Und jetzt machst Du schön die Augen zu und schläfst ein, so recht fest und gut, das stärkt Dich sehr, und da weißt Du gar nichts mehr von Sorgen und Schmerzen!«
Sie küßte die Mutter innig und schloß ihr mit liebevoller Hand die Augen.
Die Kranke hielt gehorsam die Augen geschlossen, aber zwischen den Lidern quollen Tränen hervor.
Martha wischte sie behutsam fort und sprach noch leise und beruhigend auf die Mutter ein. Diese lag dann ganz still und ruhig, wie unter einem friedlichen Zauber.
Martha freute sich, weil sie glaubte, die Mutter sei eingeschlafen.
Da schlich sie sich dann auf den Zehenspitzen aus der Stube, um hinüber in die Werkstätte zu gehen und dem Vater ein wenig Mut einzusprechen.
Sie merkte nicht, daß ihr die Augen der Mutter in stummer Qual folgten.
Frau Berger schlief nicht, wie Mattha glaubte. Sie blieb aber still und reglos liegen und überdachte in gramvoller Pein ihr schlimmes Schicksal.
Früher, als sie noch jung und gesund war, wie schön war da das Leben gewesen, wenn es auch viel Mühe und Arbeit gebracht hatte. Was waren es für frohe, glückliche Jahre gewesen, als sie die Frau des fleißigen Stellmachers Friedrich Berger geworden war.
Sie fingen ganz klein und bescheiden an, kamen aber bald voran und konnten sich nach einigen Jahren das hübsche kleine Anwesen kaufen, wenn sie auch vorläufig noch eine kleine Hypothek aufnehmen mußten.
Es ging immer besser. Friedrich Berger war ein tüchtiger Mensch, und die Bauern ließen alles bei ihm arbeiten. Bald hatte er soviel zu tun, daß er einen Gesellen annehmen mußte, der auf der Wanderschaft zu ihm kam. Dieser war auch tüchtig, und nun wurde doppelte Arbeit geschafft.
Und sie selbst arbeitete unermüdlich in Haus und Hof und Garten. Auch ein Stück Feld und Wiese kauften sie dazu. Es ging alles gut und das Glück schien im kleinen Stellmacherhause eine bleibende Stätte gefunden zu haben.
Mit einem Male aber wurde alles anders. Ein Unglück folgte dem anderen.
Die fleißige Frau übernahm sich bei der Arbeit und wurde krank. Da sie sich nicht rechtzeitig schonte, blieb sie schließlich völlig gelähmt auf dem Krankenlager liegen.
Und von da an ging es abwärts. Die Krankheit kostete viel Geld, Friedrich Berger wurde mutlos, als ihm der zärtlich geliebte Sohn ertrank. Die Haushälterin und der Geselle wirtschafteten in ihre Tasche, und ein Bauernhofbesitzer, von dem Berger eine größere Summe zu fordern hatte, machte Bankrott, und Berger kam um das Geld.
Das Unglück lähmte ihn und er wurde nachlässig in der Arbeit. Der Geselle nutzte das für sich aus und machte sich selbständig. Da verlor Berger seine Kunden und wurde über all dem Leid ganz tiefsinnig.
Mit Riesenschritten ging es abwärts. Es wurden Schulden gemacht, immer neue Schulden, und nun stand der völlige Zusammenbruch vor der Tür.
Die Kranke fühlte das alles mehr, als sie es wußte, und in ihrer Ohnmacht verzehrte sie sich in Angst und Sorge, so daß ihr Zustand immer schlimmer wurde. Der Jammer um Mann und Kind zehrte an ihrer letzten Lebenskraft. —
Martha hatte draußen der Haushälterin gesagt, sie möge recht ruhig sein, die Mutter schlafe. Mürrisch hatte ihr diese geantwortet, sie mache schon von selbst keinen Lärm.
Seit im Stellmacherhause nichts mehr zu holen war, hatte die Haushälterin schlechte Laune.
Martha ging nun in die Werkstätte. Hier fand sie ihren Vater untätig auf einem umgestürzten Rad sitzend, den Kopf in die Hände vergraben.
So saß er jetzt oft in qualvolle Grübeleien verloren. Das unverdiente Unglück hatte seine Lebenskraft gebrochen.
Er rührte sich auch nicht, als Martha eintrat. Sie eilte auf ihn zu und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Vater, lieber Vater!« rief sie ängstlich besorgt.
Er ließ die Hände sinken und stierte sie mit trüben Augen an. Wirr und unordentlich hing ihm das graumelierte Haar und der Bart ums Gesicht.
»Aus ist’s, Martha, ganz aus!« stieß er heiser hervor.
»Was denn, lieber Vater, was denn?« fragte sie beklommen.
»Alles ist aus, alles. Hinaus müssen wir, ins Armenhaus. Die Hypothek ist gekündigt und alle wollen ihr Geld haben — alle. Wie die hungrigen Wölfe fallen sie über uns her, aus Angst, daß sie ihr Geld verlieren. Kanns Ihnen ja nicht verdenken. Aber das überleb ich nicht, daß ich hinaus muß ans meinem Häuschen, ins Armenhaus, ich, der Friedrich Bergen der immer ein redlicher Mann war. Nun ins Elend, in die Schande. Und unser Mutterle, Martha, unser armes Mutterle! Ich bring’s nicht übers Herz, ihr zu sagen, daß sie hinaus muß aus dem Häuschen, ich kann es nicht, ich kann es nicht!«
Verzweifelt fuhr er sich durch das aufgewühlte Haar.
Martha umfaßte ihn mit einem schluchzenden Jammerlaut.
»Vater, lieber Vater, gibt es keine Hilfe mehr?«
Da sprang er jäh empor und schüttelte das Haupt. In wildem Schmerz barg er den Kopf in seinen Händen.
Ein dumpfer, gequälter Schrei brach aus seiner Brust, als müsse sich seine ganze Not dadurch Luft machen.
Als Martha sich dann, still vor sich hinweinend, neben ihn stellte und ihn umschlingen wollte, riß er sich plötzlich los und stürmte hinaus ins Freie. —
Tagelang irrte er wie geistesabwesend im Walde umher, bis er kraftlos zusammenbrach.
Er wagte sich nicht wieder in sein Haus, weil er es nicht über sich vermochte, seiner armen Frau mit der Unglücksbotschaft den Todesstoß zu versetzen.
Einige Bauern fanden ihn halb verhungert und in wirren Fieberreden im Walde am Boden liegend.
Inzwischen war die Katastrophe über sein Haus hereingebrochen. Seine Frau starb vor Schreck, als sie erfuhr, daß sie als Bettler das Haus verlassen und im Armenhaus untergebracht werden sollten.
Sie war über das Verschwinden ihres Mannes schon außer sich geraten, nun brach ihr Herz, und sie schloß die milden Augen für immer.
Die Haushalterin hatte zusammengerafft, was sie noch erbeuten konnte, und verließ das Haus. Martha stand hilflos und wie gelähmt all diesem Unglück gegenüber.
Vom Totenbett der Mutter lief sie hinaus ins Freie, um den Vater zu suchen.
Der Schäfer Gottfried Thomas, der die Schafe des Herrn von Dohrma hütete, sagte ihr, daß er den Vater vor einigen Tagen habe im Walde verschwinden sehen.
Mitleidig streichelte er das goldblonde Köpfchen des weinenden Kindes, aber helfen konnte er ihr nicht, konnte nicht einmal mit nach ihrem Vater suchen, da er seine Herde nicht verlassen durfte.
So irrte Martha allein weiter, und als sie an der Waldgrenze anlangte, kamen ihr die Bauern entgegen mit dem Vater, den sie im Walde gefunden hatten.
Sie trugen ihn, mürrisch über die schwere Last, ins Armenhaus. Martha schritt weinend neben ihm her.
So hielten Vater und Tochter ihren Einzug in das gefürchtete Armenhaus.
Friedrich Berger war ein Bettler geworden, aber es kam ihm nicht zum Bewußtsein. Sein Geist hatte in der schrecklichen Zeit gelitten wie sein Körpern.
Als ihm Martha sagte, daß die Mutter tot sei, da lachte er grell und schneidend aus, daß es allen, die es hörten, kalt über den Rücken lief.
Und seit der Zeit starrte er stumm und teilnahmslos vor sich hin.
Das armselige Lager, auf das man ihn gebettet hatte, konnte er bald wieder verlassen. Aber sein Geist klärte , sich nicht wieder. Dampf vor sich hinbrütend, saß er Tag um Tag auf einem Fleck, und niemand hätte in der zusammengesunkenen Gestalt den stattlichen, lebensfrohen Mann von früher wiedererkannt.
Die arme, kleine Martha stand den auf sie einstürmenden Schicksalsschlägen machtlos