausgetragen. Die Schiffe und Boote antworteten darauf im Gleichklang und abgestimmt auf die Töne der Bläser, als sei es ein Echo, das die unendliche Weite der Umgebung zurückwarf. Ihr jeweiliger Beitrag traf versetzt und im charakteristischen Tonfall ein, die Fähre laut und näselnd, die kleinen Schiffe weinerlich und gequält. Das Zwiegespräch zwischen Blech und Booten, Erdverhaftetem und Maritimem, erfüllte die blaugraue Wasserfläche von den Klippen, auf denen wir standen, bis zum weit entfernten Horizont, eine schwermütige Unterredung, als hätten die beiden dazugehörigen Industrien – der Maschinen- und der Schiffsbau – Stimmen bekommen, um erörtern zu können, wessen Unglück das größere sei.

      Dann, in die Wehklage hinein, begann das Nebelhorn zu brüllen, ein Klang, der Nebel und schlechtem Wetter trotzen und zwanzig Meilen weit hinaus auf See dringen soll. Über die Köpfe des Publikums hinweg brüllte es ein zweites Mal. Meine Ohren wurden gesandstrahlt, und das mit einer Macht und Gewalt, die die Bläser und Schiffe nahezu verstummen und ihren eben noch kolossalen Klang wie eine Maus neben einem Elefanten wirken ließ. Mit jedem Ton, der aus dem Nebelhorn kam, stieg meine Erregung, fühlte ich mich lebendiger. Seine Gestalt verliehen ihm die Klippen und das Meer – vom ersten verhaltenen Aufbegehren bis hin zu jenem infernalischen Lärm, der eine ungeheure emotionale Wucht annahm, als er über die Landschaft strich.

      Das Ende des Requiems kündigte sich an, als die letzte Luft dem Druckbehälter entwich und der Ton mit nachlassendem Druck auch seine Härte verlor. Er geriet zu einem Summen, stimmte mit brüchiger Stimme eine Totenklage an, und als auch dafür die Kraft nicht mehr reichte, blieb ein Stammeln und Röcheln, bis der letzte Atemzug zischend entwich wie die Luft aus einem undichten Ballon.

      Als es wieder still war, stand ich starr und verfroren da. In meiner Kehle steckte ein Kloß, meine Augen wurden feucht. Ich sah mich um und erblickte in den Gesichtern Tränen und glasige Blicke. Etwas hatte uns verlassen, und wir waren allein. In seinem letzten Atemzug hatte das Nebelhorn nicht nur von seinem eigenen Tod berichtet, sondern vom Tod einer ganzen Branche, einer Industrie und allem, was sie einst ausgemacht hatte. Der Klang des Nebelhorns war die Musik zu diesem Tod, und diese Musik wollte mir etwas sagen – das aber auf eine Weise, mit der ich nicht vertraut war.

      Ein paar Jahre zuvor arbeitete ich für ein Musikmagazin, das sich mit Underground und experimenteller Musik befasste, und erhielt den Auftrag, ein Album zu besprechen, dem ich den unverhofften Beginn meiner Leidenschaft für Nebelhörner verdanke. Die Platte heißt Audience of One und stammt von dem australischen Perkussionisten und Komponisten Oren Ambarchi. Auf ihr sind ein zischelndes Becken und nervöse Streicher zu hören, die wie Wind, der über eine Takelage streicht, und das Dümpeln großer Schiffsrümpfe klingen. In diese Mischung bricht ohne Vorwarnung der vibrierende Aufschrei eines Blechblasinstrumentes ein, eines Waldhorns, das hier tiefer und sonorer erklingt, als wir es gewohnt sind. Als ich es zum ersten Mal hörte, stellte ich mir einen Hafen vor und verglich den Klang in meiner Besprechung instinktiv mit dem eines Nebelhorns. Dann aber besann ich mich und begann, den Vergleich zu hinterfragen: Was genau ist ein Nebelhorn, und wie klingt es?

      Um Antworten auf diese Fragen zu finden, verabschiedete ich mich von der Musikjournalistin, die ich gewesen war, und nahm eine neue Identität an: die der vom Nebelhorn Besessenen, der Historikerin des Klanges und der Zielscheibe des Spotts vieler Freunde (»Ein Buch über Nebelhörner …?«). Und ich entdeckte etwas, das ungleich größer war als das Waldhorn auf besagtem Album, ein Horn, das dazu bestimmt war, sich mit den Weltmeeren und dem Wetter zu messen, ein Horn, das furzen und seufzen konnte, brüllen und heulen, das lauter war als irgendetwas sonst an der Küste und voluminös genug, um den Tod niederzubrüllen.

      Im Laufe der Jahre haben sich viele Musikerinnen und Musiker der Lautstärke ihrer Musik gerühmt, viele haben mich mit Klangerlebnissen angelockt, die den Brustkorb in Schwingungen versetzten. Die Spanne reicht von Dub über Doom Metal und Noise bis Hardcore, dargeboten über Soundsysteme, die wie Teile von Flugzeugturbinen aussahen und in höhlengleichen Räumen standen, die vor allem wegen ihrer Akustik ausgewählt worden waren. Diese vibrierenden Ekstasen, bei denen der Klang körperlich wurde und der Lärm mich verstummen ließ, habe ich seit jeher geliebt. Ich stamme aus dem ländlichen Nordwesten Englands, weit von jeder Küste entfernt, aber das Nebelhorn war gewaltiger und aufregender als jede Band, die ich gehört, jede Party, die ich durchgetanzt, und jeder Lautsprecherturm, den ich gesehen hatte – ein Soundsystem, das das Meer beschallen soll und deshalb eine Lautstärke erreicht, die für die endlosen Ozeane angemessen ist. Nun hatte es mich in den Bann geschlagen, und zwar mit Haut und Haaren.

      Auf der Suche nach Nebelhörnern trieb ich mich stundenlang auf YouTube herum, sichtete Fotos und suchte verstaubte Archivseiten auf, die langatmige Texte in veralteten HTML-Dokumenten präsentierten. Ich fand Aufnahmen vom Innenleben der Nebelhörner, das in kuppelförmigen Betonhüllen oder gedrungenen Backsteinbauten steckte. Riesige Schalltrichter ragten surreal aus Löchern in den Wänden hervor oder thronten auf Dächern, die unter der Last einzustürzen drohten. Ich scrollte mich durch Bilder von quadratischen Hörnern und ihren glockenförmigen Mündern, von Trichtern, die sich in Form eines Schwanenhalses dem Horizont entgegenstreckten. Ich spürte das einzige Buch auf, das je über Nebelhörner geschrieben wurde. Es stammt von dem Historiker und Dozenten Alan Renton, dessen Tonaufnahmen von Nebelhörnern in der British Library aufbewahrt werden. Ja, ich trat sogar der Vereinigung der Leuchtturmwärter bei, einem Zusammenschluss von aktiven und ehemaligen Leuchtturmwärtern und anderen Enthusiasten, die sich der Pflege dieses kulturellen Erbes verschrieben haben.

      Mit der Zeit erfuhren andere von meiner zunehmenden Besessenheit und erzählten mir ihre Geschichten. Ich begann, mit meinen Mitmenschen – wer immer es auch sein mochte – über Nebelhörner zu sprechen. Mir kamen Berichte und Erinnerungen zu Ohren, mir bislang unbekannte Gleichgesinnte versorgten mich mit Fotos, ich erhielt E-Mails von Fremden aus British Columbia, Belfast und von den Orkneyinseln. Sie enthielten Mythen, Histörchen, zeitgenössische Folklore und nicht belegte Anekdoten. Ein Absender versuchte mich davon zu überzeugen, dass wir in der Sphäre des Übersinnlichen zusammengearbeitet hätten. Eine Bekannte schickte eine Mail mit der Frage, ob Nebelhörner im Zweiten Weltkrieg zur Irreführung feindlicher U-Boote eingesetzt worden seien. Und jemand anderes berichtete mir, dass aus Anlass der Befreiung Jerseys von den Deutschen Tag und Nacht die Nebelhörner geheult hätten – eine großartige Geschichte. Als moderner Mythos einzuordnen ist hingegen der Bericht, dass jamaikanische Musiker in Sheffield ein ausrangiertes Nebelhorn in eine Tonanlage integrierten, um im Wettstreit um den lautesten Dub einen Rivalen auszustechen. Mit den ausgewachsenen Nebelhörnern, die mich interessierten, wäre jede Tonanlage überfordert gewesen, aber die Vorstellung, dass aus Hoch- und Tieftönern ein gigantischer Schalltrichter aufragt, hat durchaus seinen Reiz. In ihr findet das Nebelhorn seinen rechtmäßigen Platz in der Musik, weil die Kontrolle, die Kolonialisten des 19. Jahrhunderts mit ihm über die Küsten ausübten, an die ethnische Minderheit übergeht, die einst an diesen Küsten lebte. Diese Vorstellung war derart einnehmend, dass ich die Hälfte aller britischen Experten und Praktiker kontaktiert habe, um einen Faden zu finden, der mich zu einer überzeugenden Verbindung von Klang, Meer und Musik führen würde.

      Auf dem Weg dorthin schnappte ich Berichte über andere Maschinen des Industriezeitalters auf, die wegen ihres spezifischen Klanges zweckentfremdet wurden. Ich hörte von einer Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern, die ein Dampfpfeifen-Orchester gegründet hatten, erfuhr von kakofonischen Kompositionen für Häfen und Symphonien, die russische Küstenstädte zu Orchestern verwandelt hatten.

      Da ich mich für Musik und Technik gleichermaßen interessiere, traten derlei Geschichten etwas in mir los. Sie handelten nicht allein von neuen Instrumenten oder