Markus Ridder

Das Eisenzimmer


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sich in den Sitz fallen. Der Ärger über sich selbst war immer der schlimmste Ärger, wusste Plossila. Er hätte in seinem Zustand überhaupt nichts sagen sollen. Er war nicht bei sich selbst. Er nahm Medikamente. Und außerdem: Er hatte Urlaub, verflucht noch mal!

      Er beschloss, den Weg um die Stadt herum zu nehmen. Wenn er jetzt über den Hinteren Anger und durch den Schmalzturm in die Altstadt fahren würde, konnte es passieren, dass er in den Mittagsstau geriet. Und seine Lust darauf, bei der Hitze Stoßstange an Stoßstange hinter dem Lenkrad zu versauern, war nur unwesentlich geringer als die, sich beim Bäcker die Füße in den Bauch zu stehen.

      Er war nicht gerade glücklich über die Hotelwahl Middlemans. Der „Alte Hase“ war eher eine Gastwirtschaft, die nebenbei noch Zimmer vermietete. Sie lag zentral, doch war das Haus nicht unbedingt das erste Hotel am Platz. Die Wirtschaft war eine dunkle Spelunke und außerdem die Klatsch- und Tratschbörse der Region. Was ihn am meisten störte: Erst einer seiner letzten Fälle hatte ihn dorthin gebracht. Und er hatte sich nicht nur Freunde gemacht.

      Er ließ das Fenster herunter und gab der Sonne eine Chance, ihn in bessere Stimmung zu versetzen. Irgendwo hatte er gelesen, dass Licht glücklich macht. Als Halb-Finne war ihm das Gegenteil seit jeher bekannt: Die Dunkelheit ließ auch die Raben fliegen, die drohend über einem kreisten und an der Seele pickten.

      Vorne rechts tauchte das Eingangsgebäude der Justizvollzugsanstalt auf. Das alte, efeubewachsene Gemäuer mit seinen zwei Türmen ließ ihn an eine mittelalterliche Festung denken. Die Sonne gleißte auf den Turmhauben, die mit ihrer grünlichen Patina aussahen wie ein Paar himmelwärts gerichtete Brüste, aus denen sich zwei dicke Tropfen lösten. Die längliche Dachgaube mit ihren hölzernen Fensterläden hatte etwas Anheimelndes. Kaum zu glauben, dass dort, wo heute ehemalige Fußballgranden einsaßen, noch vor sechzig Jahren Menschen erschossen und gehängt worden waren.

      Erst die Fahrt über die Karolinenbrücke stimmte versöhnlich: Der Lech, der sich hier zu einem großen Wehr staute, glitzerte in der Sonne, die Schlange vor der Eisdiele am Flussufer wand sich bis zur Kaimauer, man trug Kurzarmhemden und bunte Hosen und Flipflops.

      Plossila parkte direkt vor dem „Alten Hasen“, kämpfte sich darauf schwerfällig aus dem Wagen. Er blickte zu Jenny, die sich lässig an ihren Fiesta gelehnt hatte und die Sonne genoss. „Wollen wir?“

      Er hatte das Gefühl, hinab in einen Keller zu steigen, als sie die Gastwirtschaft betraten. Nie würde er verstehen, wie alte Männer ihre Mahlzeiten bei strahlendem Sonnenschein in so einer Höhle einnehmen konnten. Tatsächlich war die Hälfte der Tische besetzt, so voll hatte er das Lokal selten erlebt. Gegessen wurde gutbürgerlich: Schweinsbraten, Haxe, Knödel.

      „Na, schon Appetit?“, fragte Jenny schnippisch und schenkte ihm ein Lächeln.

      Er wollte etwas erwidern, doch traf ihn unverhofft der Blick Ludwig Eschs und lenkte seine Gedanken in andere Bahnen. Er wusste nicht, wie manche Leute es schafften, seine ohnehin mäßige Stimmung durch bloßen Augenkontakt ins Untergeschoss zu schicken. Dem Wirt gelang dies jedenfalls in Sekundenbruchteilen. Er sandte ihm einen Blick, der in den Abgrund gesehen hatte. Vielleicht in die Verwinkelungen seiner eigenen dunklen Seele, wer konnte das wissen? Seine Lider schienen schwer auf seinen Augen zu lasten und seine Mundwinkel hingen so schlaff und unerbittlich herab, dass es keiner Macht der Welt gelingen würde, sie jemals wieder über die Horizontale hinaus nach oben zu bewegen.

      Esch stand hinter der Theke, stellte ein gespültes Bierglas auf das Trockengitter und rieb sich die roten Hände mit einem karierten Handtuch ab. Ohne die Polizisten zu grüßen, fragte er: „Beginnen Ihre Recherchen jetzt regelmäßig in unserem Hause, Herr Plossila?“

      „Ich hoffe, das vermeiden zu können. Die Sehnsucht, hierher zu kommen, ist nicht halb so groß, wie Sie sich das vermutlich vorstellen, Herr Esch.“

      „Also, wollen Sie die Karte oder haben Sie lediglich ein Redebedürfnis?“

      Plossila schnaufte. „Kenneth Middleman – was sagt Ihnen der Name?“

      Eine Brünette in einer engen Jeans und einer Gürtelschnalle in Form eines Totenkopfs quetschte sich an Esch vorbei und legte zwei Zettel vor ihn auf die Theke, die sich augenblicklich zusammenrollten. Ohne aufzublicken, griff Esch danach, feuchtete sie an und klebte sie an die Zapfanlage.

      „Einer unserer Gäste. Stimmt was nicht mit ihm?“

      Ohne etwas dagegen machen zu können, blickte Plossila der Brünetten hinterher. Der Anblick ihres prallen Hinterns schien ihm einen fast unmerklichen Energiestoß zu geben. „Wie lange wohnt er schon bei Ihnen?“, fragte er geistesabwesend.

      „Seit rund zwei Wochen.“

      „Geht's vielleicht etwas genauer?“

      Esch nahm erneut das Handtuch und wischte sich über die Finger, dann ließ er das Handtuch lässig neben die Spüle fallen. Wortlos ging er durch eine kleine Schwingtür am rechten Rand der Theke. Er blieb unter einem Schlüsselbrett stehen, an dessen Seite in schräger Schrift „Rezeption“ stand. Plossila beugte sich leicht über die Bar und beobachtete, wie er ein dickes Buch mit vergilbten Seiten aufschlug. Esch nahm eine Brille mit kleinen runden Gläsern aus einem Fach oberhalb der Theke und setzte sie sich auf die Nase. Anschließend legte er einen rötlichen Finger in das Buch. Ohne aufzublicken, sagte er: „Er hat am 29. Juli bei uns eingecheckt. Heute ist bekanntlich der 12. August.“ Er schloss das Buch, nahm die Brille wieder ab und legte sie an ihren Platz. Langsam ging er zurück in den Bar-Bereich. Er fixierte Plossila und sagte mit funkelndem Blick: „Ich korrigiere also meine Aussage von vorhin. Er wohnt nicht seit rund zwei Wochen bei uns, sondern seit exakt zwei Wochen. Zufrieden?“

      „Wie lange hat er reserviert?“, warf Jenny ein und Plossila war froh, dass sie Eschs Aufmerksamkeit auf sich zog. Die mangelnde Kooperationsbereitschaft des Wirts machte ihn rasend.

      „Einen Monat insgesamt. Aber sollte er verlängern wollen – wir haben noch Kapazitäten frei.“

      „Wissen Sie, was er hier gemacht hat?“

      „Das kann ich ihnen nicht sagen, wir pflegen unsere Gäste nicht auszufragen und schnüffeln ihnen auch nicht hinterher.“

      Jenny ließ sich in ihrem Enthusiasmus nicht aufhalten. Mit einer von echter Neugier getragenen Stimme erwiderte sie: „Sie müssen doch irgendetwas mitbekommen haben. War er oft unterwegs? Hat er Gäste empfangen?“

      Esch nahm eines der Gläser vom Abtropfgitter und drückte es erneut über eine Spülvorrichtung. „Er war regelmäßig unterwegs, was er gemacht hat, kann ich Ihnen nicht sagen ... Und ja, er hatte hin und wieder Gäste.“

      „Wer war das? Kennen Sie die Leute?“

      Esch nahm sein Handtuch erneut auf und begann, damit den Rand eines der Gläser abzuwischen. Dann hielt er das Glas gegen das Licht und legte das Handtuch ein weiteres Mal an. Er presste so fest gegen das Glas, dass seine Daumen sich ins Violette verfärbten. „Hören Sie, ich will hier keinen Ärger haben.“

      „Also ja, Sie kannten sie!“, fiel Plossila ein.

      Abrupt wandte Esch sich dem Hauptkommissar zu, nahm ihn mit seinen Totengräberaugen ins Visier. „Verdrehen Sie mir nicht die Worte im Mund, das habe ich niemals gesagt! Ich habe gesagt, dass ich keinen Ärger haben will und dabei bleibt es. Ich kannte die Leute nicht. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, wie sie aussahen, sie waren das erste Mal hier bei uns.“

      „Männer? Frauen?“

      „Zwei Männer.“

      Plossila begann, mit den Fingern auf dem Fleck seines Hemdes zu tippeln. „Groß? Klein? Blond? Schwarz?“

      Esch schüttelte den Kopf, seine Lippen nahmen die Form einer geraden dünnen Linie an.

      „Wann haben Sie Middleman das letzte Mal gesehen?“, fragte Plossila.

      „Ich denke, das wird gestern Abend gewesen sein.“ Er zeigte mit dem Kinn auf die hufeisenförmige Bar, die sich wie ein Keil in den Raum der Gastwirtschaft hinein bohrte. „Hat hier gegessen, dann ist