Jennifer Lucy Allan

Das Lied des Nebelhorns


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wenn das olivgrüne Wasser des Labradorstroms sich mit dem ultramarinblauen Wasser des Golfstroms vermischt. Berüchtigt ist die Gegend auch für extreme Temperaturunterschiede. In nur einer Schiffslänge Abstand wurden gleichzeitig null und 40 °C gemessen.

      1863 war das Dampfschiff Anglo Saxon auf dem Weg von Liverpool nach Québec und sollte auf Höhe von Kap Race Post übernehmen.21 Unter dem Kommando von Kapitän William Burgess befanden sich insgesamt 445 Menschen an Bord, viele davon junge Männer und Frauen aus Irland, manche davon noch minderjährig, die in Nordamerika ein neues Leben beginnen wollten. Am 25. April traf das Schiff auf Treibeis und eine Nebelbank, woraufhin es das Tempo drosselte. Das Wetter blieb bis in die Nacht hinein schlecht, besserte sich aber am Morgen des 26., ehe sich der Nebel wieder senkte und das Schiff einschloss. Nach zwei Tagen ohne jede Sicht geriet die Navigation zu einem Glücksspiel, und so erging am 27. April um 11:10 Uhr der Ruf, dass an Steuerbord Brandung zu sehen war. Für das Schiff war das die denkbar schlechteste Nachricht, denn Brandung bildet sich nur dort, wo die Wellen auf Land treffen.

      Die Maschinen wurden auf äußerste Kraft zurück gestellt, doch es war zu spät, zumal der starke Seegang das Schiff Richtung Felsen trieb, auf dem es sich das Ruder, den Achtersteven und die Schraube abriss. Wasser strömte hinein, und die Evakuierung wurde eingeleitet. Als Erstes durften die Passagiere der ersten Klasse in die Rettungsboote steigen. Andere Passagiere retteten sich über eine umfunktionierte Spiere auf die Klippen. Den Anfang machten die Frauen. Um die Mittagszeit wurde das Wrack vom Felsen gehoben und schwamm kurz auf, ehe es zu sinken begann. Der Chefmaschinist beschrieb das Geschehen später als »entsetzlich« und zeichnete ein Bild des Grauens. Panik und Entsetzen machten sich breit. Laut Zeugenaussagen sprangen viele Menschen ins Wasser, als das Schiff von den Klippen glitt. Sie wurden von den Fluten mitgerissen. An Deck drängten sich Passagiere, die sich in Sicherheit zu bringen versuchten, als die Anglo Saxon sich selbstständig machte, aber sie landeten unterschiedslos im Wasser, und die meisten von ihnen ertranken.

      Robert Allen, der Dritte Offizier, versuchte gemeinsam mit Kapitän Burgess in die Takelage zu klettern, aber als sich das Schiff auf die Seite legte, landeten beide im Wasser. Vor der Kommission, die das Unglück später untersuchte, verlieh Allen seiner Schilderung des grauenvollen Herganges eine Prise Galgenhumor, als er berichtete: »Unter Wasser bekam ich den Mantel des Kapitäns zu fassen, und da ich annahm, es sei eines der Segel, versuchte ich mich daran hochzuziehen, bis ich irgendwann den Bart des Kapitäns erreichte.«

      Der Kapitän konnte nicht mehr aussagen. Er war in das Innere des Wracks geraten und hatte sich nicht mehr befreien können. So musste Allen zusehen, wie sein Chef ertrank. Er selbst erreichte ein provisorisches Floß, auf dem sich der Schiffskoch und einige Passagiere befanden. Zuvor hatten sie vergeblich versucht, einen Menschen zu retten, den sie im Wasser entdeckt hatten. Nun trieben sie orientierungslos durch den Nebel, bis der sich gegen Abend lichtete und sie Land sehen konnten. Derweil schickten jene, die sich auf die Felsen gerettet hatten, vier Überlebende mit dem Auftrag los, sich zum Leuchtturm durchzuschlagen, und zündeten ihrerseits ein Feuer an, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Abgesandten kehrten schließlich mit einem Boot der Associated Press zurück, das die Wartenden bergen und zur Telegrafenstation von Kap Race bringen konnte.

      Bei dem Unglück kamen 237 Menschen ums Leben.

      Ein Schicksal wie das der Anglo Saxon scheint aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit zu stammen. Tatsächlich aber sterben bis heute Jahr für Jahr viele Tausend Menschen, die sich auf überfüllten und kaum seetüchtigen Booten drängen.22 Und noch während Berichte über das Drama der Anglo Saxon auf beiden Seiten des Atlantiks die Runde machten, wuchs sich die Tragödie zu einem handfesten Skandal aus. Es stellte sich heraus, dass der Plan, am Kap Race ein Nebelhorn aufzustellen, auf Betreiben von Associated Press verworfen worden war, weil die Nachrichtenagentur um ihr Geschäft mit Wetterdaten fürchtete, die sie gemeinsam mit Postsendungen und Nachrichten an vorbeifahrende Schiffe auslieferte.

      Ein Jahrhundert vor der Erfindung von GPS war Nebel eine große Gefahr für die Hochseeschifffahrt, weil er sowohl die Gestirne, die für die Navigation benötigt wurden, als auch das Land verbarg, das ersatzweise Orientierung hätte bieten können. Die Untersuchung des Untergangs der Anglo Saxon ergab, dass Kapitän William Burgess zwar ein erfahrener und umsichtiger Seemann gewesen war, es aber versäumt hatte, das Lot einzusetzen, um Wassertiefe und Beschaffenheit des Meeresbodens zu ermitteln.23 Eine weitere Erkenntnis lautete, dass ein Nebelhorn Menschenleben hätte retten können. Dieser letzte Punkt wurde von den Medien aufgegriffen und führte zu einem Aufschrei der Öffentlichkeit. Telegramme mit den neuesten Entwicklungen wurden verschickt, wofür Unterseekabel verwendet wurden, die auch an der Unglücksstelle verliefen.

      Auf beiden Seiten des Atlantiks bangten derweil Menschen um das Leben von Angehörigen. Die Zeitungen druckten Listen mit den Namen von Geretteten, nicht selten allerdings falsch geschrieben. Über New York erreichte die Meldung vom Schiffsuntergang am 30. April auch den irischen Cork Examiner. Anfang Mai kursierten in ganz Irland, Großbritannien und Nordamerika Berichte und Meldungen. Am 1. Mai setzte der New York Herald mit der Überschrift eines Artikels den Ton, den die Berichterstattung annehmen sollte. »Wer ist für den Untergang der Anglo Saxon verantwortlich?«, hieß es dort. Der Artikel identifizierte das Fehlen eines Nebelhorns als Auslöser der Katastrophe und forderte die britische Regierung auf, die Aufstellung eines solchen Apparates zu ermöglichen, auch wenn die Untersuchung des Hergangs zu einem weniger eindeutigen Ergebnis kam. Gleichwohl dauerte es bis 1873, bis Kap Race mit einem Nebelhorn ausgerüstet wurde, und das geriet eher kümmerlich. Erst 1907 wurde ein Nebelhorn installiert, das stark genug war, um den Nebel zu durchdringen und sich auf dem offenen Meer bemerkbar zu machen. Doch auch damit war die Geschichte der Schiffsuntergänge in dieser Region nicht beendet.

      Der Verlust an Menschenleben beim Untergang der Anglo Saxon war enorm, aber letztlich nicht ungewöhnlich. In einer zeitgenössischen Quelle habe ich die Angabe gefunden, dass allein vor Kap Race zwischen 1866 und 1904 vierundneunzig Schiffe gesunken sind. Vor der Küste Neuseelands war wenige Monate vor der Anglo Saxon ein Schiff namens Orpheus untergegangen, wobei 189 Menschen starben. Doch diese Zahlen verblassen in Anbetracht der Millionen, die bei der Verschiffung von Sklaven im Nordatlantik ertrunken sind. Im Falle der Anglo Saxon war die Anteilnahme der Menschen, die sich auf die Zeitungsberichte stürzten, vor allem deshalb so groß, weil es sich bei den Opfern um weiße Europäer handelte.

      Zu dieser Zeit sahen sich viele Europäerinnen und Europäer gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und in Übersee neu zu beginnen. Die weitaus meisten davon reisten mit dem Schiff. Zwischen 1800 und 1845 waren 1,5 Millionen ausgewandert, zwischen 1871 und 1891 waren es sage und schreibe 27,6 Millionen.24 Diese Zahlen bedeuteten auch, dass die Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks mit Seereisen mindestens vom Hörensagen vertraut waren, weil die meisten Freunde oder gar Familienangehörige hatten, die auf diese Weise den Ozean überquert hatten. Der Historiker Gillian Beer vertritt die These, dass die Briten des 19. Jahrhunderts »sehr viel besser wussten, was der Ausdruck Seegang besagt, als wir heute. Sie haben es am eigenen Leibe gespürt. Sie selbst, ihre Verwandten oder Bekannten waren gezwungen, per Schiff zu reisen, oft über große Strecken. Emigration, Imperialismus und Handel waren ohne längere Seereisen undenkbar.«25

      In den Jahrzehnten rund um das Unglück vor Kap Race war es gewissermaßen an der Tagesordnung, dass Schiffe bei Nebel auf Grund liefen oder untergingen, vor allem im Seegebiet vor Neufundland. Eine aktuelle Liste für Wracktaucher enthält 318 Einträge allein für diesen Küstenstreifen. Die bekanntesten Verluste sind die Dampfschiffe Acis, Acton, Rhiwderin, Mariposa und Rhodora. Ihnen allen wurde Nebel zum Verhängnis. Aber nicht nur vor Neufundland gingen Schiffe auf diese Weise verloren. Nebel war lange vor der Erfindung des Nebelhorns eine Gefahr, und er blieb es auch danach.

      In den späten 1960er-Jahren veröffentlichte der Bibliothekar Charles Hocking ein zweibändiges Werk, das wie eine Doktorarbeit daherkam und jedes Schiffswrack benennt, das zwischen 1824 und 1962 zu beklagen war. Hinter Kriegsverlusten durch U-Boote rangiert Nebel auf Platz zwei der Ursachen. Der Zeitraum, den Hocking untersucht hat, mag willkürlich erscheinen, aber bestimmt wird er durch die ersten belastbaren Statistiken auf der einen Seite und den Beginn der Containerschifffahrt