Jennifer Lucy Allan

Das Lied des Nebelhorns


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      So erging es der Glocke von Bishop Rock, die während eines Sturms, bei dem die Wellen das Lampenhaus überragten, unversehrt aufs offene Meer hinausgetragen wurde, obwohl sie eine Vierteltonne wog.17 Noch größer und schwerer war die Glocke, die für den legendären Leuchtturm von Eddystone gegossen wurde, ein Meisterwerk der Ingenieurskunst, das auf einer Insel vor der Küste von Devon steht. Der Turm wurde mehrfach Opfer der Naturgewalten, und der heutige ist bereits der vierte seiner Art. Der erste wurde vom Kupferstecher und Erfinder Henry Winstanley errichtet und 1703 mitsamt seinem Erbauer ins Meer gespült. Der zweite fing Feuer und brannte vom Lampenhaus abwärts aus. Der Leuchtturmwärter Henry Hall verschluckte versehentlich geschmolzenes Blei, als er nach oben blickte und ein Regen aus flüssigem Metall auf ihn niederging. Niemand wollte ihm glauben, dass Blei in seinem Körper steckte, schon gar nicht, als er sich auf dem Weg der Besserung zu befinden schien. Er starb am zehnten Tag nach dem Vorfall, und bei der anschließenden Autopsie fand man in seinem Magen einen 200 Gramm schweren Klumpen Blei.18

      Der dritte Turm von Eddystone begann zu schwanken, weil das Riff unter dem Leuchtturm unterspült war. Er wurde aufs Festland gebracht und dort zum Denkmal umfunktioniert. Der vierte wurde 1882 errichtet und ist noch heute in Betrieb. Seine große, von einem Uhrwerk angetriebene Glocke war der ganze Stolz seines Herstellers, der Firma Gillet, Bland & Co. in Croyden, die sich in ganzseitigen Anzeigen ihres Werkes pries. Doch das Uhrwerk und die salzhaltige Luft wollten nicht miteinander harmonieren, und so versagte der Mechanismus wiederholt seinen Dienst.

      Juliet Fish Nichols (die Dame hieß tatsächlich so) war eine von wenigen Frauen, die offiziell als Leuchtturmwärter fungierten. Ihr Dienstort war die Point-Knox-Nebelwarnstation auf Angel Island an der Westküste der USA. Die Region liegt Tausende Stunden pro Jahr im Nebel, und die Chicago Tribune berichtete im Sommer 1906, dass Juliet Nichols die Glocke zwanzig Stunden am Stück von Hand bedienen musste, weil der automatische Antrieb ausgefallen war.

      Auf Kaps und Riffen waren die Leuchtturmwärterinnen und -wärter widrigsten Wetterbedingungen ausgesetzt, wenn sie Nebelsignale wie Glocken und Kanonen bedienen mussten. Bei meinem Besuch in North Stack spüre ich selbst an einem schönen Tag Salz und Sonne auf meiner Haut und den Wind in meinem Haar. An so exponierten Stellen ist das Wetter der bestimmende Faktor, es entscheidet selbst darüber, ob es einem die Luft zum Atmen lässt. Mir steht es frei, vor Sonnenuntergang zu gehen, mich in mein Auto zu setzen, die Heizung oder die Klimaanlage einzuschalten und irgendwo hinzufahren, wo das Wetter weniger Einfluss auf das Leben nimmt, auf den Tod, auf Wohl und Wehe. Leuchtturmwärtern im Dienst bot sich ein derartiger Luxus in der Regel nicht.

      Wenn, wie in North Stack, Kanonen als Nebelsignal verwendet wurden, wurden sie nur mit Schießpulver, nicht mit Munition befüllt und abgefeuert. Im Marin County am Nordufer des Golden Gate steht auf einem Felsplateau hoch über dem Pazifik der Leuchtturm von Point Bonita, der heute nur noch durch einen in den Felsen gesprengten Tunnel erreichbar ist. Hier wurde 1855 eine Kanone aus Beständen der US-Armee installiert, ein 24-Pfünder mit einem zweieinhalb Meter langen Rohr, der im Arsenal von Benicia deponiert gewesen war. Bei Nebel wurde die Kanone alle halbe Stunde abgefeuert, und »allein dank dieser Navigationshilfe«, so die Bilanz nach einem Jahr Betrieb, »konnten Schiffe bei Nebel wie bei schlechtem Wetter tags wie nachts sicher in den Hafen gelangen. Ausgenommen davon war nur ein kurzer Zeitraum, in dem es an Schießpulver fehlte.«19

      Der zuständige Kanonier war ein ehemaliger Sergeant der US-Armee namens Edward Maloney, der offenbar der Überzeugung war, an einer schönen Küste zu leben und dann und wann eine Kanone abzufeuern sei für einen Rentner eine reizvolle Perspektive. Aber als Kanonier einer Nebelwarnstation in der Bucht von San Francisco zu arbeiten ist eine wahre Sisyphusarbeit – ein Feuerschiff, das hier verankert war, registrierte in einem einzigen Jahr 2221 Nebelstunden. Als Maloney seinen Dienst antrat, hatte niemand solche Zahlen im Sinn gehabt, und entsprechend häufig saß er ohne Schießpulver da.

      Bald hatte Maloney Anlass, sich darüber zu beklagen, dass er drei Tage und Nächte am Stück die Kanone hatte bedienen müssen, weil es auf der abgelegenen Halbinsel niemanden gab, der ihn hätte ablösen können (und die Stadt nur schwer zu erreichen war – die Brücke wurde erst Jahrzehnte später gebaut). Maloney und seine Kanone benötigten mehr Vorräte als von den Behörden kalkuliert, weshalb die Station unter dem Strich deutlich teurer war als erwartet. Erschwerend hinzu kam, dass Maloney die erstbeste Gelegenheit nutzte, um sich ohne Erlaubnis seiner Vorgesetzten in die Stadt durchzuschlagen und in jenem Nebel abzutauchen, vor dem er seine Mitmenschen warnen sollte.

      Auch andere Schallquellen wurden im Nebel eingesetzt, einige abseitiger als andere. Unweit des Longships Rock diente das Tosen einer Höhle als natürliches Warnsignal – das man leider nicht abschalten konnte. Der Wolf Rock vor der Küste Cornwalls verdankt seinen Namen hingegen dem Umstand, dass der Wind heulend durch eine Höhle strich, die das Wasser in den Stein gegraben hatte. Als hier noch kein Leuchtturm stand, machten sich Strandräuber diesen Umstand zunutze, indem sie den Zugang zur Höhle verstopften und dadurch Schiffe auf den Felsen lockten. Deren Ladung, aber auch das wertvolle Material, aus dem sie gebaut waren, gaben eine lohnende Beute ab.20 Schwieg der Wolf, war das ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Strandräuber bei der Arbeit waren.

      In den 1850er-Jahren wurde auf den Farallon-Inseln, gut sechzig Kilometer vor San Francisco gelegen, eine Felsspalte mit einigen Tausend Backsteinen, vierzig Fässern Zement und einer Pfeife befüllt. Strömte Wasser hindurch, wurde die darin befindliche Luft verdrängt, und die Pfeife machte sich vernehmlich bemerkbar. Auf der Insel Helgoland wurde eine »Rakete gestartet und in einer Höhe von gut zweihundert Metern zur Explosion gebracht«. So beschreibt es 1913 ein Buch von F. A. Talbot über Feuerschiffe und Leuchttürme.

      Auch der Klang von Vogelstimmen wurde bei Nebel als Navigationshilfe verwendet. In einem Buch von 1880, das ebenfalls von Leuchttürmen handelt, wird berichtet, dass »an der Küste von Wales viele Tausend Seevögel, die in den hoch aufragenden Klippen leben, auf den felsigen Simsen hocken und durchdringende Schreie ausstoßen«, anhand derer Schiffe sich orientieren können. Illustrierte Entwürfe eines von Pferden angetriebenen Nebelhorns, die heute im Nationalarchiv des Vereinigten Königreichs liegen, zeigen ein nervös wirkendes Pferd, das am Eingang eines kreisrunden Gebäudes steht und in einen Drehmechanismus eingespannt ist, der eine Sirene antreibt, sobald sich das Pferd in Bewegung setzt. Wie gut das System funktioniert hat, bei dem das arme Tier der Schallquelle bedrohlich nahe kam, ist nicht überliefert.

      Es gab Zeiten, da hing das Leben vieler Seeleute von Menschen wie Maloney oder Juliet Nichols und dem Schweiß ihrer Arbeit ab. Voraussetzung war, dass sie sich früh genug bemerkbar machen konnten. Der Knall einer Kanone war so kurz, dass man ihn leicht überhören konnte, und das Läuten einer Glocke so leise, dass es nicht sonderlich weit trug. Seeleuten blieb daher oft nur wenig Zeit, den Kurs noch zu ändern. Unterwasserglocken, wie sie in North Stack ausprobiert wurden, konnten sich nie durchsetzen. Den Hafen in Holyhead, zu dem sie die Schiffe führen sollten, gibt es natürlich immer noch. Heute verkehren hier vor allem Kreuzfahrtschiffe und Fähren, die Menschen nach Irland und zu weiter entfernten Zielen bringen. Von der Nebelwarnanlage aus kann man den Hafen nicht sehen, er gerät in meinen Blick, als ich mich zurück auf die Anhöhe über der Anlage gekämpft habe. Erst als ich die Sonne im Gesicht spüre, wird mir bewusst, dass ich mich die ganze Zeit im Schatten des ungleichen Zwillings des blinkenden Leuchtturms von South Stack aufgehalten habe. Und während der Leuchtturm noch heute in Betrieb ist, benötigen Schiffe, die Holyhead anlaufen oder es verlassen, die Kanonen von North Stack schon seit vielen Jahren nicht mehr. Nur die wenigsten werden das kleine Gebäude der Nebelwarnanlange bemerken, ein Stück Klanggeschichte an einer abgelegenen Ecke der Küste, versteckt unter Ginster, Felsen und stürmischer See. Nun kehre auch ich dieser vergangenen, abgeschlossenen Zeit den Rücken zu, und als ich mich noch einmal umdrehe, hat die Landschaft sie bereits verschluckt.

      Schiffbruch

      Kap Race ist eine Landzunge auf der Halbinsel Avalon im äußersten Südosten Neufundlands. Dort treffen der kalte, aus der Arktis kommende Labradorstrom und der warme Golfstrom zusammen. In der Folge entsteht Nebel, auf dem Meer wie an Land, wo zwischen Mai und Juli durchschnittlich einundfünfzig Nebeltage gezählt