Markus Ridder

Das Eisenzimmer


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Tage immerhin und die nutzte er. Die nutzte er, um sein Buch zu schreiben, Mein Kampf, errrrr, nicht wahr? Die Dritte Stadt wurden wir hier. Nach der Machtergreifung, Sie wissen ja, nach München und Nürnberg, Nummer Drei. München Eins, Nürnberg Zwei, Landsberg Drei, weltweit versteht sich, darum ging es ja. Und wir waren Drei. Das ist wie Bronze bei einer Olympiade. Deshalb kamen sie ja auch, Hundertschaften und mehr. Hundert Hundertschaften, nicht wahr? Kamen hierher, wollten sehen, wo ER gelebt hatte und gewirkt hatte, bei uns hier, die Festung. JVA, damals Festung. Heute fragt einer: Woher kommst du? Landsberg sagt man. Schulterzucken. Damals sagte man Landsberg und wurde umarmt. Landsberg und man wurde innig in den Arm genommen. Das ist doch schön, oder? In den Arm genommen werden? Was versteht Ihr denn daran nicht? So schlecht war das nicht, so schlecht nicht, nicht wahr?“

      Im Hintergrund fiel irgendwo ein Teller auf den Boden, die Frau schrie, das Gurgeln blieb aus.

      Donhauser rieb sich mit seinem Daumen über die Narbe, sein Gesicht verschwand hinter einer großen Hand, über die sich weiße Härchen gelegt hatten. Er blickte Schwitters ernst an. „Dietrich, ich dachte, das Thema wollten wir ruhen lassen, wir haben hier doch eine Verabredung. Und das interessiert doch auch die Kommissarin nicht.“

      Schwitters schunkelte noch im Takt seiner Wortgewehrsalven, die Bommel seiner Mütze wankte leicht. Er schaute nach wie vor starr, fast hypnotisch an Jenny vorbei in Richtung Tür, sagte aber nichts mehr.

      „Un – hun – Un – hunsere Ver – Ver – abred-hng-hng“, warf Weidinger ein und stibitzte dann wieder die unsichtbare Melone vom Tisch.

      Donhauser blickte zwischen den Fingern seiner Hand in Jennys Richtung, Schwitters Ausführungen schienen ihm körperliche Schmerzen zu bereiten. „Sie sind doch ganz sicher gekommen, weil Sie von uns Hilfe bei der Aufklärung eines Falls erhoffen. Wollen Sie uns sagen, um was es geht?“

      „Jaja ... ich – es geht tatsächlich um ihren Skatabend im Alten Hasen. Sie waren gestern dort, wenn ich richtig informiert bin ...“

      „Jedenmontagimmervonfünfbisneun“, platzte es aus Weidinger heraus.

      Jenny schluckte. „Ja, ich weiß, das sagte der Wirt. Ich müsste wissen, ob Ihnen irgendetwas aufgefallen ist. Also, waren zum Beispiel andere Leute dort als sonst?“

      „Es ist montags eigentlich immer sehr leer im Alten Hasen, sehr zum Missfallen Heriberts. Denn auch wenn er Hotel und Gaststätte nicht mehr betreibt, er ist sehr wohl daran interessiert, dass sein Pächter auf einen guten Umsatz kommt. Aber ... Vielleicht geben Sie uns noch einen weiteren Anhaltspunkt, auf was Sie konkret hinaus wollen?“

      „Es gibt derzeit einen englischen Gast, Kenneth Middleman, haben Sie ihn einmal kennengelernt?“

      Donhauser massierte erneut seine Narbe. „Kenneth Middleman sagen Sie, der Name kommt mir irgendwie ...“

      Die Gabel sprang in die Luft, ein Stück Zwetschgendatschi flog im hohen Bogen über den Tisch und klatschte auf ein Blatt des Weihnachtssterns, auf dem es trotz seines Gewichts einfach liegen blieb. Plastik, der Weihnachtsstern ist aus Plastik, wurde Jenny klar. Schwitters sagte: „Der Dunkelhaarige, nicht wahr? Jawohl, sprach Englisch, kann ich bestätigen. Letzten Montag, also gestern? Nein. Nein, da war er nicht in der Stube, war nicht unten, nichts von ihm. Aber vor einer Woche, ja, da saß er da, mit zwei Glatzen, nicht wahr, so sagen Sie doch heute, Glatzen, wenn sie Neonazis meinen? Zwei Glatzen und ein Anzugträger. Errrrrrr.“

      „Ja“, fiel Donhauser ein, „ich erinnere mich auch an die kleine Gruppe. Früher hätte ich Gestalten wie diese namentlich gekannt, aber heute bin ich zu weit weg, bedauerlich in diesem Fall. Was hat er vor, Ihr Herr Middleman?“

      Das wüsste ich gerne, dachte Jenny. Sie strich sich eine Haarsträhne über das Ohr und betrachtete noch einmal das Datschistück auf der künstlichen Pflanze. Sie wollte keinesfalls zu viele Informationen preisgeben. Nicht, dass sie glaubte, die alten Herren könnten ihr bei der Aufklärung im Wege stehen. Doch galt der Grundsatz: Nur so viele Ermittlungsdetails wie möglich gegenüber Zeugen. Daran würde sie sich halten.

      „Könnten Sie die Gesprächspartner beschreiben?“

      Donhauser strich mit seiner Hand einmal über Gesicht und Glatze, als sei sie ein Handtuch, mit dem er sich abwische, dann legte er den Daumen unter das Kinn, den Zeigefinger an die Wange. „Sehen diese Nazis nicht immer gleich aus? Es geht doch immer um Uniformität. Das war schon damals so, in der Masse aufgehen ... Nun gut, Militärstiefel trugen sie und grüne Bomberjacken, wenn ich mich recht erinnere. Der eine war deutlich übergewichtig, der andere war eher drahtig und muskulös und er trug einen zotteligen Backenbart. Beide waren nicht größer als eins siebzig würde ich sagen. Ihr Middleman hat sie deutlich überragt, der dürfte über eins achtzig groß sein, aber korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege. Den Anzugträger kann ich nur schwer beschreiben, er saß mit dem Rücken zu mir, aber er schien die zentrale Person zu sein, Middleman sprach im Grunde nur mit ihm. Er hatte eine eigenartige Frisur, eine Föhntolle, früher hätte man vielleicht eine Elvistolle gesagt. Aber keine Pomade, die Haare einfach stark zurückgekämmt und irgendwie wirkten sie leicht ... verfilzt.“

      Es gab einen Rums. Jenny wandte den Kopf nach rechts, blickte auf Weidingers zuckenden Hände auf dem Tisch. Der drehte den Kopf, spitzte die Lippen, als ob er ein Liedchen pfeifen wollte. Dann, plötzlich, schoss der Kopf nach vorn. Er riss die rot unterlaufenen Augen auf, blickte sie an. „To – To – Kpf! Kpf!“

      „Totenkopf!“, platzte es aus Jenny heraus.

      „Totenkopf am Ha – Ha – ...“

      „Hals!“

      „Mmmm“.

      „Einer hatte eine Totenkopftätowierung am Hals! Der Dicke!“

      Weidinger schüttelte den Kopf.

      „Der Drahtige!“

      „Mmmm“.

      Nach dem Gespräch brachte Lennart sie wieder zum Ausgang zurück. Er war erstaunlich schnell wieder da gewesen. Sie hatte vermutet, er hätte anderes zu tun, als darauf zu warten, sie wieder hinauszubegleiten. Doch ein strenger Blick Donhausers über ihren Kopf hinweg hatte genügt, und schon hatte er neben ihr gestanden. Dennoch sagte sie, als die beiden den Aufzug wieder im Erdgeschoss verlassen hatten: „Ganz schön stressig Ihre Arbeit, kann ich mir vorstellen.“

      Er lächelte milchgesichtig. „Ach, man bekommt auch viel zurück von den Alten. Und die drei machen wirklich Spaß, eben weil sie auch noch eine Menge machen können und sich nicht nur in der Anlage vergraben.“

      Die Sonne stand jetzt tief und schickte ihre Strahlen unerbittlich durch die Glasfassade, auf die sie zumarschierten. Es war stickig und roch nach erhitzten Autoreifen. Immer wieder blitzte der kleine Glastisch im Vestibül auf, die Lesezirkelausgaben, die dort gelegen hatten, waren verschwunden.

      „Aber dass die drei noch ein, naja, anspruchsvolles Spiel wie Skat spielen können. Ich meine, ich will nicht herabwürdigend sein, aber sie sind … Greise.“

      Lennart lächelte und pustete sich eine lange Locke aus der Stirn. „Das denken Sie wegen Heribert Weidinger. Er macht auf viele einen senilen Eindruck, aber das stimmt nicht. Er hat immer gestottert, schon in jungen Jahren, die anderen kennen ihn nicht anders. Nur wurde es mit dem Alter immer schlimmer. Hinter der Fassade steckt aber ein kluger Kopf, ich spiele sogar manchmal Schach mit ihm.“

      „Und hat er schon mal gewonnen?“

      „Er gewinnt immer.“

      Das Erste, was sie morgens wahrnahm, war dieser neue Geruch, er erinnerte sie an den Wald nach dem Regen, nasses Holz, leicht harzig vielleicht. Es roch nicht unangenehm, doch mischte sich der Geruch frischer Farbe darunter, auch Lack konnte es sein, sie wusste es nicht genau. Sie erinnerte sich, dass ihr der Duft bereits gestern Abend aufgefallen war, doch war sie zu müde gewesen, um zu ergründen, woher er kam.

      Jenny rappelte sich hoch, sie war schon vor dem Klingeln des Weckers aufgewacht, was eigentlich gar nicht ihre Art war. Normalerweise drückte sie mindestens dreimal