Markus Ridder

Das Eisenzimmer


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ob er zählen und bei drei einfach die Lider aufreißen sollte. Doch das erschien ihm albern. Zu mädchenhaft vielleicht. Obwohl: Fühlte er sich denn wie ein Mann? Ein Kerl? Fühlte er sich wie einer, den nichts umwarf?

      Resigniert atmete er ein, in seiner Kehle röchelte es wie in einem alten Abfluss. Dann atmete er aus, so langsam, wie er konnte. Er hielt die Luft an, vor dem nächsten Atemzug, sagte er sich, würde er die Augenlider heben.

      Er öffnete sie.

      Nichts als eine schwarze Wand. Er hatte es gewusst. Das All lag auf ihm wie eine riesige schwarze Glocke, das vollkommene Nichts. Und doch wusste er, dass es nicht stimmte, dass sich dort eine Decke über ihm wölbte. Dass da Steine waren und kleine zerfurchte Nischen, in denen altes Wachs klebte und vor denen jetzt die Spinnennetze hingen.

      Draußen donnerte es. Leiser als vorhin.

      Das Gewitter schien langsam weiterzuziehen.

ERSTER TEIL

      Vor dem Gewitter ...

      1

      „Teufel!“

      „Oh, da habe ich mich offenbar ver ... Herr Plossila?“

      „Was?“

      „Sie sind es doch, das freut mich. Ich dachte, ich sei falsch verbunden. Ich hoffe, es passt Ihnen, Sie sagten, Sie wollten informiert werden, wenn es etwas Ernstes gibt. Ja, was soll ich sagen – es gibt etwas Ernstes.“

      „Hmm.“

      „Wir finden eine andere Lösung, wenn es Ihnen nicht passt, sagte man mir, ich weiß es ja auch nicht ... Es ist nur so, dass Salzmann ebenfalls im Urlaub ist und Mäuser hat Land unter, wie er meint.“

      „Nein ich ... ich bin nur gerade ... Sie haben mich geweckt, das ist alles. Ich ...“

      „Es ist neun Uhr, da dachte ich, ich kann es wagen, auch wenn Sie eigentlich Urlaub haben.“

      Plossila blickte auf die roten Ziffern der Digitaluhr auf dem Nachttisch. 9.01 Uhr. Er schlug die Decke zurück, wuchtete sich an die Bettkante. „Bin nur eben erst von der Strandbar zurück, das ist alles.“

      „Ach!“ Der andere schwieg für einen Atemzug. „Ich treffe Sie gar nicht zuhause an? Ich dachte ... Ihre Kollegin, Frau Biber, sie meinte, Sie blieben in München. Dann hat es ja gar keinen Sinn, wenn ich ...“

      „Vergessen Sie's, war Ironie. Oder Sarkasmus. Eins von beiden. Ironie mit einem Schuss Sarkasmus – suchen Sie sich was aus.“

      „Wie? Ach, jetzt bin ich ehrlich gesagt ein bisschen verwirrt ...“

      „Was gibt’s also? Ich bin da. Aber nur, wenn es was Wichtiges ist, sonst kann doch Dollerschell übernehmen.“

      Plossila strich sich über die Augenlider, presste Daumen und Mittelfinger fest gegen die Nasenwurzel. Eine Batiklandschaft aus Violett, Gelb und Blau legte sich über seine Netzhaut.

      „Natürlich. Was Ernstes. Sonst hätte ich Sie niemals kontaktiert in Ihrem Urlaub. Mord. Ein Mord, sagten die Kollegen.“

      Er setzte einen Fuß auf den kalten Dielenboden. Es zischelte leicht und er spürte, wie etwas unter seiner Sohle kleben blieb. Er hob den Fuß an und zog unter einem saftigen Schmatzgeräusch irgendein Plastikteil von der Haut ab. „Mord ... Und später ist es ein Unfall oder Selbstmord. Können Sie konkreter werden?“

      „Ein Dolchmord, sagen die Kollegen.“

      Er schaltete die Leselampe ein und bereute es sofort: Die Glühbirne schoss kleine unsichtbare Lichtpfeile durch seine Pupillen, die sich tief in sein schwammiges Hirn bohrten. Kopfschmerzen stellten sich ein, ganz hinten, dicht unter der Schädelplatte. „Ist das Ihr Ernst? Hat der letzte Dolchmord nicht 1814 stattgefunden?“

      „Äh ...?“

      Er blickte auf das Plastikding in seiner Hand. Eine halb leere Tablettenverpackung. Er wusste: Das Mirtazapin, das er seit einer Woche nahm. „Welcher Kollege sagt das mit dem Dolchmord?“

      „Gunther Isenbarth.“

      Er warf das Mirtazapin auf den Beistelltisch, traf aber nur die Ecke. Die Tablettenverpackung fiel zurück auf den Boden. Er betrachtete sie eine Weile und versuchte, gegen das Gefühl der ersten Niederlage des Tages anzukämpfen.

      „Herr Plossila?“

      „OK, bin unterwegs.“

      Er drückte auf „Beenden“. Wenn Isenbarth es sagte, war davon auszugehen, dass es ernst war. Plossila konnte sich nicht daran erinnern, dass der Mediziner sich in den vergangenen Jahren jemals geirrt hatte. Er war Anfang Sechzig und immer noch mit heiligem Eifer bei der Sache. Er glaubte einfach an die Bedeutung seiner Aufgabe. Und wenn Isenbarth einen Mord feststellte, dann war es ein Mord. Er musste also hinfahren, das hatte er versichert. „Wenn es etwas Wichtiges gibt, dann komme ich“, hatte er gesagt. Und das war auch gut so. Immerhin zeigte es doch, dass ihm eben nicht alles egal war. Dass es nach wie vor etwas von Bedeutung gab in seinem erbärmlichen Leben.

      Erst auf dem Weg ins Badezimmer wurde ihm klar, dass er gar nicht wusste, wohin. Wo um Himmels Willen war der Tatort? Er beschloss, diese Frage nach dem Duschen zu klären. Und nachdem er einen Kaffee getrunken hatte.

      Noch bevor er unter der Brause stand, fiel ihm ein, dass kein Kaffee mehr im Haus war. Gestern hatte er die letzten Reste aus einer verbeulten Dose zusammengekratzt, um sich eine halbe Tasse dünnen Filterkaffees zuzubereiten. Aber das machte nichts, sagte er sich. Der Türke, er würde zum Türken gehen, der hatte hervorragenden Kaffee. Starken Kaffee, genau das, was er jetzt brauchte.

      Der Türke hatte geschlossen. Also überquerte Plossila die Straße, sprang überraschend leichtfüßig über eine Leitplanke, ließ zwei BMWs passieren und einen Golf mit H-Kennzeichen und lief über die Gegenfahrbahn. Er blickte die Humboldtstraße hinab Richtung Isar. Die Luft flimmerte leicht, vom Flussufer stiegen die ersten Rauchwolken der Grillwütigen auf – und das um halb Zehn. Er schüttelte den Kopf und legte sich die Lederjacke über den Arm. Es würde heiß werden heute. Ein perfekter Tag am See.

      Ein verlorener Tag im Büro.

      Drei Leute waren in der kleinen Bäckerei vor ihm an der Reihe und er hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Er hasste es zu warten, vor allem vor dem ersten Kaffee. Als er endlich dran war, schickte ihm die Verkäuferin einen mitleidigen Blick. Er versuchte, mit einem Lächeln zu kontern.

      „Kaffee?“

      Plossila nickte und hatte aus irgendeinem Grund das Gefühl, bei einer Lüge ertappt worden zu sein.

      Zurück im Auto pfriemelte er den Pappbecher in den Getränkehalter und drückte im Handydisplay auf Rückruf.

      „Polizeipräsidium Fürstenfeldbruck, Weber. Was kann ich für Sie tun?“

      Es war der neue Mann am Empfang. Er erinnerte sich, dass Linda vom Personal vor Kurzem einen Rundgang mit ihm gemacht hatte, um ihn den Kollegen vorzustellen. Es war mal wieder typisch, dass sie den Neuen vorschickten, um ihn aus dem Urlaub zu rufen. Plossila konnte sich nicht helfen, aber die freundliche Stimme Webers provozierte ihn irgendwie. Sie war noch nicht einmal aufgesetzt. Das immerhin hätte er verstanden.

      „Wohin ...? Plossila noch mal.“

      „Wie bitte? Ach ja, natürlich. Sie sind also bereit ... gut, Augenblick!“ Er hörte es rascheln, dann ertönte die altertümliche Pausenmelodie, die ihn immer an seine Kindheitstage mit Robert Lembke und „Was bin ich?“ erinnerte. Wieder rascheln. „Hören Sie? Landsberg am Lech, Lechwiesenstraße 61c. Das ist dieses Gewerbegebiet zwischen Landsberg und Kaufering.“

      „Ich weiß, wo das ist. Danke.“

      Er legte auf. Dann gab er die Straße ins Navigationsgerät ein. Er hatte keine Ahnung, wo das war.

      Er sah das Blaulicht schon von Weitem. Und er erinnerte sich: Er war schon öfter hier gewesen. Hier befanden sich die großen Supermärkte und die Autohäuser. Er war nur