Markus Ridder

Das Eisenzimmer


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Wangen und erhobenem Zeigefinger auf zwei Kinder ein, die sich ein Rennen mit Einkaufswägen geliefert hatten.

      Du musst dich zusammenreißen!

      Noch immer hatte er leichte Kopfschmerzen. Sein Hirn fühlte sich trocken an. Er stellte sich vor, wie es zu Korallenkalk versteinerte. Dr. Eberharty hatte ihn gewarnt: „Die Tabletten können eine kontradiktorische Wirkung zeigen. Es kann sein, dass sie sich noch müder und schlapper fühlen. Aber wenn es das richtige Medikament ist, wird dies aufhören. Da müssen sie jetzt einfach durch, Herr Plossila.“ Ja, da musste er durch, wie er durch das ganze Leben irgendwie durch musste. Das war das Gefühl der vergangenen Monate gewesen: Durchmüssen. Bewältigenmüssen. Abarbeitenmüssen. Müssenmüssen.

      Er griff zum mittlerweile kalten Kaffee und lenkte den BMW hinter einen der blinkenden Polizeibusse auf den Parkstreifen. Ein Kollege sprang aus dem Wagen und Plossila musste auf die Bremse treten. Kaffee schwappte über den Becherrand auf seine Hand und von dort auf sein blassblaues Hemd. Er drückte auf die Hupe, der Kollege hob entschuldigend die Hand, ließ sich aber nicht weiter aufhalten. Er ging eine kleine Treppe hinauf und verschwand in einem gläsernen Gebäude, das mit schwarzen Vorhängen zugezogen war.

      Plossila öffnete die Wagentür und ließ den viertel vollen Becher neben den Bordstein fallen. Dann blickte er hilflos im Auto umher, suchte etwas wie ein Taschentuch. Schließlich presste er die Lippen zusammen und strich sich die Hand an der Hose ab. Er wischte sich mit den Fingern über den Fleck auf dem Hemd und stellte fest, dass der Kaffee eine eigenartige Form hinterlassen hatte. Fast erinnerte sie ihn an ein Hakenkreuz, aber das konnte Einbildung sein oder die eigenartige Perspektive, aus der Plossila auf den Fleck starrte.

      „Morgen Plossila“, zwitscherte plötzlich jemand.

      Er erschrak, wusste aber, dass man es ihm nicht anmerken würde. Er war viel zu schlapp, um noch Mimik nach außen transportieren zu können. Er blickte auf, sah zuerst den Ford Fiesta, der sich noch auf den Seitenstreifen zwischen seinen BMW und den Polizeibus vor ihm gequetscht hatte, dann seine Besitzerin.

      Seine Stimmung hellte sich leicht auf. „Hallo Jenny, müsstest du nicht längst hier sein? Utting, oder? Halber Weg aus München.“

      „Nee, wurde aufgehalten. Mein neuer Mitbewohner. Wollte gestern Abend einziehen. Dann hieß es plötzlich heute Morgen. Aber der kann jetzt selber sehen, wie er seine Sachen hoch schleppt. Alles gut?“

      Geht schon, dachte Plossila. Er musste zugeben, dass es ihm seine Kollegin nicht gerade schwer machte, den letzten Rest positiver Stimmung aus ihm heraus zu kitzeln. Sie war erst seit ein paar Monaten bei ihnen. Zuerst nur als Anwärterin. Aber er war froh, dass er die offiziellen Stellen hatte überzeugen können, sie als Oberwachtmeisterin in sein Team abzustellen. Sie hatten eine kleine Feier gemacht und er hatte ihr sofort das „Du“ angeboten.

      Er wuchtete sich aus dem Auto, blickte über die rot-weißen Plastikbänder, die den Tatort absperrten, die Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Kunststoffanzügen, auf denen sich das blaue Blinken der Polizeiautoleuchten brach. Er atmete tief ein, machte eine ausladende Handbewegung. „Kann man sich etwas Schöneres vorstellen im Urlaub?“

      „Ah, Plossila, gut, dass du kommst.“

      Er gab Gunther Isenbarth die Hand. Seinen Kollegen Dollerschell begrüßte er mit einem Klaps auf die Schulter. Sie standen in einem mit Vorhängen abgedunkelten Raum, der von zwei Standstrahlern erhellt wurde, die er nur von größeren Veranstaltungen kannte. Der Raum war fast vollkommen leer, nur auf einem Podest, das offenbar in den Boden eingelassen war, befand sich ein schwarzes Rednerpult. Auf dem Podest saß ein Mann mit Halbglatze und braunweiß geschecktem Schnauzbart, der immer wieder mit einem Schlüsselbund gegen seinen Oberschenkel schlug. Daneben ein Mann Anfang Dreißig im Blaumann und dem T-Shirt einer Firma, die offenbar Messen und Veranstaltungen organisierte. Das gleiche T-Shirt trug ein anderer in einer kurzen, abgeschnittenen Jeans, der an einem der Strahler herumfummelte.

      In der Mitte des Raums lag ein Mann auf dem Boden: Mitte Vierzig, die Arme ausgebreitet, das Gesicht zur Decke. Der Kopf war leicht nach rechts gelegt, das halblange, fettige Haar umspielte ein längliches Gesicht, das nicht ganz symmetrisch wirkte. Fast schien es eine Delle zu haben, aber vielleicht lag das auch nur an dem geöffneten Mund und dem durch die Haltung verschobenen Kiefer, dachte Plossila. Er kam nicht umhin zu bemerken, dass die Zähne des Mannes wenig gepflegt erschienen. Sie waren gelb, krumm und der Oberkiefer ragte weit über sein unteres Gegenstück hinaus. Der Mann trug Lederstiefel, in die er seine hellgraue Stoffhose hineingesteckt hatte, sein Hemd war blau kariert, die obersten beiden Knöpfe standen offen, der Kragen war an einer Seite hochgeklappt und reichte somit fast bis zur rechten Augenbraue. Aus seiner Brust lugte der schwarze Schaft eines Messers.

      Plossila blickte von der Leiche auf, sah in das von der Sonne gebräunte Gesicht Isenbarths. „Na, wie lange hast du gebraucht, um die Todesursache festzustellen? War sicherlich nicht leicht diesmal.“

      Gunther Isenbarth schenkte ihm ein kontrolliertes Lächeln. „Ich freue mich jedenfalls, dass ich dir einmal etwas Neues bieten kann. Einen klassischen Dolchmord kennt man doch sonst nur von Miss Marple.“

      „Sag bloß, du wusstest nicht, dass ich die männliche Miss Marple bin?“

      „Für mich warst du eigentlich immer der Sherlock Holmes Oberbayerns.“

      Plossila beugte sich über den Toten, sah dann wieder zu Gunther Isenbarth auf. „Na dann erzähl mal, was du hast, Watson!“

      Plossila sah Gunther Isenbarth hinterher, der zügig um die Leiche herum schritt, als hätte er nur auf ein Kommando gewartet. Sein Blick streifte seine junge Kollegin, die besorgt, aber konzentriert zugleich auf den Toten am Boden sah. Sie hatte ihre Hand an die Wange gelegt und Plossila bemerkte, dass sie ihren Ring nicht mehr trug. Erst dann fiel ihm ein, dass sie sich gerade erst von ihrem Freund getrennt hatte. Deshalb war sie ja auch umgezogen und lebte jetzt in einer Wohngemeinschaft am Ammersee. Er presste die Lippen aufeinander, fühlte sich plötzlich schlecht, weil er über den Toten hinweg mit Isenbarth gescherzt hatte. Er konnte sich vorstellen, wie das auf Jenny wirken musste. Sie war Idealistin, das hatte sie mit Isenbarth gemeinsam. Sie war Polizistin geworden, weil sie an das Gute glaubte und für Gerechtigkeit kämpfen wollte.

      Sie war wie er vor zwanzig Jahren.

      „Wir haben tatsächlich momentan nur das Offensichtliche“, sagte Gunther Isenbarth, der am Kopfende der Leiche in die Hocke gegangen war. „Die Todesursache scheint, wie nicht weiter verwundert, der Dolchstoß zu sein. Er ging direkt ins Herz, das danach fast augenblicklich aufgehört hat zu schlagen. Das erkennt man daran, dass nur wenig Blut ausgetreten ist.“ Ein langer Zeigefinger mit einem weißen, gepflegten Nagel umkreiste den schwarzen Schaft. „Jetzt ist es halb Elf. Ich denke, dass er rund fünfzehn Stunden tot sein sollte.“

      „Safe?“, unterbrach Plossila.

      „Ja, ziemlich, würde mich wundern, wenn sich im Labor ergäbe, dass er nicht zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr gestern Abend umgebracht wurde.“

      Plossila nickte und strich sich mit der Hand über das unrasierte, stoppelige Gesicht. Er hatte das Gefühl, wieder zu funktionieren, vielleicht war es gar nicht so schlecht, trotzdem zu arbeiten, auch wenn er gerade die Therapie machte. Gleichwohl hatte er nach wie vor den Eindruck, nach außen eine ganz andere Person darzustellen, als er innerlich war.

      „Irgendwelche Indizien, dass der Mord nicht hier, sondern woanders passiert sein könnte?“

      Isenbarth zog einen Einweghandschuh hervor, den er in seiner Sakkotasche verwahrt hatte, und streifte diesen über. Darauf schob er eine Hand unter den Hinterkopf des Toten. „Er hat ein münzgroßes Hämatom im Rückbereich des Schädels. Wenn er nicht auf dem Beton hier aufgeschlagen ist, müsste es sich um einen ganz ähnlichen Untergrund gehandelt haben. Ich denke, er wurde hier ermordet, ist hier gestürzt und liegengeblieben. Aber safe ist das natürlich nicht.“

      „Fünfzig Prozent?“

      Er stand wieder auf, zog dabei die Hand aus dem Handschuh. „Plossila, das sind reine Mutmaßungen. Es scheint mir wahrscheinlich und logisch in Anbetracht