Markus Ridder

Das Eisenzimmer


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Sie hatte sogar davon geträumt: Middleman war nicht erdolcht, sondern mit einer überdimensionierten Gabel umgebracht worden, an der noch die Überreste von Zwetschgen und Mürbeteig klebten. Gut, es war wahrscheinlich keiner dieser Träume, die irgendein geheimes Zeichen erhielten, keine mysteriöse Macht wollte ihr mitteilen, dass der Datschiebäcker der Mörder war. Aber der Traum zeigte, dass der neue Fall sie elektrisierte: ihr erster Mord als Oberwachtmeisterin!

      Mit zwei Fingern strich sie sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich an die Bettkante. Das aprikosenfarbene Licht des Morgens sickerte durch die grauen Plastiklamellen des Rollos ins Zimmer, erhellte die blaue IKEA-Kommode, den Schminktisch, den Raumteiler, den sie jetzt als Regal nutzte und das alte Holzbett, das sie schon hier vorgefunden hatte, als sie vor einem Monat eingezogen war. Es war eine ganz schöne Umstellung gewesen, immerhin hatte sie mit ihrem Ex-Freund Tobias auf hundertzwanzig Quadratmetern gewohnt. Jetzt lebte sie in einer Dreier-Wohngemeinschaft und hatte das kleinste – weil billigste – Zimmer bezogen. Silvani bewohnte, obwohl Studentin, den größten Raum. Das Zimmer des Neuen, den sie immer noch nicht kannte, musste auch rund dreißig Quadratmeter messen.

      „Du kannst auch das größere Zimmer haben“, hatte Silvani ihr angeboten, die schon seit zwei Jahren in der Wohnung lebte, immer mit anderen Mitbewohnern. Doch Jenny hatte abgelehnt. Ihr Gehalt war nicht gerade fürstlich und sie wollte davon möglichst wenig für ihre Unterkunft opfern, schließlich war sie ohnehin kaum zu Hause.

      Sie stand auf und trottete im Nachthemd ins Bad. Dort warf sie sich zwei Hände Wasser ins Gesicht, tastete nach ihrem Handtuch und trocknete sich ab. Erst als sie es wieder über den Handtuchhalter hängte, bemerkte sie, dass es gar nicht ihres war. Ihr Handtuch war im schönsten Mädchenrosa gehalten, sie hatte es noch aus ihrer Kindheit. Das Handtuch, das sie gerade zurückgehängt hatte, war beige und am rechten unteren Rand waren rote Initialen eingestickt: A.C. Sie drehte sich um, erblickte ihr Handtuch an einem der Haken hinter der Tür.

      Das ist jetzt nicht dein Ernst, A.C, das ist doch jetzt wohl nicht dein Ernst?! Sie riss das beige Handtuch vom Handtuchhalter und marschierte mit wummernden Schritten zur Tür. Dort nahm sie ihr Handtuch vom Haken und hängte stattdessen das beige darauf. Zurück am Waschbecken platzierte sie ihr Handtuch über ihrem angestammten Handtuchhalter.

      Sie blickte kopfschüttelnd auf den Spiegelschrank, noch immer lag eine senkrechte Zornesfalte auf ihrer Stirn. Ihre Haare sahen fettig aus und standen ihr an einer Seite des Kopfes ab wie indianischer Federschmuck. Ein feiner Streifen eingetrockneter Wimperntusche hatte sich auf ihre linke Wange gelegt, direkt über das große Muttermal, welches manche Männer immerhin dazu veranlasst hatte, sie mit Cindy Crawford zu vergleichen. Sie feuchtete ihr Handtuch an und rieb sich damit über den Fleck im Gesicht. Unzufrieden blickte sie danach auf die leicht aufgerubbelte Stelle. Mit Zeige- und Ringfinger presste sie gegen ihre leicht speckige Backe.

      Cindy Crawford sollte vielleicht etwas weniger Süßigkeiten essen, dachte sie deprimiert und riss die rechte Tür des Spiegelschränkchens auf. Sie wollte nach ihrer Zahnbürste greifen, doch stand dort, wo sich bisher ihr Zahnputzbecher befunden hatte, jetzt ein Fläschchen Aftershave. Und dort, wo sich normalerweise ihre Handcreme befand, ragte ein milchiger Deo-Stick, „sensitive for men“ in die Höhe. Ihre Tageskontaktlinsen waren ebenfalls aus dem Seitenfach verschwunden. Stattdessen fand sie dort eine ganze Batterie von „Interdentalbürstchen“, daneben schlängelte sich ein Zahnseidefaden aus einem runden Plastikdöschen.

      Eine Welle des Zorns ergriff sie. Was bildete sich dieser Zahnseidenschnösel ein, einfach ihre Ablageflächen zu belegen? Wütend griff sie in den Schrank, riss die Tuben und Fläschchen, die sich im untersten Fach befanden, aus diesem heraus und ließ sie unter lautem Klirren ins Waschbecken fallen. Das Gleiche würde sie mit dem zweiten Fach machen, durchfuhr es sie. Jenny griff nach dem erstbesten Gegenstand, um ihn zu den anderen ins Waschbecken zu werfen. Erst als die Pappschachtel auf dem anderen Zeug ihres neuen Mitbewohners landete, stutzte sie: Es war ein Päckchen Kondome.

      Sie wandte sich angewidert ab, musste dann aber doch erneut hinschauen. Sie nahm die Packung in die Hand. „Mit Waldfruchtaroma und Reiznoppen“, las sie laut vor. Dann stockte sie für einen Atemzug, bevor sie fortfuhr: „Kondome XXL“.

      Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Kondome X... Was für ein Macho war bitte sehr bei ihnen eingezogen? Kondome XXL. So was legt man vielleicht in die Schublade ins Nachtischschränkchen, aber bestimmt nicht in das Badezimmerfach seiner neuen Mitbewohnerinnen. Sie schüttelte den Kopf. Kondome XXL.

      Sie ließ die Schachtel auf die anderen Utensilien im Waschbecken fallen und entschied, dass sie erst einmal einen Kaffee brauchte. Kopfschüttelnd trat sie in den Flur, zog dort die Zeitung aus dem Briefkastenschlitz und trottete damit in die Küche, noch immer ganz benebelt von den Ereignissen im Bad. Sie legte die Zeitung auf den Küchentisch und nahm plötzlich wieder den Geruch von vorhin wahr. Es duftete ganz leicht nach verregnetem Wald. An irgendetwas erinnerte sie dieser Gedanke jetzt, irgendeine Assoziation hielt er für sie bereit, sie wusste nur noch nicht, welche. Sie trottete hinüber zum Wandschrank, der seitlich über der Spüle hing, zog dort einen Filter aus einer Pappschachtel und griff nach der Dose mit dem Kaffee. Anschließend ging sie in Richtung des IKEA-Sideboards, auf dem die Kaffeemaschine stand. Sie streckte schon die Hand danach aus, als sie bemerkte, dass das Sideboard gar nicht mehr da war. Stattdessen stand dort jetzt eine zwei Meter hohe, weiß lackierte Weichholzanrichte. Sie drehte sich auf dem Ballen ihres nackten Fußes einmal um die eigene Achse. Doch das Sideboard war nirgends zu sehen.

      Weg, mein IKEA-Regal ist weg! Und statt ihrer Filterkaffeemaschine stand da jetzt ein verfluchter Nespresso-Automat.

      Das war zu viel. Ganz einfach zu viel. Sie schmetterte die Kaffeedose auf die Anrichte und den Filter direkt daneben. Jenny war entschlossen. Sie würde jetzt die Tür ihres neuen Mitbewohners aufreißen und ihm ordentlich die Meinung geigen. Wenn man zu einer neuen Gruppe von Menschen hinzustieß, musste man erst einmal nach ihren Regeln leben! Keinesfalls änderte man alles an einem Tag! Und schon gar nicht ohne Rücksprache mit den anderen. Zudem legte man seine verdammten Kondome den anderen nicht vor die Nase. Und sein XXL-Ding konnte er sich sonst wo hinstecken!

      Das Wummern ihrer Fersen donnerte durch die Küche. Sie ergriff die Klinke, wollte aus der Küche hinaus in den Flur stürmen. In diesem Moment fiel ihr Blick auf die Zeitung, die sich nach wie vor auf dem Tisch befand. Sie drückte die Klinke herunter, riss die Tür auf. Erst dann erreichte die Bedeutung der Schlagzeile ihr Bewusstsein. Sie blickte sich erneut um. „Brutaler Nazimord in Landsberg am Lech“ – die reißerische Headline des Aufmachers brannte sich auf ihre Netzhaut.

      Sie ließ die Klinke wieder los, warf die Tür ins Schloss. Mit einem Mal war die ganze Wut wie verpufft. Wie betäubt sackte sie auf den Küchenstuhl. Sie schlug die Zeitung auf und las:

      Brutaler Nazimord in Landsberg am Lech

      Landsberg am Lech. Es ist ein Bild des Grauens: Mit starrem Blick zur Decke liegt der leblose Körper auf dem Boden eines Landsberger Autohauses. In seiner Brust: der Ehrendolch eines SS-Offiziers. Das zumindest behaupten Augenzeugen. „Die Identität des Mordopfers ist noch nicht geklärt“, sagte Hauptkommissar Heiko Plossila gestern am Tatort. Aus sicheren Quellen erfuhr der Landsberger Bote allerdings, dass es sich um den Briten Kenneth Middleman handelt.

      Der Londoner ist kein Unbekannter für Scotland Yard: Er galt lange Zeit als einer der Köpfe der rechtsextremen British National Party. Die BNP ist für ihre rigide Politik gegenüber Ausländern bekannt, will Mischehen verbieten und den Anteil weißer Bevölkerungsschichten steigern. Als Hardliner trat Middleman in der Partei für ein Verbot von Homosexualität ein sowie für eine harte Gangart gegenüber Einwanderern. Die Strategie, Ausländern die Rückkehr in ihre Heimat durch finanzielle Anreize schmackhaft zu machen, lehnte er ab. Stattdessen sollten Ausländer schlichtweg abgeschoben werden, unabhängig von ihrem Rechtsstatus in Großbritannien.

      Middleman werden zudem Kontakte zur radikalen Splittergruppe Combat 18 nachgesagt. Die Ziffer 18 im Namen steht für die Buchstaben „A“ und „H“ im Alphabet – die Initialen Adolf Hitlers. Combat 18 wurde 1992 gegründet, schon im gleichen Jahr wurde sie als Saalschutz für eine Veranstaltung der BNP eingesetzt. Redner an diesem Abend war der bekannte