Mila Summers

Ein Frosch zum Küssen


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bildete sich dieses kleine Grübchen, das ich auch von mir kannte.

      Noch ehe ich weitere triftige Argumente anbringen konnte – wobei ein Blick auf das Podium für jeden vernünftig denkenden Menschen hätte ausreichen müssen – wachte meine Nichte schreiend auf. Respekt. Sogar diesem kleinen Wesen war ohne Umschweife in wenigen Sekunden klar geworden, wie bizarr das Ganze war.

      Mittlerweile kaute Sue nervös auf ihrer Unterlippe herum. Sie haderte mit sich, ob sie gehen oder bleiben sollte. Jedes Mitglied unserer Familie hatte ein Baby-Foto mit dem Santa aus der Morris-Mall in dem allerersten Fotobüchlein, das unsere Mum für jeden von uns gemacht hatte.

      Ich kannte meine eineiige Schwester nur zu gut, um zu wissen, wie traditionsbewusst sie war. Sie eiferte in allen Dingen ihrem großen Vorbild nach und wagte es oft nicht, von den Vorgaben abzuweichen.

      Mum war für uns alle eine wahre Überlebenskünstlerin. Sie hatte es geschafft, unseren großen Bruder und uns beide unter einem Dach großzuziehen, ohne dass wir uns in den rebellischen Jahren der Pubertät die Schädel eingeschlagen hatten.

      »Ich weiß nicht. Ich hätte schon gerne ein Bild gehabt«, äußerte sie ihre Bedenken, derweil sie das weinende Kind in ihren Armen zu beruhigen versuchte.

      »Mit Freddy, dem Frosch? Komm schon, Sue, das kann nicht dein Ernst sein. Ich bastel dir was in Photoshop. Versprochen!« Händeringend setzte ich alles auf eine Karte und schüttelte meinen letzten Trumpf aus dem Ärmel: »Außerdem hat Mum bei unserem Bild auch getrickst. Hast du dir das mal genauer angesehen? Nie im Leben waren wir auf dem Bild zehn Monate alt. Die Aufnahme muss aus dem Folgejahr stammen.«

      »Das glaub ich nicht. Mum würde nie … Nein, das hätte sie nicht … Schließlich lügt sie heute nur in den allerausweglosesten Situationen. Nein, ich glaub dir nicht.«

      Noch ehe wir die Sache wie zwei erwachsene Frauen ausdiskutieren konnten, bildete sich ein Tumult in der Masse und ein kleines Mädchen stapfte, schwer beladen mit einem riesigen Behälter voller Zuckerstangen, freudestrahlend an uns vorbei.

      Ein Blick nach vorne bestätigte meine Vermutung: Freddy, der Frosch, hatte die Bühne verlassen. Die Show war vorbei.

      »Miss Havisham, ich bedaure sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Sie zum Ende des Monats kündigen müssen.«

      »Was? Ich meine … Wie bitte?«, erwiderte ich perplex auf den wenig einfühlsam verpackten Rausschmiss meines Chefs.

      Mr. MacDoughall oder, wie ich ihn in Gedanken nannte, das Walross blickte stoisch auf das weiße Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag. Während er mit der einen Hand immer wieder über die ergrauten Spitzen seines Schnurrbartes strich, wiederholte er: »Ja, ohne Zweifel, Sie stehen auf der Liste. Emily Havisham. Ich habe es soeben noch einmal geprüft. Ihr Abteilungsleiter hatte die Vorgabe, seine Mitarbeiterzahl zu dezimieren, um die Ressourcen des Unternehmens besser ausschöpfen zu können. Es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie in diesem Fall auch von der Maßnahme betroffen sind. Aber nehmen Sie sich’s nicht allzu sehr zu Herzen, Kindchen.“

      Kindchen? Ich hatte mich doch wohl hoffentlich verhört.

      „Sie sind jung und haben das ganze Leben noch vor sich. Mr. Ferguson hat keinerlei Beanstandungen angebracht, die mit Ihrer Leistung einhergehen würden. Ihre Entlassung ist lediglich dem Zufall geschuldet. Kopf hoch, Miss Havisham! Da draußen gibt es noch unzählige Herausforderungen, denen Sie sich voller Mut und Tatendrang stellen können. Glauben Sie an sich!«, endete er seinen Wortschwall pathetisch, während er mich durchdringend ansah und sein Doppelkinn bedrohlich zu beben begann.

      »Aber es ist doch bald Weihnachten«, stotterte ich. Dieses Gespräch mit dem Chef hatte ich mir definitiv anders vorgestellt.

      »Papperlapapp, es gibt immer eine Möglichkeit, wenn man nur will. Miss Havisham, lassen Sie nicht zu, dass Sie in dieses tiefe, schwarze Loch hinabblicken, das ihre Aufmerksamkeit vom Wesentlichen ablenkt. Bleiben Sie auf dem richtigen Pfad der Tugend und kämpfen Sie! Den Kopf in den Sand stecken, kann schließlich jeder. Erst gestern hab ich zu meinem Golfpartner gesagt: Arthur, es ist nicht alles Gold, was glänzt, aber es ist auch nicht alles Scheiße, was stinkt.« Sein zufriedenes Röcheln ließ mich erschrocken zusammenfahren.

      Abertausende Gedanken schossen mir durch den Kopf. Meine eigene Wohnung konnte ich mir nun endgültig abschminken. Nach dem Studium hatte ich gehofft, bald auf eigenen Füßen stehen zu können.

      Ich wollte nicht undankbar klingen, aber mit Mitte zwanzig wäre ich wirklich gerne langsam flügge geworden. Meine Schwester war bereits verheiratet und hatte eine Tochter, mein Bruder hatte ebenfalls eine Familie gegründet.

      So langsam musste ich echt schauen, dass ich aus den Puschen kam, wollte ich nicht als alte Jungfer enden. Doch jetzt musste ich erst mal einen neuen Job suchen. Damit hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet.

      Als mich Mr. MacDoughalls Sekretärin anrief und mir erklärte, ich hätte heute einen Termin mit dem Big Boss, hatte ich mir noch in den schillerndsten Farben ausgemalt, was für tolle Nachrichten er für mich haben könnte.

      Verträumt hatte ich solch klangvollen Worten wie Gehaltserhöhung oder Beförderung nachgehangen und sah mich endlich am Ziel angelangt. Nur leider war des Walross’ Offenbarung so gar nicht mit meinen Wunschvorstellungen kompatibel.

      »So müssen Sie es auch sehen. Nehmen Sie den Anlass dazu, Ihr Leben neu zu strukturieren. Steigen Sie wie Phönix aus der Asche und überraschen Sie all Ihre Kritiker. Lassen Sie sich von solch banalen Dingen wie Weihnachten nicht aus dem Konzept bringen. Schließlich findet das Fest alljährlich seit über sechzehnhundert Jahren statt.«

      Wie Phönix aus der Asche. Pah, dass ich nicht lachte. Was waren das bloß für schwülstige Phrasen ohne jedweden Bezug zu dem Häufchen Elend, das sich da vor ihm im Staub suhlte.

      Egal, was da aus der Asche aufsteigen würde, als Phönix würde ich sicher nicht wiedergeboren werden. Eher als Augenringe-bis-zum-Boden-Träger oder Talkshows-am-helllichten-Tag-Gucker. Reiß dich zusammen, ermahnte mich das letzte Fünkchen Stolz, das noch übrig geblieben war.

      Ja, die Kugel war in den Brunnen gefallen, aber emanzipierte Frauen des einundzwanzigsten Jahrhunderts schafften es ja wohl selbst, dafür zu sorgen, dass sie da wieder rauskam, oder? Also, aufstehen, Krönchen richten, weitergehen!

      »Und soll ich Ihnen was sagen? Es wird sicher auch nächstes Jahr wieder ein Weihnachtsfest für Sie geben. Vielleicht schaffen Sie es bereits bis zum siebten Januar mit einer neuen Anstellung. Dann feiern Sie einfach mit den orthodoxen Christen das Fest. Man muss heutzutage flexibel sein in dieser Welt. Vor allem, wenn man Karriere machen möchte. Sie wollen doch Karriere machen, Miss Havisham? Sehe ich das richtig?«

      Sie wollen doch Karriere machen, äffte ich den arroganten Saftsack innerlich nach. Was glaubte er eigentlich, wer er war? Hielt mir hier von seinem hohen Ross herab eine Rede darüber, wie das wirkliche Leben da draußen aussah, als sei ich ein abseits jedweder Zivilisation lebendes Steinzeitmädchen, das nur mit seiner Hilfe aus ihrer Höhle gefunden hatte. Hallo?

      Ich hatte meinen Abschluss in Harvard mit Auszeichnung gemacht und hatte über LinkedIn bereits drei Jobangebote bekommen, noch ehe ich mich selbst auf die Suche gemacht hatte.

      Dummerweise hatte ich keines davon angenommen. In meinem naiven Irrglauben, die ganze Welt läge mir zu Füßen, war ich auf die Suche nach der Werbeagentur gegangen, bei der ich mein Handwerk von der Pike auf lernen konnte.

      Hammersmith & Porter war meine erste Wahl gewesen. Die renommierte Agentur war weit über die Stadtgrenzen Chicagos hinaus für ihre erfolgreichen Kampagnen bekannt.

      Ein Politiker betrügt seine Frau? Das Verhältnis fliegt auf? Die Medien dürfen keinen Wind davon bekommen? Dann kommen Sie zu Hammersmith & Porter, um Ihr Image wieder aufzupolieren. Ihre Sportkarriere läuft ganz gut, könnte aber mehr Gewinn abwerfen in Form von lukrativen Werbeverträgen? Dann kommen Sie zu Hammersmith & Porter.