Jennifer Lucy Allan

Das Lied des Nebelhorns


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waren die Regel, und die Sklaverei forderte wie gesagt zahllose Opfer. Die allermeisten von ihnen sind im Atlantik gestorben, sodass Bilder vom Sonnenuntergang auf einer friedlichen See keine Idylle zeigen, sondern ein Massengrab.

      Seit jeher hat sich die Musik der auf See Gebliebenen angenommen und ihr Schicksal beklagt, von traditionellen Folksongs wie Sweet William, in dem eine junge Frau einen Seemann beweint, der nicht zurückgekommen ist26, bis hin zur Musik des 1990 gegründeten Detroiter Duos Drexciya, das sich in seiner Arbeit auf einen subaquatischen Afrofuturismus berief. Seine Tanzmusik verhieß all jenen Erlösung, die über Bord gegangen und ertrunken waren. Die Kinder schwangerer Sklavinnen, so die Vorstellung, hatten überlebt und waren unter Wasser herangewachsen. Diese Lesart misst zugleich die Abgründe aus, in denen die menschliche Moral zu versinken droht, und stellt ihnen ein akustisches Bild gegenüber, in dem dem Meer die Rolle als Erneuerer des Lebens zukommt.

      Systematisch erfasst wurden Schiffsverluste erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts, auch wenn es aus vorherigen Jahrzehnten einzelne Statistiken gibt. Für das Jahr 1816 verzeichnete Lloyd’s of London 362 (aus diversen Gründen) verlorene oder vermisste Schiffe. Gezählt wurden aber nur Schiffe ab einer gewissen Größe, kleinere wie Fischer- und Sportboote fielen durch den Rost. Und schon gar nicht waren alle Gegenden der Welt erfasst. Auch in Hockings Zusammenstellung kommen Fischer- oder Segelboote nicht vor und ausländische Schiffe nur, wenn sie mehr als 1000 Tonnen verdrängten. Solcherlei Einschränkungen und Auslassungen gilt es zu bedenken, wenn man sich über das Werk beugt, weil sie dessen Nutzen begrenzen, aber nachdem ich die beiden Bände durchgearbeitet und jeden Eintrag, bei dem Nebel eine Rolle spielt, mit einem Klebezettel markiert habe, sehen sie aus, als kämen sie direkt von einer makabren Konfettiparade, bei der jeder Schnipsel für eine Tragödie stand.

      Das britische Dampfschiff Sobraon lief 1901 bei dichtem Nebel vor der Insel Tungyin auf Grund; 1899 hörte die mit Osterausflüglern voll besetzte Stella das Nebelhorn auf den Casquets zu spät und prallte gegen den unweit von Guernsey gelegenen Black Rock. Sie sank binnen acht Minuten. Im Jahr zuvor hatte die Channel Queen dasselbe Los ereilt. Zwanzig Menschen kamen zu Tode, als die Sirius – das erste Dampfschiff, das den Atlantik überquerte – sank, nachdem es zunächst einen Felsen in der Bucht von Ballycotton gerammt hatte und wieder freigekommen war, nur um schließlich mit einem Leck im Rumpf an den Smith’s Rocks ganz in der Nähe zu enden. Auf der Flucht vor den im Ärmelkanal patrouillierenden britischen Kriegsschiffen lief der Viermaster Afghanistan bei Nacht und Nebel vor Dungeness auf Grund, achtzehn Menschen starben. Das Dampfschiff Adelfotis aus Costa Rica, das mit Ammoniumsulfat beladen war, brach am vorletzten Tag des Jahres 1956 nach einer Grundberührung im Nebel in zwei Teile. Das britische Dampfschiff Alecto kollidierte 1937 mit der Plavnik. Das griechische Dampfschiff Aliakmon gehörte zu einem Kriegskonvoi, der von Loch Ewe nach Nova Scotia wollte. Es ging unterwegs im Nebel verloren und ward nie wieder gesehen. Die vermeintlich unsinkbare Andrea Doria stieß bei dichtem Nebel mit der Stockholm zusammen und legte sich derart stark auf die Seite, das zweiundfünfzig Menschen den Tod fanden. Die Sirenia sank 1888 vor der Isle of Wight, nachdem sie bei dichtem Nebel auf die Felsen von Atherfield Ledge gefahren war. Bei dem Versuch, Menschenleben zu retten, ertrank die Besatzung eines der Rettungsboote. Nachdem die Spirit of Dawn 1893 vor Antipodes Island südlich von Neuseeland auf Grund gelaufen war, ernährten sich die elf Überlebenden siebenundachtzig Tage lang von Vögeln, Muscheln und Pflanzen und wurden nur gerettet, weil einem Passagierschiff die Flagge aus Segeltuch auffiel, die die Schiffbrüchigen auf der höchsten Erhebung der Insel aufgestellt hatten.

      Um im Nebel sicher zu navigieren, war mehr erforderlich, als ein Nebelhorn oder eine Glocke zu hören. Dazu gehörten in erster Linie gute Seemannschaft, ein gut ausgerüstetes Schiff und eine Portion Glück. Wie groß der Anteil der Nebelhörner ist, lässt sich unmöglich sagen. Eine Glocke mag weniger gut zu hören sein, aber woran sollte sich festmachen lassen, welche Schiffe dank des Nebelhorns davonkamen und welche nicht? Ein Leuchtturmwärter kann vorbeifahrende Schiffe im Nebel nicht sehen, also weiß er auch nicht, wer das Nebelhorn hören könnte, das er wegen des Nebels angestellt hat. Vielleicht niemand. Das Nebelhorn kann einem Schiff in Bedrängnis mitteilen, dass es sich an der falschen Stelle befindet, aber aus der Bedrängnis heraus findet es nur mit Besonnenheit und Erfahrung, einer gut ausgebildeten Besatzung und der Einwilligung des Meeres. Deshalb gibt es auch nur wenige Fälle, bei denen der Nebel die einzige Ursache für tödliche Unfälle war.

      Wenn es im 19. Jahrhundert zum Äußersten kam, gab es kein Sicherheitsnetz. Die Rettungsboote wurden zwar von tapferen Männern bedient, waren aber offene Ruderboote, und die Schiffe sanken oft binnen weniger Minuten. Tauchexpeditionen zu Wracks wie der Bismarck und der Titanic haben Bilder von Stiefeln mitgebracht, die dicht nebeneinanderstehen, als hielte der Besitzer nur ein kurzes Mittagsschläfchen auf dem Meeresgrund. In Wahrheit hat sich der Körper längst aufgelöst oder den Lebewesen der Tiefe als Nahrung gedient. Wenn im Nebel ein lautes Signal ertönt, ist das Ausdruck einer allerletzten Warnung und nicht die Rettung. Berichte vom Untergang der Anglo Saxon lassen aber den Schluss zu, dass die Menschen sich besser fühlten, wenn dieses Signal ertönte, auch wenn es eine Sicherheit verhieß, die nichts und niemand garantieren konnte.

      Im selben Jahr, in dem sich das Unglück vor Kap Race ereignete, begannen Trinity House und der rührige Kaufmann und Erfinder Celadon Leeds Daboll einen regen Briefwechsel. Er begann mit dem Angebot Dabolls an den wissenschaftlichen Berater von Trinity House, Michael Faraday – dessen Arbeit zur Elektrizität für die Elektrifizierung der Leuchttürme gesorgt hatte –, sich den Zugriff auf das Nebelhorn zu sichern, das er, Daboll, erfunden hatte.27 Ein Nebelhorn jenes Typs hätte auch am Kap Race aufgestellt werden sollen, und entsprechend häufig wird in den Briefen Bezug auf die Tragödie genommen. Faraday war zu diesem Zeitpunkt bereits siebzig Jahre alt und kaum mehr imstande, seinen vielfältigen Aufgaben nachzukommen. Als Trinity House (unter Beteiligung des irischen Astronomen Thomas Romney Robinson) Faraday bat, Dabolls Nebelhorn zu testen, verstand er den Auftrag fälschlicherweise so, dass er eine neue wissenschaftliche Gesellschaft gründen sollte. Deshalb verweigerte er zunächst selbst die einfachsten Tests. Als das Missverständnis endlich ausgeräumt war, erklärte sich Faraday bereit, Dabolls Erfindung in Dungeness auf Herz und Nieren zu prüfen.

      Die Landschaft von Dungeness ist oft beschrieben worden. Meist wird sie dabei die einzige Wüste Englands genannt, aber das zielt an den Tatsachen vorbei. Dungeness ist eine von Kies bedeckte Landspitze, auf der es ein Atomkraftwerk gibt, eine kleine Eisenbahn und einen Leuchtturm, der versetzt werden musste, weil sich der Verlauf der Küste änderte. Der Schriftsteller und Regisseur Derek Jarman verbrachte hier seine letzten Lebensjahre, in denen er den Garten seines Hauses künstlerisch gestaltete. Ganz in der Nähe stehen große Schallspiegel, die während des Ersten Weltkriegs entwickelt wurden, um sich nähernde Flugzeuge des Feindes frühzeitig orten zu können. Schon als sie aufgestellt wurden, war die technische Entwicklung darüber hinweggegangen. Es ist ein bizarrer Ort, an dem das Wetter ebenso ungehindert über die Ebene streicht, wie die Wellen an seinen Rändern nagen. Am 17. November 1863 wurde hier ein Prototyp von Dabolls Nebelhorn installiert, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer – häufig als Nebelhorn oder Dampfpfeife beschriebenen – Entwicklung von Frederick Holmes (der später am Souter Point ein Horn mit einem Rohrblatt als Tonerzeuger aufstellte) und der traditionellen Glocke des Leuchtturms.28

      Nachmittags fuhr Faraday mit einem Boot hinaus aufs Meer, um herauszufinden, wie weit der Klang des Horns trug. Unterwegs überkam ihn aber eine derartig heftige Übelkeit, dass er das Verfahren radikal abkürzte. Bereits gegen 16 Uhr war der Spuk beendet. In der kurzen Zeit hatte er kaum mehr als einen ersten Eindruck gewonnen, doch das genügte ihm, um die Wirksamkeit des Gerätes zu bescheinigen. So wurde Dungeness der erste Ort im Vereinigten Königreich, der ein Nebelhorn erhielt. Und wäre ihm Foulis’ dampfbetriebenes Gerät auf Partridge Island in der kanadischen Provinz New Brunswick nicht zuvorgekommen, wäre es das erste auf der ganzen Welt gewesen.

      Im September 1864 erschien eine Nachricht für Seefahrer, die unscheinbar daherkam, aber eine akustische Revolution vermeldete: »Es wird darauf hingewiesen, dass die Glocke, die bislang bei unsichtigem Wetter am Leuchtturm von Dungeness erklang, mit dem heutigen Datum außer Betrieb genommen und durch ein stärkeres Nebelhorn ersetzt