Markus Ridder

Das Eisenzimmer


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Sprache, Jenny tippte auf Polnisch. Im ersten Stock hielt der Aufzug und eine weitere Dame mit Pferdeschwanz schob ein leeres Stationsbett hinein. Sie mussten sich alle an die Wände pressen, damit sie gemeinsam Platz hatten. Schließlich sprang die rote Digital-Anzeige auf „3“ und die bezopften Damen, Lennart und Jenny stiegen aus.

      Er führte sie in einen Seitenflügel und stieß an dessen Ende eine Schwingtür mit zwei Bullaugen auf. Ein eigenartiger Kaffeegeruch empfing sie, den sie sonst nur von den Jugendherbergen ihrer Schulzeit kannte. Besteck klapperte, Teller und Tassen tickten aneinander. In unregelmäßigen Abständen vernahm sie den kurzen, kehligen Schrei einer Frau, gefolgt von tiefem Gurgeln, das aus einer verschleimten Kehle stammen musste. Ansonsten war es relativ still in dem Saal, der gleichwohl gut gefüllt war. Die Alten saßen an großen, runden Tischen bei Kaffee und Kuchen. Alle hatten ein gelbes oder blaues Platzdeckchen vor sich und entweder ein Stück Aprikosenschnitte oder Zwetschgendatschi. Das Alter schien sich ganz unterschiedlich auszuwirken: Die einen mussten gefüttert werden, andere machten sich vollkommen selbstständig über ihren Kuchen her.

      Lennart führte sie an einen Tisch mit drei Herren (zweimal Aprikose, einmal Zwetschge), die weder eine Pflegerin zum Essen benötigten noch ein Lätzchen umgelegt hatten. Jenny wunderte sich, dass in der Mitte des Tisches ein Weihnachtsstern auf einer mit grünen Teddybären versehenen Papierservierte stand. Das machte zu dieser Jahreszeit nicht wirklich Sinn, außerdem hatte sie immer gedacht, Weihnachtssterne gediehen nur im Winter, aber das war sicherlich Nonsens oder Marketing.

      Lennart stellte die drei Herren reihum vor, während Jenny ihre Gesprächspartner musterte: Heribert Weidinger hatte volles graues Haar, ein sonnengebräuntes Gesicht und die vollen, weißen Augenbrauen eines Weltumseglers. Obwohl es angenehm warm im Saal war, trug er eine dunkelblaue Bourbon-Daunenweste; mit langen, knochigen Fingern spielte er an ihrem Reißverschluss herum. Dietrich Schwitters war mit einer braunen Cordmütze bekleidet, die eine eigenartige Plüschbommel schmückte, und zwinkerte nervös hinter dicken, leicht getönten Brillengläsern. In seinem linken Nasenloch verschwand ein Schlauch, der seinen Anfang irgendwo hinter seinem Rollstuhl zu nehmen schien. Er trug eine hellbraune Strickjacke, darunter ein dunkelblaues Polohemd. Der Dritte im Bunde war Karl Donhauser, dessen ovaler Kopf von einem grauen, aber gut frisierten Haarkranz umgeben war. Eine Narbe über der Nasenwurzel ging direkt in eine lange Denkerfalte über, die sich erst in der Mitte der Stirn in einem Delta weiterer Falten und gesprenkelter Altersflecken auflöste. Er stützte sich auf einen schwarzen Stock und war mit hundert Jahren der zweitälteste Bewohner der Anlage. Nur eine Dame, die es vorzog, ihren Kaffee alleine einzunehmen, war mit Einhundertundfünf noch weiter in der Zeit fortgeschritten, erfuhr Jenny. „Darf ich Ihnen noch etwas bringen? Einen Kaffee? Tee?“, fragte Lennart abschließend.

      „Kaffee wäre gut, danke“, sagte Jenny und setzte sich. Sie blickte in die erwartungsfrohen Gesichter der Alten und wusste nicht so recht, wie sie beginnen sollte, denn sie hatte keine Erfahrung mit Menschen, die älter waren als ihre Oma. Und die war Dreiundsiebzig und backte nach wie vor den besten Apfelkuchen Oberbayerns.

      „Sie sind also Polizistin, habe ich gehört“, eröffnete der Älteste in der Runde die Konversation. Er legte den Kopf leicht in die Schräge und sprach sie so von unten nach oben an: „Da ist es für Sie vielleicht interessant zu wissen, dass ich selbst bei der Kriminalpolizei tätig war, zuletzt als Hauptkommissar im Morddezernat.“

      Jenny machte unwillkürlich einen Freudenhopser auf dem Sitzkissen ihres Stuhls. „Ach, tatsächlich, das ist ja interessant!“ Sie hatte sofort das Gefühl, sie müsse Donhauser Tausende von Fragen stellen, sicherlich hatte er diesen Beruf noch ganz anders erlebt als sie. Doch sie besann sich: Es ging um die Aufklärung eines Mordfalls und sie war nicht aus persönlichen Motiven hier.

      Der Cordmützenträger ließ seine Gabel hochschnellen, die von zwei zittrigen, bläulichen Fingern gehalten wurde. „Und das interessiert Sie noch mehr, vielleicht. Oder wahrscheinlich, das weiß ich nicht: Ich war Richter, vierzig Jahre, am Oberlandesgericht. Den Donhauser kenne ich seit ... seit vierzig, fünfzig ..., seit einem halben Jahrhundert kenne ich ihn. Aus dem Zeugenstand, nicht wahr? Nichts Persönliches damals, kaum ein persönliches Wort. Das ging nicht, natürlich nicht. Das wäre nicht, wie sagt man? Nicht angemessen gewesen, nicht wahr? Aber man kannte sich. Man schätzte sich. Also ich schätzte ihn und er auch mich, wie er später sagte. Zähneknirschend, aber ja, das sagte er. Jetzt arbeiten wir die Fälle von damals noch mal auf, nicht wahr? Nur für uns. An was wir uns noch erinnern jedenfalls, es verblasst ja so viel mit den Jahren. Vergangenes ist vergangen, das ist nun mal der Lauf der Dinge, errrrrrr.“ Während des gesamten Monologs hatte er die Gabel zitternd in der Luft gehalten und durch seine Brille starr und geradeaus an Jenny vorbeigeschaut. Die Worte kamen wie die Salven eines automatischen Gewehres aus ihm herausgeschossen. Erst als er verstummte, legte er Hand und Gabel wieder auf seinen Teller.

      Donhauser raunte von unten: „Wir sind beide Akademiker und das Denken hält jung, auch im Alter noch, gerade dann. Nur Weidinger hier hat keine Hochschule von innen gesehen, der hat lieber seine Geschäfte gemacht, stimmt es nicht, Heribert?“

      Der Weißhaarige hatte sich gerade ein Stück Aprikosenschnitte in den Mund geschoben und schien das Gebäck wie ein Bonbon mit der Zunge hin und her zu schieben. Jetzt spitzte er die Lippen, zog die buschigen Brauen hoch und machte: „Mmmm“.

      Im Hintergrund schrie die Frau von vorhin wieder auf und Jenny zuckte leicht zusammen. Das anschließende Gurgeln beruhigte sie. Jenny lächelte und zeigte sich interessiert. „Ja? Was hatten Sie denn für ein Geschäft, Herr Weidinger?“

      Weidinger lehnte sich zurück, blickte sich über die Schulter, zeigte das Profil seines Gesichts. Die Augenbrauen ragten spitz wie kleine Hörner in das fahle Gegenlicht, das durch die Fenster in den Raum drang. Dann wandte er sich Jenny wieder zu und legte mit zwei sonnengebräunten Händen schwerfällig eine unsichtbare Melone auf den Tisch. „Ho – Ho... Ho – Ho...“

      „Weidinger war Hotelier“, raunte Donhauser. „Später hatte er auch noch mehrere Cafés in der Gegend. Man kannte ihn und er kannte jeden. Für einen Kommissar ein wichtiger Kontakt, wenn es darum geht, Informationen zu gewinnen. Sie wissen, was ich meine.“

      Jenny nickte, wollte etwas sagen, doch die Gabel schoss wieder in die Luft.

      „Das ist es ja, warum wir immer da sind, im Alten Hasen. Das sag ich ja. Da ist der Schuld, der Weidinger. Da besteht der drauf. Der Alte Hase, das ist ja das, was ihm noch geblieben ist, nicht wahr? Und jetzt will er nur dahin, also nirgendwo anders, als ob ihm das noch etwas einbrächte. Hat doch sein Geld gemacht, der Weidinger. Wenn einer von uns, dann der. Seine Familie zumal, damals schon, als noch jedes Jahr Tausende kamen. Die Weidingers haben sie nicht gestört, die Braunen, im Gegenteil. Den Donhauser ja, das ist ein Linker. Sozialdemokrat. Aber der Weidinger nicht, nicht der. Der hat das Geschäft seines Lebens gemacht, errrrrrrr.“

      Die Gabel senkte sich. Doch diesmal wollte Jenny mehr wissen: Welche Braunen meinte Schwitters? War der „Alte Hase“ ein Nazitreffpunkt? War das der Hintergrund, vor dem Middleman ermordet wurde?

      „Das heißt, dass regelmäßig Menschen mit ... rechtem Gedankengut im Alten Hasen verkehren?“

      Die Gabel zuckte nach oben, zeichnete eine S-Kurve in die Luft und blieb dann auf Augenhöhe stehen, zitternd. „Heute? Nein, der Weidinger hat das ja verpachtet. Damals ja: Das Land, das Haus, das Hotel, die Gastwirtschaft, gehörte alles ihm und der Familie. Und damals waren wir ja Zentrum hier, nicht wahr? Landsberg am Lech – das kannte jeder, alle wollten hierher zu uns. Geschichte schnuppern. Once in a lifetime, so sagt er doch, der Amerikaner, nicht wahr? Heute sind wir ja nur noch ein Vorort Münchens.“

      Etwas berührte Jennys Schulter und sie zuckte leicht zusammen. „Tschuldigung“, sagte Lennart und stellte ihr eine Tasse Jugendherbergskaffee vor die Nase. Sie war ganz verwirrt durch die plötzlichen Bilder, die der Duft provozierte, wie flackernde Irrlichter leuchteten sie durch den Keller ihrer Seele.

      Sie blickte wieder in die Gesichter der Greise und fragte: „Damals?“

      Die Gabel schien schwerer und schwerer zu werden, doch Schwitters gab nicht klein bei. Zwar wanderte sie jetzt auf und ab, doch blieb