Markus Ridder

Das Eisenzimmer


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Praktikanten Anweisungen. Plossila mochte Mäuser, nur war er heute einfach nicht in der Verfassung zu einem Schlagabtausch, auch wenn er lustig gemeint war. Und damit musste man bei Mäuser immer rechnen. Also drückte er kurz entschlossen die Toilettentür auf und tauchte in die kühle, noch unverbrauchte und unangetastete Luft des Dienstklos ein. Er schloss die Tür hinter sich, lehnte sich daran, blieb für einige Atemzüge in der Dunkelheit stehen. Grabesatmosphäre, dachte Plossila. Wie in einer dunklen Gruft kam er sich vor, nur der leichte Geruch des Klosteins durchbrach die eigenartige Stimmung und das verdruckste Gurgeln, das offenbar von einer defekten Spülung herrührte.

      Er tastete seitlich nach dem Schalter, das Licht sprang an. Die kühle, funktionale Welt einer Bürotoilette erschien. Plossila legte eine Hand ans Waschbecken, drückte sich von der Tür ab und schritt auf die Kabinen zu. Dann öffnete er eine der Klotüren, schloss ab und pinkelte im Stehen. Nur ein kleiner, dünner Strahl ergoss sich auf die weiße von Rost und Kalk beschmierte Keramik. Ein Rinnsal, das eine eigenartige Symptomatik für sein Leben abgab, wie Plossila bitter dachte.

      Er betätigte die Spülung, öffnete die Tür und trat vor den Spiegel. Das Bild, das er sah, war wenig schmeichelhaft. Seine dunkelblonden Haare wirkten fettig, unter seinen Achseln hatten sich Schweißflecken gebildet, obwohl es noch gar nicht so heiß war an diesem Morgen. Seine Haut wirkte weiß und wie aufgedunsen, die Tränensäcke schwarz, die Augen glasig. Das grelle Licht der Neonröhre schmerzte ihn.

      Vielleicht sollte ich die Therapie abbrechen? Oder ich probiere ein anderes Mittel aus? Wenn ich so weiter mache, wird es nicht lange dauern, bis die Kollegen etwas merken. Und das wollte Plossila auf keinen Fall. Er hatte ein Problem, das war klar, soweit war er jetzt, sich dies einzugestehen. Aber er würde es für sich behalten. Schwäche zu zeigen, wurde nie belohnt, bei der Polizei schon gar nicht, so viel hatte er gelernt.

      Er hielt die Hände unter das kalte Wasser aus dem Hahn und rieb sie lange und intensiv mit Seife ein. Die Kälte tat gut. Er schlug sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht, was ihn noch klarer machte. Ohne den Wasserhahn abzudrehen, zog er mehrere Papierhandtücher aus dem Spender. Einige fielen zu Boden, er ließ sie dort liegen und trocknete sich mit den anderen das Gesicht. Anschließend zog er weitere Tücher heraus, knöpfte sich das Hemd auf und fuhr sich damit unter die Achseln. Er stopfte das benutzte Papier in den überfüllten Abfalleimer, schloss das Hemd.

      Er drehte den Wasserhahn zu. Ein Kaffee noch und es würde gehen, sagte er sich. Auch wenn die Welt hinter dickem Panzerglas lag.

      Er stieß die Tür zum Flur auf, Mäuser war verschwunden. Ein kleiner Umweg zur Kaffeemaschine, dann konnte der Tag beginnen.

      „Hast du schon gelesen?“, rief einer, als er in die kleine Küche trat. Mäuser. Er saß mit einer halb vollen Tasse am Tisch, die Beine übereinandergeschlagen.

      Verdammt, dachte Plossila und blickte auf die Zeitung, die sein Kollege hochhielt.

      „Nein, was?“

      Mäuser stutzte, blickte ihn kritisch an. „Schlechten Traum gehabt, Plossila? Oder immer noch sauer, dass du deinen Urlaub unterbrechen musstest?“

      „Dachte nur, du bist Land unter. Freut mich, dass du dennoch Zeit für ein wenig Lektüre hast.“

      Mäuser knallte die Zeitung auf den Tisch, die Stuhlbeine quiekten über den Plastikboden.

      Mäuser stand auf. „Zu wissen, was über einen in der Zeitung steht, sollte Teil der Arbeit eines Polizisten sein, findest du nicht?“ Er schob sich an Plossila vorbei und verließ grußlos die Küche.

      „Jetzt sei doch nicht so ein Sensibelchen!“, rief ihm Plossila hinterher, aber der Kollege war schon verschwunden.

      Plossila schenkte sich Kaffee ein. Das hast du ja ganz hervorragend gemacht, dachte er bitter. Er legte seine trockenen, aufgeplatzten Lippen an die Tasse, nippte an der bitteren Flüssigkeit. Er versuchte, sich dabei einzubilden, wie das Koffein seinen Kreislauf in Schwung brachte, wie es durch die Adern pulsierte, wie es die Herzkammern öffnete, wie es durch die Schlagadern strömte und weiter hinauf in das von Feinden umstellte Gehirn. Wie es dort schließlich die meterdicke, gallertartige Masse zu durchbrechen half, die ihn von der Welt trennte, ihn verschloss in diesem eigenartigen Kokon, in dem er sich befand.

      Optimismus ist auch eine Einstellung, eine Willensfrage, hörte er Dr. Eberharty sagen. Sie müssen lernen, wieder an ihr Glück zu glauben.

      Er trottete über den braunen Teppich in die Richtung seines Büros. Sobald er die Schwelle übertrat, würde er wieder funktionieren, wenn auch nur nach außen, nahm er sich vor. Er glaubte an das Positive, das in diesem Tag lag, und das Koffein würde diese Einstellung allen verfluchten Atomen und Molekülen, aus denen er bestand, einimpfen.

      Soweit der Plan.

      Im Büro warteten Dollerschell und Jenny bereits auf ihn. Jenny saß auf seinem Platz und sprang auf, als sie ihn eintreten sah. Er stellte seine schwarze, abgewetzte Arbeitstasche unter den Schreibtisch, schaltete wie automatisch den dort stehenden PC ein. Dann platzierte er die Kaffeetasse seitlich neben dem Telefon und ließ sich erschöpft in den Bürostuhl fallen.

      Statt eines Grußes hob er die Hand, das musste einfach reichen, mehr Formalitäten waren aus ihm nicht herauszukriegen.

      Dann fiel ihm auf, dass Dollar nicht wie üblich in Sakko und Hemd angetreten war. Er trug einen Kapuzenpulli, an dessen linker Seite in etwa auf Brusthöhe eine grüne Schnullerkette baumelte. Im Arm hielt er ein Baby, das in einem rosaroten Schlafanzug steckte, den Kopf hatte das Kleine auf seine Schulter gelegt. Eine Sabberstelle zeigte an, dass es ein Revier vom Hals bis zum Oberarm beanspruchte.

      Dollerschell sendete seinem Chef einen entschuldigenden Blick. „Tut mir Leid, Doris musste dringend zum ... zum Yoga, sie sagt, es geht nicht anders, sie holt die Kleine mittags wieder ab. Ich habe ihr gesagt, das funktioniert so nicht, aber sie macht in letzter Zeit einen etwas gestressten Eindruck, sie ist wohl auch ein wenig kaputt. Die Kleine schläft schlecht und sie muss sie mehrmals füttern nachts, da ...“

      „Da kannst du nichts machen“, sagte Plossila und ließ eine Pranke auf dem Tisch fallen, „wenn die Mamis das sagen, ist es Gesetz, nicht wahr?“ Er presste sich aus seinem Stuhl, schritt um die zusammengeschobenen Schreibtische herum. „Ich kenne die Kleine ja noch gar nicht. Wie alt ist sie jetzt? Acht Monate?“

      „Siebeneinhalb, ja“, sagte Dollerschell und nahm das Köpfchen des Mädchens von der Schulter, um sie Plossila zu zeigen. Dieser hielt ihr seinen kleinen, speckigen Finger hin, den die Kleine sofort dankbar annahm, um darauf herumzukauen.

      „Na, ganz der Papa, würde ich sagen.“ Plossila blickte in das leicht übermüdete Gesicht seines Kollegen und dann wieder auf das Kleinkind. „Katja, oder?“

      „Katharina“, verbesserte Dollerschell.

      Er musste für einen Moment an seine eigene Tochter denken. Carla war jetzt sechs Jahre alt. Kaum zu glauben, dass auch sie einmal so ein hilfloses, kleines Bündel gewesen war. Vor sechs Jahren hatte er noch gedacht, er würde einmal ein typisches, zufriedenes, ja, fast spießiges Familienleben führen. Rebecca und er waren einmal glücklich gewesen. Carla war ihr Wunschkind und trotz der ganzen Anstrengungen, welche die Kleine mit sich brachte, erlebten sie damals doch ihre beste Zeit. So hatte er zumindest gedacht. Doch irgendwann hatte Rebecca vor ihm gestanden, und gesagt, dass sie es einfach nicht mehr aushalte. Das sei kein Leben mit ihm, einfach kein Leben.

      Plossila streichelte der Kleinen über den Kopf, sie hatte bereits einen offenen Blick und schaute ihn angestrengt an. Plötzlich wand sie sich, hob das Becken an, ihre kleine Oberlippe zitterte ein wenig, dann gab es ein Blubbergeräusch. Katharina schaute erst überrascht, dann hellte sich ihre Miene auf. Plossila hielt seine Nase an den Schoß des Babys, das die Nase sofort mit seinen kleinen Fingern umgriff. „Ich glaube, deine Tochter hat ein Geschenk für dich, Dollar“, sagte er und ersetzte seine Specknase wieder durch seinen Speckfinger.

      „Du meinst doch nicht ...“ Jetzt hob Dollar ihren Schoß vor seine Nase. „Auch das noch, sorry, tut mir leid.“ Wie mechanisch stand er auf, die Lehne des Stuhls krachte mit Krawumm gegen die Rückwand.