Schicksal ergeben.
Mit rührender Liebe umgab sie den unglücklichen Vater und suchte ihn zu trösten, obwohl sie selbst des Trostes bedurft hätte. Es gelang ihr aber nicht, ihn aus seinem verstörten Hinbrüten aufzurütteln.
Niemand stand ihr zur Seite, niemand schien sich um sie und den Vater zu kümmern.
Die Bauern knurrten, daß der Stellmacher der Gemeinde zur Last fiel, und doch hätte ihm keiner eine Arbeit anvertraut.
Er sprach gar zu wirre Dinge und starrte die Menschen mit einem so furchtbaren Ausdruck an, daß sich niemand in seiner Nähe aushalten mochte.
Niemand fiel es ein, dem armen Kinde zu Hilfe zu kommen. Man ließ es mit dem verstörten Manne allein.
Aber zum Glück sollte sich schließlich doch ein Mensch der Not des armen Kindes erbarmen.
Der Lehrer des Dorfes Dohrma, dessen Lieblingsschülerin Martha war, kehrte von einem Urlaub zurück, den er erhalten hatte, um seinen verstorbenen Vater zur letzten Ruhe zu geleiten.
In seiner Abwesenheit war die Katastrophe über die Familie Berger hereingebrochen. Nun hörte er von seiner Frau, daß man die arme Martha mit dein verstörten Vater ins Armenhaus gebracht habe.
Sofort suchte er sie auf und erkannte, daß man das arme Kind nicht mit dem kranken Manne allein lassen durfte.
Am liebsten hätte er Martha zu sich genommen, aber er hatte selbst vier Kinder, die bei seinem schmalen Einkommen kaum satt zu essen hatten, auch widersetzte sich seine Frau, daß noch ein Esser mehr ins Haus kommen sollte.
Nun ging der gutherzige, mitleidige Lehrer von einem Bauern zum anderen und bat um Aufnahme für Martha Berger.
Aber alle wiesen ihn ab, jeder hatte eine andere Entschuldigung, eine andere Ausrede.
Ja, wenn Martha erwachsen und als Magd zu gebrauchen gewesen wäre, dann hätte sich wohl dieser und jener leicht dazu verstanden, sie aufzunehmen, dann hätte man einen billigen Dienstboten an ihr gehabt. Aber Kinder sind unnütze Brotesser, und manche Bauern sind geizig und hart.
Der Lehrer fand keine Unterkunft für Martha.
Schweren Herzens entschloß sich der gute Mann endlich, den Gutsherrn Moritz von Dohrma selbst aufzusuchen und ihn zu bitten, Martha eine Unterkunft im Herrenhause von Dohrma zu gewähren.
Er zog seinen besten Rock an und machte sich auf den Weg.
*
Das Gutshaus wurde allgemein im Dorfe das Schloß genannt, obwohl es gar kein schloßähnliches Gebäude war.
Wohl war es sehr groß und geräumig, und eine breite Sandsteintreppe führte zur Veranda empor, aber es hatte eine schlichte, graugetünchte Fassade mit langen Fensterreihen.
Das einzige, was an ein Schloß gemahnte, war der dicke, runde Eckturm, an dessen Westseite eine Uhr angebracht war, die für ganz Dohrma, für Dorf und Gut die Tageszeiten angab. Dieser Turm hatte wohl dem Gutshaus den stolzen Namen »Schloß« eingetragen.
Die Herrschaft, die dieses Schloß bewohnte, war sehr stolz und vornehm.
Die Herren von Dohrma waren von altem Adel und saßen schon seit Jahrhunderten auf ihrem ererbten Besitz,. Frau von Dohrma war eine gebotene Gräfin Echingen.
Der jetzige Gutsherr, Moritz von Dohrma, besaß einen einzigen Sohn, namens Artur.
Dieser war zu der Zeit, da unsere Geschichte beginnt, fünfzehn Jahre alt, also vier Jahre älter als Martha Berger.
Die Verhältnisse auf Dohrma waren nicht sehr glänzend. Nicht nur, daß der Aufwand sehr groß war, Herr von Dohrma hatte auch Verbindlichkeiten zu erfüllen, an denen er selbst nicht Schuld trug.
Von alters her hatte stets der älteste Sohn der Familie das Gut mit allen seinen Liegenschaften geerbt: waren nun noch andere Kinder vorhanden, so wurden dieselben mit einem entsprechenden Kapital abgefunden.
Selbstverständlich war es für den erstgeborenen Sohn meistens mit Schwierigkeiten verknüpft, diese Kapitalien an seine Geschwister herauszuzahlen, wenn aber die Geschwister ihre Kapitalien auf dem Gute stehen ließen, so waren wieder viele Zinsen zu entrichten.
In dieser Lage befand sich auch Herr von Dohrma.
Der Wert der Besitzung war ja im Laufe der Jahre immer gestiegen, und es war daher möglich gewesen, die von früher her noch aus dem Gute lastenden Hypotheken zu vergrößern, das heißt also, größere Kapitalien hypothekarisch aufzunehmen, aber dies hatte Herrn von Dohrma umso weniger über seine Schwierigkeiten hinweghelfen können, als er mit seiner Familie, wie bereits gesagt, ein sehr vornehmes Haus führte.
Einschränkungen wollte sich aber Herr von Dohrma nicht auferlegen. Wäre er nicht ein wirklich tüchtiger Landwirt gewesen, der aus dem Gute möglichst viel herauszuholen verstand, dann wäre es wohl schon längst zu einem Zusammenbruch gekommen. —
Die Verhältnisse aus Dohrma wurden immer schwieriger.
Moritz von Dohrma schimpfte auf die schlechten Zeiten und vergaß dabei ganz, die sehr großen Ansprüche zu berücksichtigen, die er und seine Familie an die Erträgnisse des Gutes stellten.
Dohrma hatte jetzt einen Wert von etwa zweihundertundfünfzigtausend Mark und war, wie schon gesagt, stark verschuldet.
Sein Besitzer verlangte jedoch, daß es ihm außer den zu zahlenden Zinsen noch sehr hohe Erträgnisse abwerfen sollte. Da war es freilich kein Wunder, daß er nicht zufriedengestellt werden konnte.
Doch dies nur nebenbei, um zu erklären, wie es um die Zeit unserer Erzählung auf dem Gute aussah, nach welchem der Lehrer Seifert seine Schritte lenkte, um für die arme Martha ein Unterkommen zu erbitten.
Als er nach Herrn von Dohrma fragte, wurde er nach dessen Arbeitszimmer gewiesen.
Im Vorraum zu diesem Arbeitszimmer, wohin von dem großen, dielenartigen Hausflur eine Tür führte, saß an einem Pult auf einem hohen Drehsessel der Sekretär des Herrn von Dohrma, Johannes Spiegel.
Dieser war ein kleines, mageres Männchen, den die Natur sehr stiefmütterlich behandelt hatte. Er hatte einen Höcker und schiefe Schultern und bewegte den Kopf in einer seltsamen Weise schnell hin und her, wenn er mit jemand sprach.
Dreißig Jahre mochte er zählen, aber trotz seiner mißgestalteten Figur hatte er ein gutgeformtes Gesicht und kluge, etwas schwärmerisch blickende Augen.
So zufrieden und heiter, wie Johannes Spiegel, fand sich selten ein Mensch in sein hartes Schicksal. Er trug sein körperliches Mißgeschick wirklich mit Humor und Seelengröße und war bei allen Menschen beliebt.
Wo er weilte, gab es fast immer lachende, frohe Gesichter, man belustigte sich über seine komische Redeweise.
In seiner Jugend wollte Johannes Spiegel ein großer Dichter werden und übte sich von Kind auf darin, in gereimter Rede zu sprechen.
Er dachte, durch diese Übung sein erträumtes Ziel zu erreichet, hatte jedoch sonst nicht das geringste Talent dazu.
Nach mannigfachen Fehlschlägen hatte er eingesehen, daß er es als Dichter zu nichts bringen werde, und war dann froh gewesen, als ihn Herr von Dohrma als Schreiber und Sekretär anstellte.
Das Reimen aber hatte er nicht mehr lassen können, es war ihrn zur zweiten Natur geworden, und es gewährte ihm innige Befriedigung, alles, was er zu sagen hatte, in gereimter Rede hervorzubringen.
Darin hatte er es zu einer großen Fertigkeit gebracht. Nie war er um einen passenden Reim verlegen, wenn er auch zuweilen etwas gewaltsam damit verfuhr. —
Als der Lehrer Seifert zu dem Herrn Sekretär ins Vorzimmer trat, drehte sich dieser, wie er immer zu tun pflegte, mit seinem lederüberzogenen Drehsessel schnell um.
»Guten Tag, Herr Sekretär!« sagte Seifert freundlich.
Spiegel sprang von seinem Sessel herunter und reichte ihm mit einer possierlichen Verbeugung die Hand.
»Ei